Hesse, Hermann * 2. 7. 1877 Calw, † 9. 8. 1962 Montagnola/Tessin. Was fasziniert Millionen deutschsprachiger Leser an einem Autor, den Gottfried Benn noch 1950 «als einen durchschnittlichen Entwicklungs-, Ehe- und Innerlichkeitsromancier - eine typisch deutsche Sache» empfand? Über den gleichen Autor und dessen «Steppenwolf» hatte Walter Benjamin, ein nicht weniger entschiedener Kritiker aller Deutschtümelei, respektvoll gesagt: «Er kann sehr viel. Sein Schauen hält eine eigene Mitte zwischen der Kontemplation eines Mystikers und dem Scharfblick eines Amerikaners.» Das Bild des Autors wurde bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg galt als stilkonservativ und an den Moden vorbeizielend. Die hohen Auflagen seiner bestätigten diesen Eindruck, die Masse mag nicht Avantgarde. Sein «Peter Camenzind» wurde 1909, fünf Jahre nach dem Erscheinen, im 50. Tausend aufgelegt; bis 1970 wuchsen die deutschsprachigen Ausgaben auf 540 000 an. Im gleichen Jahr 1970 waren die frühen, an «Camenzind» anschliessenden Werke ähnlich gut verbreitet: bei «Unterm Rad» waren es 226 000, bei «Knulp» 265 000, beim «Demian» 300 000, beim «Steppenwolf» jedoch erst 135 000. Was Hesse jedoch im Ersten Weltkrieg dem Massenpublikum entfremdet hat, war seine Stellungnahme gegen den im Krieg recht starken deutschen Nationalismus. In der «Neuen Zürcher Zeitung» hatte er sich Ende 1914 gegen jeglichen Chauvinismus und für eine Versöhnung Deutschlands, Englands und Frankreichs eingesetzt. Romain Rolland wagte Ähnliches in Frankreich; beide wurden deshalb jahrzehntelang von ihren Landsleuten beschimpft. Hesse ließ seine Romanfigur Harry Haller, den Steppenwolf, derartige Angriffe erleben und zurückweisen; sie waren 1926 wieder aufgekommen und wurden nach dem «Steppenwolf» mit dem Vorwurf verbunden, die Darstellung der Prostituierten-Beziehungen seien schweinisch, jüdisch und anti-national. Hesse äußerte sich über die Machergreifung 1933: „Es ist Kriegs- und Pogromstimmung, freudig und schwer betrunken, es sind Töne von 1914, ohne die damals noch mögliche Naivität. Es wird Blut und anderes kosten, es riecht sehr nach allem Bösen.“ Trotzdem umwarb ihn das Regime, weil er gegenüber den Exilautoren, die gegen das Nazi-Deutschland kämpften, zurückhaltend blieb. Der «Steppenwolf», die «Betrachtungen»[1] und «Narziss und Goldmund» durften erst während des Krieges nicht nachgedruckt werden, vorher blieb Hesse auf dem deutschen Büchermarkt fast ohne Einschränkung präsent. Wie wurde Hesse für seinen Indienstoff in Siddharta sensibilisiert? Die Mutter war Angehörige einer Missionarsfamilie, deren Aufenthalt im westlichen Indien erste Anregungen für die langjährige Beschäftigung Hesses mit fernöstlicher Kultur u. Gedankenwelt lieferte. Der Großvater mütterlicherseits, Dr. Hermann Gundert, war Leiter des Calwer Verlagsvereins und hatte als langjähriger Missionar und Indologe bedeutende philologische Werke über indische Sprachen, insbesondere das Malayalam, herausgegeben. Durch Hesses Zutritt zu Gunderts umfangreicher Bibliothek u. die publizistische Tätigkeit seiner Eltern erhielt er entscheidende literarische Anstöße. Der zum Theologiestudium bestimmte l4jährige Stipendiat entlief nach neun Monaten unvermittelt aus der Klosterschule Maulbronn und wurde Mechanikerlehrling, später Buchhändler. Der Selbstmordversuch des Vierzehnjährigen und der dramatische Abbruch des Studium bilden die bleibende Grundlage eines Werks, das eine radikale Selbstsuche spiegelt. Welche neue Anregungen brachte Hesses Demian und warum wurde der Roman unter dem Pseudonym Emil Sinclair veröffentlicht? Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs erschienen seine völkerversöhnenden polit. Aufsätze u. offenen Briefe (»O Freunde, nicht diese Töne«) in dt., schweizerischen u. österr. Zeitungen u. Zeitschriften. Die pazifistische Tendenz führte zum Bündnis mit wenigen Gleichgesinnten wie Romain Rolland u. Theodor Heuss,[2] setzte ihn aber auch schärfsten Anfeindungen von dt. Seite aus. H. reagierte auf den Horror des Kriegs sowie auf familiäre Krisen (Tod des Vaters, Trennung von der gemütskranken Frau) mit einer ernsten Depression (1916), die er mit Hilfe einer praktizierten Psychoanalyse (in einem Luzerner Sanatorium bei seinem späteren Freund Dr. J. B. Lang, einem Schüler Carl Gustav Jungs) allmählich überwand. Über Lang kamen nicht nur Motive der Gnostikforschung Jungs in sein neues Werk Demian (Bln. 1919), sondern auch Strukturelemente der Psychoanalyse und ein schonungsloser Wille zur Wahrhaftigkeit, der nachhaltiges Echo fand. Hesses Aufsatz Künstler und Psychoanalyse (1918) wurde sowohl von Jung als auch von Freud mit Beifall aufgenommen. Im Demian wurde die biblische Symbolik neu interpretiert und mit scharfer Kulturkritik durchsetzt. Unverkennbar war dabei Hesses Auseinandersetzung mit Nietzsche, die sich in der polit. Flugschrift Zarathustras Wiederkehr: Ein Wort an die deutsche Jugend von einem Deutschen (Bln. 1919) fortsetzte. Der wahre Autor des Demian wurde zuerst von C. G. Jung u. Otto Flake erkannt u. daraufhin von Eduard Korrodi zu einer öffentl. Stellungnahme herausgefordert. Hesses Position äußert sich unter anderem darin, daß er sich von der Weimarer Republik und ihrer Politik der kleinen Schritte distanziert: Ich sehe die Welt als Künstler an und glaube, zwar demokratisch zu denken, fühle aber durchaus aristokratisch, d. h. ich vermag jede Art von Qualität zu lieben, nicht aber die Quantität. Er identifizierte sich später mit Ortega y Gassets Buch Der Aufstand der Massen (1930), pflichtete dem Geschichtspessimismus Schopenhauers bei und hielt jede politische Handlung für sinnlos. Wie sieht Emil Sinclairs Entwicklung zum Selbst aus? DEMIAN. Die Geschichte einer Jugend von Emil Sinclair. Demian wächst in einem langweiligen, kleinbürgerlichen Elternhaus auf. Sein Mitschüler Franz Kromer stiftet ihn zu kleine Diebstählen an und bringt ihn so in seine Abhängigkeit. Des verzweifelten Sinclair nimmt sich ein anderer Mitschüler, Max Demian, an, der an die Auserwähltheit Sinclairs und seine eigene glaubt. In einer eigenwilligen Auslegung der biblischen Geschichte von Kain und Abel wird das Recht, sich über alle konventionellen Bedenken hinwegzusetzten und nach eigenen Wünschen und Träumen zu handeln begründet Nach Jahren, in der Zeit einer Pubertätskrise, sieht er in seinen Träumen eine Frau, die immer mehr die Züge Demians annimmt. Ein Zettel in seinem Schulbuch macht ihn auf die alte Gottheit Abraxas aufmerksam, in dem sich das Göttliche und das Teuflische vereinige. Kurz vor dem Ausbruch des Weltkrieges trifft er Demian endlich wieder. In dessen Mutter Eva erkennt er das geheime Wunschbild seiner Träume, die ideale Verbindung des Weibes als Frau und Mutter. Im Krieg übernimmt Sinclair Demians Vermächtnis, ein von bürgerlichen Konventionen freies Leben zu führen. Zitat Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muß eine Welt zerstören. (Demian, 1919, 142) Wie wurde das Thema der Selbstfindung, des Wegs nach Innen, in zeitlich nahe liegenden Werken dargestellt? Das Anliegen des Demian nach Selbstfindung bildet auch den Kern der Erzählung Siddharta. Unter dem Titel Weg nach Innen fasste Hesse 1931 seine Werke aus den Jahren 1918-1922 zusammen: Kinderseele, Klein und Wagner, Klingsors letzter Sommer, Siddharta. Am Weg des jungen Emil Sinclair und seines Führers, des älteren Schülers Demian, in der Zeit vor Ausbruch des Weltkriegs zeigt Hesse die Entfernung Auserwählter aus der bürgerlichen und den Weg in eine vitalistisch aufgefasste neue Existenz (»Das in dir, was dein Leben macht, weiß es schon«). Die antibürgerliche Geste des rasch populären Romans, welche manche Elite-Vorstellungen aus dem Geiste der Jugendbewegung enthält, hat Hesse in mehreren Werken aus den frühen zwanziger Jahren variiert . In Klein und Wagner, 1919/1920, befällt Klein immer wieder der Gedanke an einen Schullehrer, Wagner, der in einem Amoklauf seine Familie umgebracht hatte, und mit dem er sich "irgendwie...verknüpft" fühlt. Kleins Bemühungen seine Identität zu finden und nach dem eigenem innersten Selbst (im Sinne von Carl Gustav Jung) zu leben, sind aber vergebens. Immer wieder gerät er ins Zweifeln, gefolgt von Angst- und Schuldgefühlen. Schließlich gibt Klein seinem langgehegten Selbstmordwunsch nach und ertränkt sich eine Woche nach seiner Flucht im naheliegenden See. In Klingsors letzter Sommer, 1920, thematisiert Hesse die Ausnahmeexistenz des Künstlers. Es wird vom Leben und Werk eines Malers berichtet. Zu seinem Freundeskreis zählt der Dichter Hermann, der von Klingsor auch Thu Fu genannt wird. Klingsor selbst bezeichnet sich nach dem chinesischen Dichter Li Tai Pe. Klingsor ist ein Abenteurer, Hermann ein Leidender, ein introvertierter und trauriger Typ. Klingsors ist ausgelassen und depressiv zugleich. Seine Neigung zum Äußersten wird u. a. im Satz „Klingsor schoß mit der Weinkanone gegen den Tod.“ zusammengefasst. Die Nachricht von Klingsors Tode erschreckte seine Freunde. Klingsors Neigung zum Trunk wurde von ihnen unterschätzt . Nicht umsonst nannte er sich Li Tai Pe, nach dem Dichter der tiefsten Trinklieder. Mit Expressionismus verbindet Klinsor sein Glauben an den Untergang. [...] wir alle, wir müssen sterben, wir müssen wieder geboren werden, die große Wende ist für uns gekommen. [...] Bei uns im alten Europa ist alles das gestorben, was bei uns gut und unser eigen war; unsere schöne Vernunft ist Irrsinn geworden, unser Geld ist Papier, unsere Maschinen können bloß noch schießen und explodieren [...]. Sein eigener Untergang wird auf das gesamte Europa ausgedehnt: [...] ich spreche von Europa, von unserem alten Europa, das zweitausend Jahre lang das Gehirn der Welt zu sein glaubte. Dies geht unter. In Hesses Aufsätzen in der von ihm zwischen 1919 und 1923 edierten Zeitschrift »Vivos voco« – werden Probleme Europas nach dem Ersten Weltkrieg erörtert. Hesses unbestimmte zivilisationskritische Geste erlaubte ohne weiteres die Übertragung auf unterschiedliche Probleme der Industriegesellschaft und war ein Grund für Hesses außerordentliche, bis heute andauernde Popularität. Obwohl sich Hesse an der „Streitschrift“ des Simplicissimus-Verlages „Gott strafe England“ und an den Kriegsflugblättern noch beteiligt, vereinzelt dort auch zum Durchhalten aufgerufen, vermehren sich 1917 „Differenzen mit der Redaktion des ‚Simplicissimus‘ wegen deren politischer Haltung“. In der Zeitschrift „Vivos voco“ verwahrt er sich gegen die „pathologische Judenfresserei der Hakenkreuzbarden“, die ihm von Anfang an suspekt waren. Wie wird Siddhartas Weg von Ich über Entselbstung zum Selbst beschrieben? Bei den Samanas Entselbstung (Von sich selbst wegsterben, nicht mehr Ich sein), Gotama Beraubt hat er mich meines Freundes, dessen, der an mich glaubte und der nun an ihn glaubt, der mein Schatten war und nun Gotamas Schatten ist. Geschenkt aber hat er mir Siddhartha, mich selbst. Erwachen[3] Ich hatte Angst vor mir, ich war auf der Flucht vor mir! Atman suchte ich, Brahman suchte ich, ich war gewillt, mein Ich zu zerstücken und auseinander zu schälen, um in seinem unbekannten Innersten den Kern aller Schalen zu finden, den Atman, das Leben, das Göttliche, das Letzte. Ich selbst aber ging mir dabei verloren." Kamala Sich selbst musste er jetzt erleben. Wohl hatte er schon lange gewusst, dass sein Selbst Atman sei, vom selben ewigen Wesen wie Brahman. Aber nie hatte er dies Selbst wirklich gefunden, weil er es mit dem Netz des Gedankens hatte fangen wollen. War auch gewiss der Körper nicht das Selbst, und nicht das Spiel der Sinne, so war es doch auch das Denken nicht, nicht der Verstand, nicht die erlernte Weisheit, nicht die erlernte Kunst, Schlüsse zu ziehen und aus schon Gedachtem neue Gedanken zu spinnen. Sansara Langsam nur, zwischen seinen wachsenden Reichtümern, hatte Siddhartha selbst etwas von der Art der Kindermenschen angenommen, etwas von ihrer Kindlichkeit und von ihrer Ängstlichkeit. Und doch beneidete er sie, beneidete sie desto mehr, je ähnlicher er ihnen wurde. Er beneidete sie um das Eine, was ihm fehlte und was sie hatten, um die Wichtigkeit, welche sie ihrem Leben beizulegen vermochten, um die Leidenschaftlichkeit ihrer Freuden und Ängste, um das bange, aber süße Glück ihrer ewigen Verliebtheit. In sich selbst, in Frauen, in ihre Kinder, in Ehre oder Geld, in Pläne oder Hoffnungen verliebt waren diese Menschen immerzu. Er aber lernte dies nicht von ihnen, gerade dies nicht, diese Kinderfreude und Kindertorheit; er lernte von ihnen gerade das Unangenehme, was er selbst verachtete. Am Fluss Nach C.G. Jungs Psychologie ist sein Interesse für den Fluss durchaus begreiflich, symbolisiert Wasser doch stets die Abgründigkeit des Unbewussten. In dieser Funktion tritt es auch im Text auf. In allen Einzelheiten lässt es sich beweisen, dass Siddhartha die zentralen Eigenschaften seines unbewussten Selbst in den Fluss hineinprojiziert und auf diese Weise einen höheren Grad an Selbsterkenntnis erlangt.[4] Der Sohn Nun aber, seit sein Sohn da war, nun war auch er, Siddhartha, vollends ein Kindermensch geworden, eines Menschen wegen leidend, einen Menschen liebend, an eine Liebe verloren, einer Liebe wegen ein Tor geworden. Nun fühlte auch er, spät, einmal im Leben diese stärkste und seltsamste Leidenschaft, litt an ihr, litt kläglich, und war doch beseligt, war doch um etwas erneuert, um etwas reicher. OM Siddhartha setzte sich zu dem Greise, langsam begann er zu sprechen. Worüber sie niemals gesprochen hatten, davon erzählte er jetzt, von seinem Gange zur Stadt, damals, von der brennenden Wunde, von seinem Neid beim Anblick glücklicher Väter, von seinem Wissen um die Torheit solcher Wünsche, von seinem vergeblichen Kampf wider sie. Alles berichtete er, alles konnte er sagen, auch das Peinlichste, alles ließ sich sagen, alles sich zeigen, alles konnte er erzählen. Er zeigte seine Wunde dar, erzählte auch seine heutige Flucht, wie er übers Wasser gefahren sei, kindischer Flüchtling, willens nach der Stadt zu wandern, wie der Fluss gelacht habe. Während er sprach, lange sprach, während Vasudeva mit stillem Gesicht lauschte, empfand Siddhartha dies Zuhören Vasudevas stärker, als er es jemals gefühlt hatte, er spürte, wie seine Schmerzen, seine Beängstigungen hinüberflossen, wie seine heimliche Hoffnung hinüberfloss, ihm von drüben wieder entgegenkam. Diesem Zuhörer seine Wunde zu zeigen, war dasselbe, wie sie im Flusse baden, bis sie kühl und mit dem Flusse eins wurde. Während er immer noch sprach, immer noch bekannte und beichtete, fühlte Siddhartha mehr und mehr, dass dies nicht mehr Vasudeva, nicht mehr ein Mensch war, der ihm zuhörte, dass dieser regungslos Lauschende seine Beichte in sich einsog wie ein Baum den Regen, dass dieser Regungslose der Fluss selbst, dass er Gott selbst, dass er das Ewige selbst war. Kommentar[5]: Vasudeva bringt die Menschen nicht nur auf die andere Seite des Flusses, sondern auch an das andere Ufer ihrer Seele, mit Jung gesprochen: vom Ich zum Selbst. Er verkörpert den Archetypus des „Alten Weisen“ als Symbol der seelischen Ganzheit des Selbst. Hermann Hesse hat in dieser Figur seinem taoistischen Glauben an die Nichtlehrbarkeit der Weisheit eine eindringliche Darstellung gegeben. Dies ist, neben dem Individualismus der Erzählung, auch der Hauptgrund, weshalb Hesse diese Dichtung als „Ausdruck meiner Befreiung vom indischen Denken“ bezeichnet hat. Govinda Und, so sah Govinda, dies Lächeln der Maske, dies Lächeln der Einheit über den strömenden Gestaltungen, dies Lächeln der Gleichzeitigkeit über den tausend Geburten und Toten, dies Lächeln Siddharthas war genau dasselbe, war genau das gleiche, stille, feine, undurchdringliche, vielleicht gütige, vielleicht spöttische, weise, tausendfältige Lächeln Gotamas, des Buddha, wie er selbst es hundertmal mit Ehrfurcht gesehen hatte. So, das wusste Govinda, lächelten die Vollendeten. Wie wird das verdrängte Selbst von Harry Haller entdeckt? Hesses Gedichtzyklus Krisis: Ein Stück Tagebuch (Bln.) bildet eine Parallele zum Steppenwolf. Der Romanheld Harry Haller empfindet die Spannung zwischen Werttradition und Wertzerfall in der für ihn nicht lebenswerten Zeit. Nach außen hin passt er sich der Gesellschaft zwar notdürftig an, sein Konflikt mit dem restaurativen Bildungsbürgertum der 20er Jahre steigert allerdings sein Unbehagen in einer Zeit bis zum äußersten Lebensüberdruß. Sein Schicksal wird mitleidlos, ironisierend und auch stilistisch innovativ von verschiedenen Perspektiven her beleuchtet u. variiert. Sein Konflikt löst sich durch die Bekanntschaft mit der Prostituierten Hermine, die Haller an sein verlorenes, herabgewürdigtes u. verdrängtes Selbst erinnert. An der Hand Hermines lernt er in der schmerzhaften Selbstanalyse des »Magischen Theaters« die schwierige Aufgabe zu meistern, sich zu akzeptieren u. den bedrohlichen Symptomen der Zeit mit Humor zu widerstehen. Zum Steppenmwolf-Komplex gehören noch Texte: Kurgast, 1925 Nürnberger Reise, 1927 Krisis, 1928 1931, also 4 Jahre nach der Erscheiung es Romans, schrieb Hesse in einem Brief über seine Absicht in Der Steppenwolf : unter Wahrung einiger für mich „ewigen“ Glaubenssätze, die Ungeistigkeit unserer Zeittendenzen und ihre zerstörerische Wirkung auch auf den höherstehenden Geist und Charakter zu zeigen. Der Roman ist von einer undifferenzierten Verurteilung der Nachkriegsgesellschaft geprägt, z. B. in Hochjagd auf Automobile im Magischen Theater des Steppenwolf. Ein Mensch, der fähig ist, Buddha zu begreifen, (…) sollte nicht in einer Welt leben, in welcher common sence, Demokratie und bürgerliche Bildung herrschen. Nur aus Feigheit lebt er in ihr. Diese Anleitung zum politischen Desinteresse und Zivilisationsfeindlichkeit hat die Abwehrmechanismen der deutschen bürgerlichen Gesellschaft geschwächt und die Machtergreifung erleichtert. Nicht zufällig tritt Hesse aus der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste 1930 gleichzeitig mit Erwin Quido Kolbenheyer, Wilhelm Schäfer und Emil Strauß aus, um gegen die Aufnahme Heinrich Manns und Alfred Döblins dadurch zu protestieren. (Hansers Sozialgeschihcte, S. 45) Welche Symbolik schreibt Hesse einer Morgenlandfahrt zu? Das Stichwort Morgenlandfahrt bezog Hesse auf eine Einstellung zum Leben, nicht nur auf einen Reise gegen den Osten. 1932: Morgenlandfahrt: Hesses Erzählung ist eine einzige große Beichte über seinen Verrat an dem Freund, von dem er sich 1919 abgewandt hatte und den er durch diesen langen Brief der Reue wiederzugewinnen sucht. Er tritt hierder Diener Leo auf und vermittelt dem Erzähler H. H. solche Wahrheiten, wie z. B. dass literarische Gestalten lebendiger wirken als ihre Schöpfer. Bei den Müttern sei es auch so. Wenn sie die Kinder geboren und sie mit ihrer Milch ernähren und ihre Schönheit auf sie weitergeben, werden sie selber unscheinbar und unbeachtet. In der Schlussszene des Romans fließt auch die die Kraft vom Dichter zu seinem Geschöpf, bis H. H. welk und bleich wird. Als „Brüder im Geiste“ tauchen im Roman längst verstorbene, von Hesse geschätzte Künstler aller Epochen nebst den von ihnen geschaffenen Figuren auf: z. B. C. Brentano, Novalis, Pythagoras, Lao Tse oder Zoroaster, E.T.A.Hoffmann und sein Archivarius Lindhorst aus dem „Goldenen Topf“ oder Hesses eigene Schöpfung, der Maler Klingsor aus der Erzählung Klingsors letzter Sommer von 1919. Angefangen von altfranzösischen Ritterepen über Wieland und Novalis bis hin zu Flauberts Ägyptenbericht gab es Tradition der Morgenlandfahrten, sei es nach Damaskus und Afrika,sei es das Heilige Land. Der Bund der Morgenlandfahrer erinnert an „Geheimgesellschaften“ wie Freimaurer, Illuminaten oder Rosenkreuzer. Im Tagungshaus des Bundes wird H. H. - wie einst Harry Haller im »Magischen Theater« im Steppenwolf - von Leo über diverse Treppen, Flure und Räume bis vor die »Bundesversammlung« geführt, die über die »Selbstanklage eines entlaufenen Bundesbruders« verhandelt. H. H. erwartet eine Verurteilung, wird zu seiner maßlosen Überraschung jedoch nicht nur freigesprochen, sondern auch noch von seiner Schweigepflicht gegenüber dem »Bundesgeheimnis« entbunden und bekommt für seine Arbeit an der Chronik des Bundes noch das »Bundesarchiv« zur Verfügung gestellt. Das Morgenland ist kein Land und nichts Geographisches, sondern die Heimat und Jugend der Seele, es liegt überall und nirgends, […] Ich erkannte: wohl hatte ich mich einer Pilgerfahrt nach dem Morgenlande angeschlossen, einer bestimmten und einmaligen Pilgerfahrt dem Anscheine nach - aber in Wirklichkeit, im höheren und eigentlichen Sinne, war dieser Zug zum Morgenlande nicht bloß der meine und nicht bloß dieser gegenwärtige, sondern es strömte dieser Zug der Gläubigen und sich Hingebenden nach dem Osten, nach der Heimat des Lichts, unaufhörlich und ewig, er war immerdar, durch alle Jahrhunderte unterwegs, dem Licht und dem Wunder entgegen, und jeder von uns Brüdern, jede unserer Gruppen, ja unser ganzes Heer und seine große Heerfahrt war nur eine Welle im ewigen Strom der Seelen, im ewigen Heimwärtsstreben der Geister nach Morgen, nach der Heimat. Später kommentierte Hesse das Buch: Welchen Sinn oder welche Tendenz meine Erzählung habe, darüber kann ich nicht mitreden. Es soll mir lieb sein, wenn die Zahl der Meinungen darüber recht groß ist /…/ Das Thema der Morgenlandfahrt ist: Sehnsucht nach Dienen, Suchen nach Gemeinschaft, Befreiung vom unfruchtbar einsamen Virtuosentum des Künstlers. H. H., der ein "Violinspieler und Märchenleser" ist, denkt an seine Aufnahme in den Bund der Morgenlandfahrer und seine eigene Reise zurück: "Unsere Fahrt nach Morgenland und die ihr zugrunde liegende Gemeinschaft, unser Bund, ist das Wichtigste, das einzig Wichtige in meinem Leben gewesen, etwas, woneben meine eigene Person vollkommen nichtig erschien." Weil er eine Lebenskrise erlebt, hat er sich vorgenommen, über seine Morgenlandfahrt zu berichten, um seinem Dasein wieder einen Sinn zu geben. ________________________________ [1] verstreut publiziert: BETRACHTUNGEN war eine Essaysammlung, in der sein Individualismus und Abneigung gegen die Massenbewegung zum Ausdruck kommen. [2] Schriftleiter der von Ludwig Thoma u. Hermann Hesse herausgegebenen Zeitschrift »März«. 1949 zum ersten Bundespräsidenten der BR gewaehlt. [3] Vgl. Sophie Werner: Zum Motiv der Inspiration im Werk Hermann Hesses. Santa Barbara, 2004. S. 59 Im Hesseschen Sinn bedeutet „Erwachen „ein Heraustreten des Einzelnen aus der Undifferenziertheit seiner unbewussten Kollektivverhaftung und impliziert stets ein Doppeltes: Die Bewusstwerdung der eigenen Individualität und die Erkenntnis der jeweils ganz persönlichen Aufgabe und Stellung in der Welt. Nach Hesse erkennt der erwachende Mensch also die Welt und in ihr sein eigenes Ich in seiner spezifischen Eigengesetzlichkeit und begründet damit jenes Weltverständnis, das den autonomen Erwachsenen vom unmündigen Kind unterscheidet. [4] . Sophie Werner: Zum Motiv der Inspiration im Werk Hermann Hesses. Santa Barbara, 2004. S. 67. [5] Günter Baumann: Der Heilige und der Wüstling Tiefenpsychologische Grundlagen von Siddhartha und Der Steppenwolf. http://www.gss.ucsb.edu/projects/hesse/papers/baumann-zurich3.pdf