CHRISTOPH HOFFMANN "Wir schreiben und wir wissen nichts" Text und Experiment bei Robert Musil http://web.fu-berlin.de/postmoderne-psych/berichte3/hoffmann.htm Im November 1915 notiert Musil sich über das Trommelfeuer an der Isonzofront: "Der Tod singt hier. Über unsern Köpfen singt es, tief, hoch. Man unterscheidet die Batterien am Klang. tschu i ruh oh - puimm. Wenn es in der Nähe einschlägt: tsch - sch - bam" (Musil, 1981a, S. 324). Das klingt nach dadasophischen Gedichten. An der Notiz frappiert aber vor allem die gegenläufige und doch parallele Tendenz zu Stumpfs Forschungen. Während nämlich Experimentalpsychologie Sprache - nicht zuletzt des Dichters - als Klang und Geräusch analysiert, hören eingerückte Schriftsteller aus Waffensound die letzten oder ersten Phoneme eines Gesangs, einer Sprache heraus. Ganz erfaßt hat Musil die Bedeutung seiner ‚Phonoskripte‘ wohl erst, als er 1920 Stumpfs zwei Jahre zuvor erschienene Abhandlung über "Die Struktur der Vokale" zu lesen bekommt (vgl. das Exzerpt in Musil, 1981a, S. 506). Wenn Schlachtenlärm in Sprachlaute transkribiert werden kann, und umgekehrt Vokale und Konsonanten als Klänge und Geräusche darstellbar sind, verliert die Unterscheidung zwischen gesungener, gesprochener oder geflüsterter Sprache und jedem anderen ‚sound‘, und sei es dem des Krieges, ihren absoluten Charakter. "Flüstern oder rauschen", das sind zunächst zwei Klang-Geräusch-Mischungen, die sich nicht grundsätzlich voneinander unterscheiden. Erfüllen Klänge und Geräusche Formantbedingungen, hängt es für Stumpf vornehmlich von der subjektiven Einstellung und Gewöhnung des Hörers ab, ob er sie als Gesangs- oder Sprachlaute auffaßt. So vernimmt er zum Beispiel selbst in "knallartige[n]" Geräuschen, wie zur Bestätigung von Musils Kriegsnotizen, einen gewissen Vokalcharakter (vgl. Stumpf, 1926, S. 344). Ob man Vogellaute als Gesang analysiert oder mit Musils Freund Hornbostel als "Bewegungs- und Hörspiel" (Hornbostel, 1911, S. 128), ob man den Klang eines Fliegerpfeils als tödliche Waffe oder als "Stimme" an der "Grenze der Atmosphäre" qualifiziert (Musil, 1981e [1915/16], S. 754), hängt so besehen letztlich von Einstellung, nämlich von experimentaler Einstellung der Ohren im Labor ab. Und auch der letzte, sicher unglaublichste Vorfall, den Azwei erzählt, erhält in diesem Licht eine mögliche Auflösung. Was sich begibt, wenn aus dem Mund einer Amsel eine Mutter sich zu Gehör bringt, läßt sich als verborgene Szene eines ‚zur-Sprache-kommens‘ deuten. Mit den Worten Stumpfs gesagt, verdichtet sich in der Wiederholung nichts anderes als der erste Vorfall jenes "Vertrautheitscharakters", der "im höchsten Grade den Lauten der Muttersprache" eignet (Stumpf, 1926, S. 268) und im übrigen das einzige Unterscheidungsmerkmal zwischen menschlichen Vokalen und allen übrigen Klangfarben ist, sei es das "Tirili der Lerche" oder das "Mäh des Lammes" (ebd., S. 267). Die Szene, die sich zuletzt aus dem Mund der Amsel in Azweis Gedächtnis ruft, scheint so betrachtet die Szene der Muttersprache selbst zu sein; eine Szene der Unterscheidung, der Abstimmung, der Sozialisation, der durchaus sinnreichen Begründung eines Erzählerlebens. Ich habe das biographische Moment in Musils Text kurz angerissen, um zu zeigen, daß Verstehen sich dort nicht als Gabe eines kritischen Einfühlens bestimmt, sondern als Ergebnis von psychophysischer Einstellung und Übung. Und ich schließe daran die These an, daß auch Erzählen in "Die Amsel" nicht eine Aktion ist, durch die ein zu Beginn vielleicht noch verborgener, aber gewiß vorhandener Sinn gedeutet wird. Hier wird vielmehr, wie erinnerlich, erzählt, um den Sinn der Begebenheiten eines Lebens erst noch zu klären, und wenn dieser Sinn bereits fest stünde, würde mit dem Erzählen erst gar nicht begonnen. Erzählen rückt damit aus dem Kontext der Rechtfertigung in den Kontext der Entdeckung. Dieses Erzählen begegnet dem Leser jedoch wiederum von einem Standpunkt zweiter Ordnung. Es begegnet, wie schon der Eingangssatz des Textes zeigt, als ausgestelltes Erzählen: "Die beiden Männer, deren ich erwähnen muß - um drei kleine Geschichten zu erzählen, bei denen es darauf ankommt, wer sie berichtet - waren Jugendfreunde; nennen wir sie Aeins und Azwei" (Musil, 1981d [1928], S. 548). Dieser Eingangssatz bringt das Erzählen selbst zur Sprache und er tut dies im Gestus einer experimentellen Anweisung, gesprochen zuletzt von einem "wir", hinter dem sich das typische wissenschaftliche Kollektivsubjekt verbirgt (vgl. Eibl, 1970, S. 456). Und in der Tat werden ‚wir‘ in der ganzen Binnennovelle Zeuge eines Erzählexperiments. Eine der Randbedingungen ist dabei bereits genannt: es kommt darauf an, wer berichtet. Eine andere verhält sich zu dieser jedoch vorgängig: die Aktion ‚Erzählen‘ selbst, ihre Eigenschaft, die erzählten Begebenheiten in einen Zusammenhang zu stellen, ihr Einfluß auf das Verhältnis von Flüstern und Rauschen. Diese Randbedingung setzt Musils Text insbesondere auseinander. Stumpfs Forschungen über die Struktur der Sprachlaute nehmen Anfang der 20er Jahre eine immer praktischere Ausrichtung. Aus einem Experimentalsystem wird eine Meßapparatur, mit deren Hilfe der Frequenzgang ermittelt wird, den elektroakustische Wandler für eine verständliche Sprachübertragung mindestens leisten müssen. Diese Wendung ist kein Zufall, die meiste Beachtung finden Stumpfs Arbeiten im Telegraphentechnischen Reichsamt, und es sind später Telephon- und Rundfunktechniker, die ihm mit das treueste Andenken halten (vgl. Meyer, 1928; Wagner, 1924). In einer dieser Meßreihen stellt Stumpf fest, daß bei gleichem Frequenzgang eines Systems "zusammenhängende sinnvolle Rede" noch sehr lange zu verstehen ist, wo maßgebliche Teile des Lautbestands für sich bereits unverständlich sind (vgl. Stumpf, 1921, S. 186). Die Lösung für die Abweichung liegt auf der Hand: die Versuchspersonen ergänzen das Unverständliche aus dem Sinnzusammenhang. Stumpf bemerkt aber weiter, daß es sogar reicht, einen Konsonanten mitten in ein Wort zu setzen, auch wenn er dort nicht hingehört, damit er besser verstanden wird (vgl. ebd.). Konsonanten und Vokale in einen Zusammenhang zu stellen, heißt also zuallererst in ihre akustische Verständlichkeit einzugreifen; den Übergang ins Rauschen zu verschieben. Bei Messungen an elektro-akustischen Wandlern ist dieser Effekt eine Störquelle - und zwar weil er individuell verschieden ausfällt - weshalb Ingenieure von Siemens & Halske bei sogenannten "Verständlichkeitsmessungen" mit sorgsam kalkulierten Zufallssilben arbeiten (vgl. Mayer, 1927). In der "Amsel" wird dieser Effekt dagegen skrupulös bedacht. Als Prämisse gilt dabei: Wenn die Gabe des Sinns in die Verständlichkeit einer Zusammenstellung von Buchstaben, Wörtern und Sätzen eingreift, dann könnte im Umkehrschluß die Gabe der Zusammenstellung von Buchstaben, Wörtern und Sätzen in die Verständlichkeit eines Sinns eingreifen. Damit wären wir um ein Haar wieder bei der Fiktion des auktorialen Erzählers als Deuters der Zeiten angelangt, aber nur um ein Haar. Denn das wirklich ‚Unerhörte‘ an Musils Novelle ist, daß dort die Gewalt des Erzählers sich ihre Regeln nicht selbst gibt, sondern den Regeln der Statistik unterwirft. Das scheint mir freilich nur folgerichtig, wird damit doch die erzählerische Korrelation zwischen den drei Vorfällen durch die selbe Methode abgesichert, mit der auch in Nachrichtentechnik und Experimentalpsychologie Korrelationen zwischen Phänomenen hergestellt werden. Amsel-Leser setzen in aller Regel genauso wie der Zuhörer Aeins voraus, daß die drei von Azwei wiedergegebenen Vorfälle einen sinnvollen Zusammenhang haben. Azwei selbst bewegt dagegen während des ganzen Berichts die Frage: ist das, was ich wiedergebe, überhaupt eine Geschichte, oder handelt es sich um mehrere, die gar nichts miteinander gemein haben? Schon während des Berichts des ersten Vorfalls läßt Azwei gegenüber Aeins einfließen: "Vielleicht habe ich unrecht, dir diese Geschichte im Zusammenhang mit zwei anderen zu erzählen, die darauf gefolgt sind" (Musil, 1981d [1928], S. 553). Der Zweifel gründet dabei in der subjektiven Wahrnehmung des ersten Geschehnisses: Aeins ist sich nicht sicher über seinen "Eindruck". In einem Experiment spricht man in diesem Fall von einem Beobachtungsproblem, und das ist ein wichtiger Hinweis darauf, nach welchen Regeln die Zusammenstellung der drei erzählten Begebenheiten geschieht. Azwei äußert einmal gegenüber Aeins über den Zweck seines Berichts: "Ich will dir meine Geschichten erzählen, um zu erfahren, ob sie wahr sind" (ebd.). Was heißt "wahr" hier? Eine Möglichkeit erwähnt Aeins in seinem Einwurf am Ende der Erzählung. Die Wahrheit der Geschichten bemäße sich danach an ihrer Sinnhaftigkeit, an einer plausiblen Erklärung. Wie Sie sich erinnern, weist Azwei dieses ‚Ansinnen‘ ab: eine Bedeutung ist erst noch zu finden. Sie kann darum auch nicht vorgängig herangezogen werden, um die Wahrheit der Begebenheiten zu beurteilen. Vielleicht verweist das Wort "wahr" hier aber auf etwas, was ich die implizite Wahrheit der Begebenheiten nennen würde. Wahr wären sie dann, wenn die Beobachtungen, die ihren Gegenstand bilden, wahr wären. Die Frage, ob eine Beobachtung wahr ist oder nicht, ist aber ein statistisches Problem. Aus Timerdings Die Analyse des Zufalls (1915) notiert Musil Anfang der Zwanziger Jahre: "Beobachtungen: Existenz eines wahren Werts wird vorausgesetzt, dem die beobachteten Werte mehr od. weniger nahe kommen. [...] Wert dem sich arithmet. Mittel bei Häufung der Beobachtungen nähert, ist der wahre Wert" (Musil, 1981a, S. 463). Wahr wären die drei Beobachtungen Azweis demnach, wenn sie einen "wahren Wert" bilden würden. Dies setzt erstens voraus, daß die Beobachtungen überhaupt Fälle ein und desselben Vorgangs sind, und es setzt zweitens voraus, daß die Werte, welche die Beobachtungen erbracht haben, eine "stationäre Reihe" bilden, das heißt "fortwährend zwischen bestimmten Grenzen eingeschlossen bleiben" (Timerding, 1915, S. 27). Ich gebe zu, daß mein Argument nun etwas dünn wird, aber es scheint mir, daß sich die Wahrheit der Begebenheiten im Erzählen Azweis nach dem Modus einer stationären Reihe ergibt. Wenigstens werden die Beobachtungen keineswegs von Fall zu Fall qualitativ besser oder klarer. So endet der Bericht des zweiten Vorfalls zwar mit dem Wunsch, "etwas von dieser Art noch einmal deutlicher [zu] erleben", anschließend stellt Azwei jedoch fest: "Ich habe es übrigens noch einmal erlebt, aber nicht deutlicher" (Musil, 1981d [1928], S. 557). Diese Unsicherheit hindert ihn aber nicht an der Wiedergabe der dritten Begebenheit, im Gegenteil: "man konnte ihm anmerken, daß er gerade deshalb darauf brannte, sich diese Geschichte erzählen zu hören" (ebd.). Und das mit gutem Grund: denn mit jeder Begebenheit, die einer Reihe von Ereignissen einverleibt wird, schärft sich - oder dementiert sich - ihr stationärer Charakter. Den wahren Wert der erzählten Reihe von Begebenheiten kennen Sie schon: "es ist, wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können." Scheinbar hat die Aktion ‚Erzählen‘ also keinen Sinn generieren können. Tatsächlich ist Azwei am Ende seines Berichts jedoch durchaus schlauer als zuvor. Immerhin hat die Reihung von Buchstaben, Wörtern, Begebenheiten in einer Geschichte an die Schwelle zwischen unstrukturiertem Geräusch und Struktur eines Sinns geführt. Ich sage Schwelle, denn Flüstern und Rauschen sind nichts absolut Verschiedenes, sie sind verschiedene Zustände eines Materials. All denen, die mit Aeins nach dem "gemeinsamen Sinn" des Ganzen fragen, wird man allerdings zugestehen müssen, daß dieses Rätsel aus dem Aussagebereich des Resultats hinausfällt. "Es hat sich eben alles so ereignet" und darüber läßt sich nicht mehr sagen, als daß die Geschehnisse eine stationäre Verteilung zeigen. Deshalb kann Azwei sie als eine Geschichte erzählen, und das ist alles. Zu welchem Nutzen und mit welchem Selbstverständnis wird dann aber noch erzählt? Meint man es ernst damit, daß in "Die Amsel" eine Poetik ‚in progress‘ exerziert wird, dann besteht die Funktion des Erzählens darin, in den Bestand von letztlich statistisch definierten Ereignissen, die den Menschen umfangen, Regelmäßigkeiten einzutragen. Entscheidend ist hierbei, daß Bedeutungskonstitution, hervorgebracht durch die Reihung der Worte zu einer Erzählung, nicht als Ausbreitung eines gegebenen Sinns verstanden wird, sondern als Akt der Begrenzung, als Inskription, als Einfassung.