Bertolt Brecht Mutter Courage und ihre Kinder Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg Mit einem Kommentar von Wolfgang Jeske Suhrkamp Der vorliegende Text folgt der Ausgabe: Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Band 6, Stücke 6, bearb. v. Klaus-Detlef Müller. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1989, S. 7-86. 16. Auflage zoi8 Erste Auflage 1999 Suhrkamp BasisBihliothek 11 Originalausgabe © Text: Bertolt-Brecht-Erben und Suhrkamp Verlag Berlin Mutter Courage und ihre Kinder: Zuerst erschienen 1949 im Suhrkamp Verlag © Kommentar: Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999-Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Auffuhrung durch Berufs-und Laienbühnen, der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung und Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Abschnitte. Das Recht der Aufführung oder Sendung ist nur vom Suhrkamp Verlag, Pappelallee 78-79, 104^7 Berlin, zu erwerben. Den Bühnen und Vereinen gegenüber als Manuskript gedruckt. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: UM - Ebner & Spiegel, Ulm Umschlagabbildung: Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner Printed in Germany ISBN 978-3-518-18811-8 Redaktion: "Elisabeth Hauptmann" »Mutter "Courage1 und ihre Kinder«, geschrieben in Skandinavien vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges1, ist der 10. Versuch . Eine Musik hierzu komponierte Paul Dessau . I r n Erühjahr 1624. Der Eeldhauptmann Oxenstjerna wirbt in Dalarne1 Truppen für den Feldzug in Polen . Der Marketenderin* Anna Fierling, bekannt unter dem Namen Mutter Courage, kommt ein Sohn abhanden. Handleno Personen Mutter Courage • Kattrin, ihre stumme Tochter • Eilif, der ältere Sohn • Schweizerkas, der jüngere Sohn • Der Werber • Der Feldwebel • Der Koch • Der Fcldhauptmann • Der Feldprediger • Der Zeugmeister • Yvette Portier • Der mit der Binde • Ein anderer Feldwebel • Der alte Obrist • Ein Schreiber • Em lunger Soldat • Ein alterer Soldat • Ein Bauer • Die Bauersfrau • Der junge Mann • Die alte Frau • Ein anderer Bauer • Die Bauerin • Ein junger Bauer • Der Fähnrich • Soldaten • Eine Stimme 15 10 IS 20 2S 30 Landstraße in Stadtnähe. Ein Feldwebel und ein Werber stehen frierend. der Werber Wie soll man sich hier eine Mannschaft zusammenlesen? Feldwebel, ich denk schon mitunter an Selbstmord. Bis zum zwölften soll ich dem Feldhauptmann vier Fähnlein* hinstelln, und die Leut hier herum sind so voll Bosheit, daß ich keine Nacht mehr schlaf. Hab ich endlich einen aufgetrieben, und schon durch die Finger gesehn und mich nix wissen gemacht, daß er eine Hühnerbrust hat und Krampfadern, ich hab ihn glucklich besoffen, er hat schon unterschrieben, ich zahl nur noch den Schnaps, er tritt aus, ich hinterher zur Tür, weil mir was schwant: Richtig, weg ist er, wie die Laus unterm Kratzen. Da gibts kein Manneswort, kein Treu und Glauben, kein Ehrgefühl. Ich hab hier mein Vertrauen in die Menschheit verloren, Feldwebel. der Feldwebel Man merkts, hier ist zu lang kein Krieg gewesen. Wo soll da Moral herkommen, frag ich? Frieden, das ist nur Schlamperei, erst der Krieg schafft Ordnung. Die Menschheit schießt ins Kraut im Frieden. Mit Mensch und Vieh wird herumgesaut, als wars gar nix. Jeder frißt, was er will, einen Ranken* Käs aufs Weißbrot und dann noch eine Scheibe Speck auf den Käs. Wie viele junge Leut und gute Gaul diese Stadt da vorn hat, weiß kein Mensch, es ist niemals gezahlt worden. Ich bin in Gegenden gekommen, wo kein Krieg war vielleicht Truppenteil der Landsknechtheere unter emer Fahne unförmig« Stucn 8 ' Landstraße 9 Hie' Geoac«-. Merpflegungs-tross siebzig Jahr, da harten die Leut überhaupt noch keine Namen, die kannten sich selber nicht. Nur wo Krieg ist gibts ordentliche Listen und Registraturen, kommt das Schuhzeug in Ballen und das Korn in Sack, wird Mensch und Vieh sauber gezählt und weggebracht, weil man eben weiß: Ohne Ordnung kein Krieg! der Werber Wie richtig das ist! der Feldwebel Wie alles Gute ist auch der Krieg am Anfang halt schwer zu machen. Wenn er dann erst floriert, ist er auch zäh; dann schrecken die Leut zurück vorm Frieden, wie die Würfler vorm Aufhören, weil dann müssens zählen, was sie verloren haben. Aber zuerst Schreckens zurück vorm Krieg. Er ist ihnen was Neues. der werber Du, da kommt ein Planwagen. Zwei Weiber und zwei junge Burschen. Halt die Alte auf, Feldwebel. Wenn das wieder nix ist, stell ich mich nicht weiter in den Aprilwind hin, das sag ich dir. Man hört eine Maultrommel. Von zwei jungen Burschen gezogen, rollt ein Planwagen heran. Auf ihm sitzen Mutter Courage und ihre stumme Tochter Kattrin. Mutter courage Guten Morgen, Herr Feldwebel! der Feldwebel sich in den Weg stellend: Guten Morgen, ihr Leut! Wer seid ihr? Mutter courage Geschäftsleut. Singt. 20 Ihr Hauptleut, laßt die Trommel ruhen Und laßt eur Fußvolk halten an: Mutter Courage, die kommt mit Schuhen In denen es besser laufen kann. Mit seinen Läusen und Getieren Bagage*, Kanone und Gespann - Soll es euch in die Schlacht marschieren So will es gute Schuhe han. Das Frühjahr kommt. Wach auf, du Christ! Der Schnee schmilzt weg. Die Toten ruhn. 25 30 10 15 20 25 30 Und was noch nicht gestorben ist Das macht sich auf die Socken nun. Ihr Hauptleut, eure Leut marschieren Euch ohne Wurst nicht in den Tod. Laßt die Courage sie erst kurieren Mit Wein von Leibs- und Geisresnot. Kanonen auf die leeren Mägen Ihr Hauptleut, das ist nicht gesund. Doch sind sie satt, habt meinen Segen Und führt sie in den Höllenschlund. Das Frühjahr kommt. Wach auf, du Christ! Der Schnee schmilzt weg. Die Toten ruhn. Und was noch nicht gestorben ist Das macht sich auf die Socken nun. der Feldwebel Halt, wohin gehört ihr, Bagage*? der ältere söhn zweites Finnisches Regiment. der Feldwebel Wo sind eure Papiere? Mutter courage Papiere? jüngerer söhn Das ist doch die Mutter Courage! der Feldwebel Nie von gehört. Warum heißt sie Courage? Mutter courage Courage heiß ich, weil ich den Ruin gefürchtet hab, Feldwebel, und bin durch das Geschützfeuer von Riga1 gefahrn mit fünfzig Brotlaib im Wagen. Sie waren schon angeschimmelt, es war höchste Zeit, ich hab keine Wahl gehabt. der Feldwebel Keine Witze, du. Wo sind die Papiere! Mutter courage aus einer Zinnbüchse einen Haufen Papiere kramend und herunterkletternd: Das sind alle meine Papiere, Feldwebel. Da ist ein ganzes Meßbuch* dabei, aus Altötting*, zum Einschlagen von Gurken, und eine Landkarte von Mähren, weiß Gott, ob ich da je hinkomm, sonst ist sie für die Katz, und hier stehts besie- Hier als Schimpfwort Gesindel. Pack Altarbuih fur die Messe Wai'*jrirtsort in ßdyern 10 1 Landstraße ' Landstraße 1 ! vty 40,15 gelt, daß mein Schimmel* nicht die Maul- und eingegangen Klauenseuch hat, leider ist er uns umgestanden*, er hat fünfzehn Gulden gekostet, aber nicht mich, Gott sei Dank. Ist das genug Papier? der Feldwebel Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich werd dir deine Frechheit austreiben. Du weilst, daß du eine Lizenz haben mußt. Mütter courage Reden Sie anstandig mit mir und erzählen Sie nicht meinen halbwüchsigen Kindern, daß ich Sie auf den Arm nehmen will, das gehört sich nicht, ich hah nix mit Ihnen. Meine Lizenz beim Zweiten Regiment ist mein anstandiges Gesicht, und wenn Sie es nicht lesen können, kann ich nicht helfen. Einen Stempel laß ich mir nicht draufserzen. der Werber Feldwebel, ich spür einen unbotmäßigen Geist heraus bei der Person. Im Lager da brauchen wir Zucht. Mutter courage Ich dacht Wurst. der feldwebel Name. mutter courage Anna Pierling. der Feldwebel Also dann heißts ihr alle Fierling? mutter courage Wieso? Ich heiß Fierling. Die nicht. der Feldwebel Ich denk, das sind alles Kinder von dir? mutter courage Sind auch, aber heißen sie deshalb alle gleich? Auf Jen älteren Sohn deutend. Der zum Beispiel heißt Eilif Nojocki, warum, sein Vater hat immer behauptet, er heißt Kojocki oder Mojocki. Der Junge hat ihn noch gut im Gedächtnis, nur, das war ein anderer, den er im Gedächtnis hat, ein Franzos mit einem Spitzbart. Aber sonst hat er vom Vater die Intelligenz geerbt; der könnt einem Bauern die Hos vom Hintern wegziehn, ohne daß der was gemerkt hat. Und so hat eben jedes von uns seinen Namen. der Feldwebel Was, jedes einen anderen? mutter courage Sie tun grad, als ob Sie das nicht kennten. 10 15 20 25 J0 35 12 1 Landstraße 10 15 der Feldwebel Dann ist der wohl ein Chinescr? Auf den Jüngeren deutend. mutter courage Falsch geraten. Ein Schweizer. der Feldwebel Nach dem Franzosen? mutter courage Nach was für einem Franzosen? Ich weiß von keinem Franzosen. Bringen Sies nicht durcheinander, sonst stehn wir am Abend noch da. Ein Schweizer, heißt aber Fejos, ein Name, der nix mir seinem Vater zu tun hat. Der hieß ganz anders und war Festungsbaumeister, nur versoffen. Schweizerkas nickt strahlend, und auch die stumme Kattrin amüsiert sich. der Feldwebel Wie kann er da Fejos heißen? mutter courage Ich will Sie nicht beleidigen, aber Phantasie haben Sie nicht viel. Er heißt natürlich Fejos, weil, als er kam, war ich mit einem Ungarn, dem wars gleich, er hatte schon den Nierenschwund, obwohl er nie einen Tropfen angerührt hat, ein sehr redlicher Mensch. Der Junge ist nach ihm geraten. 20 der Feldwebel Aber er war doch gar nicht der Vater? mutter courage Aber nach ihm ist er geraten. Ich heiß ihn Schweizerkas, warum, er ist gut im Wagenziehen. Auf ihre Tochter deutend. Die heißt Kattrin Haupt, eine halbe Deutsche. 2s der Feldwebel Eine nette Familie, muß ich sagen. mutter courage Ja, ich bin durch die ganze Welt gekommen mit meinem Planwagen. der Feldwebel Das wird alles aufgeschrieben. Er schreibt auf. 30 der Werber Ihr solltet lieber rJakob Ochs und Esau Ochs1 heißen, weil ihr doch den Wagen zieht. Aus dem Gespann kommt ihr wohl nie heraus? eilif Mutter, darf ich ihm aufs Maul hauen? Ich möcht gern. « mutter courage Und ich untersags dir, du bleibst stehn. 1 Landstraße 13 Und jetzt, meine Herren Offizier, brauchens nicht eine gute Pistolen, oder eine Schnall, die Ihre ist schon abgewetzt, Herr Feldwebel. der Feldwebel Ich brauch was andres. Ich seh, die Bur sehen sind wie die Birken gewachsen, runde Brustkästen, stämmige Haxen: warum drückt sich das vom Heeresdienst, möcht ich wissen? Mutter courage schnell: Nicht zu machen, Feldwebel. Meine Kinder sind nicht für das Kriegshandwerk. der Werber Aber warum nicht? Das bringt Gewinn und 10 bringt Ruhm. Stiefelverramschen ist Weibersache. Zu Eilif: Tritt einmal vor, laß dich anfühlen, ob du Muskeln hast oder ein Hühnchen bist. Mutter courage Ein Hühnchen ist er. Wenn einer ihn streng anschaut, möcht er umfallen. 15 der Werber Und ein Kalb dabei erschlagen, wenn eins neben ihm stund. Er will ihn wegführen. mutter courage Willst du ihn wohl in Ruhe lassen? Der ist nix für euch. der werber Er hat mich grob beleidigt, und von meinem 20 Mund als einem Maul geredet. Wir zwei gehen dort ins Feld und tragen die Sach aus unter uns Männern. eilif Sei ruhig. Ich besorgs ihm, Mutter. Taugenichts mutter courage Stehen bleibst du. Du Haderlump*! Ich kenn dich, nix wie raufen. Ein Messer hat er im Stiefel, 25 stechen tut er. der werber Ich ziehs ihm aus wie einen Milchzahn, komm, Bürschchen. Oberst mutter courage Herr Feldwebel, ich sags dem Obri- sten\ Der steckt euch ins Loch. Der Leutnant ist ein 30 Freier meiner Tochter. der Feldwebel Keine Gewalt, Bruder. Zu Mutter Courage: Was hast du gegen den Heeresdienst? War sein Vater nicht Soldat? Und ist anständig gefallen? Das hast du selber gesagt. 35 10 15 mutter courage Er ist ein ganzes Kind. Ihr wollt ihn mir zur Schlachtbank führen, ich kenn euch. Ihr kriegt fünf Gulden für ihn. der werber Zunächst kriegt er eine schöne Kappe und 5 Stulpenstiefel, nicht? eilif Nicht von dir. mutter courage Komm, geh mit angeln, sagte der Fischer zum Wurm. Zum Schweizerkas: Lauf weg und schrei, die wollen deinen Bruder stehlen. Sie zieht ein Messer. Probierts nur und stehlt ihn. Ich stech euch nieder, Lumpen. Ich werds euch geben, Krieg mit ihm führen! Wir verkaufen ehrlich Leinen und Schinken und sind friedliche Leut. der Feldwebel Das sieht man an deinem Messer, wie friedlich ihr seid. Überhaupt sollst du dich schämen, gib das Messer weg, Vettel*! Vorher hast du eingestanden, unordentliche du lebst vom Krieg, denn wie willst du sonst leben, von ^lampe' was? Aber wie soll Krieg sein, wenn es keine Soldaten gibt? 20 mutter courage Das müssen nicht meine sein. der Feldwebel So, den Butzen* soll dein Krieg fressen, Kerngehäuse und die Birne soll er ausspucken! Deine Brut soll dir fett werden vom Krieg, und ihm gezinst wird nicht. Er kann schauen, wie er zu seine Sach kommt, wie? Heißt dich 25 Courage, he? Und fürchtest den Krieg, deinen Brotgeber? Deine Söhn fürchten ihn nicht, das weiß ich von ihnen. eilif Ich furcht kein Krieg. der Feldwebel Und warum auch? Schaut mich an: ist 3o mir das Soldatenlos schlecht bekommen? Ich war mit siebzehn dabei. mutter courage Du bist noch nicht siebzig. der Feldwebel Ich kanns erwarten. mutter courage Ja, unterm Boden vielleicht. » der Feldwebel Willst du mich beleidigen, und sagst, ich sterb? 14 1 Landstraße 1 Landstraße 15