Ill Skills und Kompetenzen 11 Fähigkeiten und Fertigkeiten Zur Terminologie Die Begriffe .Fähigkeiten' und ,Fertigkeiten' sind in der Fremdsprachendidaktik schwierig voneinander abzugrenzen. Hinzu kommt, dass sie mit der Übernahme aus der Psychologie und Psycholinguistik einen Bedeutungswandel erfahren haben und des Öfteren gemeinsam verwendet werden, ohne dass eine genaue Differenzierung vorgenommen wird. Krumm (2001b) fasst die Unterschiede zwischen beiden Begriffen in der Psychologie, der Psycholinguistik und der Fremdsprachendidaktik prägnant zusammen (vgl. aber auch die ausführlichen Diskussionen in Wilss 1992 und Wendt 1993: 75 ff.). Demnach sind in der Fremdsprachendidaktik mit ,Fähigkeiten' zum einen (wie in der Psychologie) in die Lernsituation mitgebrachte Fähigkeiten gemeint, z.B. Intelligenz, Gedächtnis, Wahrnehmungsfähigkeit, Motivation und Lernerfahrungen. Zum anderen wurde ,Sprachfähigkeit' seit der sogenannten kommunikativen Wende in den 1970er Jahren zu einem Lernziel umgedeutet (-» Art. 13). Wertigkeiten' hingegen bezeichnen einerseits „den Bereich des Sprachkönnens unabhängig von spezifischen Sprachhandlungssituationen" (Krumm 2001a: 62), der erworben werden muss. Andererseits werden die Fertigkeiten selbst als Lernziele angesehen, die in unterschiedliche Stufen (z.B. die Niveaustufen im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen (-» Art. 7) graduiert und überprüft werden. Sprachliche Fertigkeiten Es werden vier sprachliche Fertigkeiten (auch: Grundfertigkeiten) unterschieden: 1. das Hörverstehen (-> Art. 15), 2. das Sprechen (-» Art. 16), 3. das Leseverstehen (-» Art. 17) und 4. das Schreiben (-» Art. 18). Diese lassen sich nach zwei Dimensionen gruppieren in: ► rezeptive Fertigkeiten (Hören und Lesen) und produktive Fertigkeiten (Sprechen und Schreiben): Die früheren Bezeichnungen ,passive Fertigkeiten' und ,aktive Fertigkeiten' werden heutzutage abgelehnt, weil „alle vier Fertigkeiten gleichermaßen kognitiv anspruchsvoll und aktiv sind" (Finkbeiner 2005: 114). ► mündliche Fertigkeiten (Hören und Sprechen) und schriftliche Fertigkeiten (Lesen und Schreiben): Auf die Unterscheidung in gesprochene Sprache und geschriebene Sprache (vgl. Huneke/Steinig 2005: 109) wird hier nicht zurückgegriffen. Sie ist nicht geeignet, weil beispielsweise das Hören einer Nachrichtensendung im Radio mündlich erfolgt, diese Textsorte aber wenige der von ITuneke/Steinig skizzierten Elemente gesprochener Sprache enthält. Sie ist vielmehr im Sinne von Koch/Oesterreicher (1985) nahe am Pol .konzeptionelle Schriftlichkeit' zu lokalisieren, auch wenn sie medial mündlich ist. Hören und Sprechen sind somit immer medial mündlich, können sich aber jeweils auf einer Skala zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit bewegen. Lesen und Schreiben sind immer medial schrift- 64 11 Fähigkeiten und Fertigkeiten lieh, können sich aber ebenfalls jeweils auf einer Skala zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit befinden. Verschiedentlich wurden weitere Fertigkeiten angeführt, z.B. das kulturelle Bewusstsein, das Verstehen nonverbaler Zeichen bzw. das Sehverstehen oder das Übersetzen. Keiner der genannten Vorschläge konnte sich als eigenständige Fertigkeit durchsetzen, allerdings wird in den letzten Jahren häufig von der (mit der Übersetzung verwandten) Sprachmittlung als fünfter Fertigkeit gesprochen (-> Art. 19), da diese in den Bildungsstandards der KMK (2003) für die erste Fremdsprache als kommunikative Fertigkeit neben Leseverstehen, Hör- und Hör-/Sehverstehen, Sprechen und Schreiben genannt wird ( > Art. 8). Die Diskussion um Anzahl und Art der Fertigkeiten zeigt, dass es sich dabei um ein Konstrukt handelt, das es uns erleichtern soll, die komplexen Prozesse zu isolieren und zu beschreiben (vgl. Krumm 2001a: 6). Sie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in realen Sprachverwendungssituationen zumeist zu einer Verbindung von zwei oder mehreren Fertigkeiten kommt. Entwicklung von Fertigkeiten Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts ist es, die sprachlichen Fertigkeiten der Lerner zu entwickeln. Wie dies konkret umgesetzt werden soll, d. h. in welcher Reihenfolge die Fertigkeiten eingeführt werden und welchen Stellenwert sie jeweils haben, ist in der Geschichte der Fremdsprachendidaktik unterschiedlich beantwortet worden. Der Blick auf die Fertigkeiten wurde jeweils bestimmt durch Methodenkonzepte sowie durch Entwicklungen und Erkenntnisse von Bezugswissenschaften, insbesondere der Linguistik (z.B. Strukturalismus, generative Grammatik, Pragmalinguistik) und der Psychologie (z.B. Behaviorismus, kognitive Psychologie, humanistische/therapeutische Ansätze). Gegenwärtig wird von keiner bestimmten Reihenfolge und Gewichtung der sprachlichen Fertigkeiten im Fremdsprachenunterricht ausgegangen (vgl. Krumm 2001a: 8). Als vernachlässigte Fertigkeiten gelten jedoch immer noch das Hörverstehen und das Schreiben. Bei der Entwicklung von allen Fertigkeiten spielen grundsätzlich ein hoher Grad an Automatisierung und das Fehlen von Aufmerksamkeit bei der Ausführung eine wichtige Rolle. Nach Krumm (2001a: 5) zielt das Training von Fertigkeiten auf die Automatisierung sprachlicher Handlungen: „Mit den Fertigkeiten, den Skills, kommt das Tun, das Üben, das Automatisieren ins Spiel: Sprachfähig sind wir, wenn wir das Hören, Sprechen, Lesen und Schreiben so weit automatisiert haben, dass wir unsere Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Ausführung, auf die physiologischen Komponenten der Kommunikation, also die akustische Identifizierung von Lauteinheiten, die richtige Bildung der Laute, die Psychomotorik der Schreibbewegungen, konzentrieren müssen." Die Automatisierung von Fertigkeiten wird durch Übung erreicht. Butzkamm (1993: 78) beschreibt Fertigkeiten als „erlernte, durch Übung erworbene Willkürhandlungen. Sie sind also nicht funktionsbereit vorhanden wie etwa das Saugen, Schlucken, 65 Ill Skills und Kompetenzen Atmen. Fertigkeiten äußern sich im Tun, im Ausführen und Ausüben. An ihrem Zustandekommen sind 1. Wahrnehmungen, 2. deren Verarbeitung und Verbindung mit 3. ausführender Motorik beteiligt. Das Üben dient dem Erreichen der höchsten Könnensstufe, der vollen Verwirklichung der Zielgestalt, die viele Vorgestalten hat." Bei den sprachlichen Fertigkeiten handelt es sich um komplexe Fertigkeiten, die sich jeweils aus Teilfertigkeiten zusammensetzen. Im Fremdsprachenunterricht sollen die Fertigkeiten systematisch entwickelt werden, um sie dann in Realsituationen übertragen zu können. Somit findet eine Trennung zwischen einer manipulativen Phase (Übung der Fertigkeiten) und einer kommunikativen Phase (Anwendung) statt (vgl. Krumm 2001a: 7). Umso wichtiger ist es, dass die Fertigkeiten im Unterricht nicht nur einzeln geübt, sondern auch integriert in komplexen Sprachhandlungen angewendet werden (-► Art. 20). Literatur Butzkamm, Wolfgang (21993): Psycholinguistik des Fremdsprachenunterrichts. Natürliche Künstlichkeit. Von der Muttersprache zur Fremdsprache. Tübingen. Finkbeiner, Claudia (2005): Interessen und Strategien beim fremdsprachlichen Lesen. Wie Schülerinnen und Schüler englische Texte lesen und verstehen. Tübingen. Huneke, Hans-Werner/Steinig, Wolfgang (42005): Deutsch als Fremdsprache. Eine Einführung. Berlin. KMK = Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2003): Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/Französisch) für den Mittleren Schulabschluss. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04.12.2003. http:// www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2003/2003_12_04-BS-erste-Fremd-sprache.pdf [14.08.2009]. Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1985): Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Romanistisches Jahrbuch 36, 15-43. Krumm, Hans-Jürgen (2001a): Die sprachlichen Fertigkeiten: isoliert - kombiniert - integriert. In: Fremdsprache Deutsch 24, 5-13. Krumm, Hans-Jürgen (2001b): Fähigkeiten - Fertigkeiten. In: Fremdsprache Deutsch 24, 61 -62. Wendt, Michael (1993): Strategien des fremdsprachlichen Handelns. Die drei Dimensionen der Lernersprache. Tübingen. Wilss, Wolfram (1992): Fertigkeiten. Versuch einer Begriffsbestimmung. In: Deutsch als Fremdsprache 3, 143-149. Antje Stork 12 Fremdsprachliche literacies Der/Zteracy-Begriff Der Begriff der literacy ist im deutschsprachigen Raum vor allem im Zusammenhang mit den internationalen Bildungsstudien rezipiert worden und hat hier seinen Nieder- 66