Mehrsprachigkeit als Kern der Schweizer Kultur Die Globalisierung und die Einwanderungsströme haben den Kulturbegriff verändert. Wie soll eine nationale, föderalistische Kulturpolitik auf diese Veränderungen reagieren, und inwiefern sind «Schweizer Werte» dabei bedroht? Von Marco Baschera Tnde Januar fand in Zürich eine erste Tagung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozial Wissenschaften (SAGW) zum Thema der kulturellen Vielfalt in der Schweiz statt N^ach Jahren der Konzentration auf die Sprachenfrage nimmt sich die SAGW nun vermebrisde^ Kulturbegriffs an, der in den letzten Jahren und Jahrzehnten durch Globalisierung und durch Migrationsströme eine völlig neue Dynamik entwickelt hat. Regionale Kulturen vermischen sich auch in der Schweiz mit den verschiedensten Einwanderungsknlturen. Hinzu kommt eine ständig wachsende Diskrepanz zwischen städtischen und landlichen Gebieten. Wie lassen sich all diese Tendenzen in einer nationalen Kulturpolitik vereinen? ^Was verstehen wrr unter kultureller Vielfalt? Wie kann der Bund die kulturelle Vielfalt in der Schweiz schützen und fördern, ohne dabei eine Vorstellung der lebendigen Einheit in der Vielfalt zu entwickeln? ' Kultur zwischen lokal und global All diese Fragen zum Kulturbegnff stellen sich an der Schnittstelle verschiedener Wissenschaften, so der Medienwissenschaft, der. Soziologie, der Ethnologie, der Sprach-, der Geschichts- und der Rechtswissenschaft usw. Als grösstes Netzwerk der Geistes- und Sozialwissenschaften,der Schweiz ist die SAGW prädestiniert, sich solch komplexen Fragesteilungen zu widmen- Sie tut es wohl auch aus einer politischen Verantwortung heraus in einer Zeit, in der vor allem aus rechtspopulistischen Kreisen immer mehr eine fragwürdige Monopolisierung der «Schweizer Kultur» und der Schweizer Werte» betrieben wird. Diese SAGW-Tagung stand im Zeichen der im Jahre 2005 von der Unesco-Generalversammlung verabschiedeten Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen, die von der Schweiz 2008 ratifiziert wurde. Die Deklaration ist jedoch das eine und ihre Umsetzung das andere. Mira Burn von der Universität Bern wies darauf hin, dass trotz dieser Wülens-bekundung der internationalen Gemeinschaft, die kulturelle Vielfalt der Ausdrucksformen in der globalisierten Welt zu schützen, die Konvention selbst nur über wenig normative Kraft verfüge. Handelt es sich um eine Verpflichtung oder um einen blossen Slogan? Und welches ist das Verhältnis dieser Konvention zu anderen internationalen Abkommen? Die Fragen weisen auf die Schwierigkeit hin. den Begriff Vielfalt kultureller Ausdrucksformen so zu definieren, dass er eine griffige Gestalt bekommt, die es erlaubt, ihm im Spannungsfeld von Politik und Wirtschaft Gehör zu verschaffen. Eine der Schwierigkeiten besteht wohl darin, dass emer weltweiten Gleichschaltung der Kulturen eine stets wachsende Differenzierung innerhalb der einzelnen Staaten gegenübersteht. Mit der zunehmenden Globalisierung kultureller Ausdrucksformen zeigt sich als Kehrseite der Medaille eine starke Rückbesinnung auf lokale und regionale Kulturen. Das Problem einer nationalen und föderalistischen Kulturpolitik besteht dann, die beinahe mechanische Verknüpfung dieser beiden nur scheinbar gegensätzlichen Tendenzen aufzubrechen. Die Reaktion auf das Einebnen der kulturellen Differenzen durch weltweit operierende Firmen sowie durch einen internationalen Massentourismus darf nicht nur darin bestehen, die eigenen Sprachen und Kulturen einem musealen Schutz zu unterstellen. Denn im Museum befinden sich Gegenstände, die aus einem lebendigen Zusammenhang herausgerissen wurden. Dieser lebendige Zusammenhang muss immer von neuem überdacht werden. Dafür braucht es aber einen anderen Kulturbegriff als jenen, der vorgibt, Menschen hätten eine Kultur, würden in sie hineingeboren und seien zeitlebens Träger einer solchen. Die Dinge sind einiges komplexer Einer kann im Zürcher Oberland geboren sein, als Banker an einer kosmopolitisch ausgerichteten Kultur teilnehmen und trotzdem im Jassverein seines Dorfes noch ältere, lokal verankerte Formen derGesellig-keit pflegen. In den letzten 50 Jahren haben sich zwei verschiedene Formen von Reaktionen auf die Durchmischung der Kulturen und Völker ausgebildet. Der Position der eingeforderten Assimilation der Immigranten an eine bestehende Kultur steht jene des in den letzten Jahrzehnten vielleicht allzu hoch gepriesenen Multikulturalismus gegenüber. Gesucht: ein neuer Kulturbegriff Beide sind Ausdruck jenes fragwürdigen Kulturbegriffs, der die Menschen nach objektiven Eigenschaften einteilt, die sie scheinbar von der Geburt und der Ei Ziehung her in sich tragen. Im Zeitalter der elektronischen Kommunikation und der intensiven "Begegnung der Sprachen und Sitten gilt es, einen dynamischeren Begriff auszubilden, der Kultur als etwas versteht, das gemacht wird und einem ständigen Wandel unterworfen ist. Kultur ist kein naturgegebener Werteraster, sondern ein veränderliches, historisches Gebilde, das die Zugehörigkeit zu einer Gruppe sowie ein mit andern geteiltes Selbstverständnis vermitteln sollte. Müsste ich ein zentrales Merkmal der Schweizer Kultur nennen, so wäre es die gelebte Mehrsprachigkeit. Kultur, «culture» und «cultura» bezeichnen nur schembar dasselbe. Könnte jeder seine Sprache sprechen und würde er verstanden, so träten diese kulturellen Unterschiede anders, dynamischer an den Tag, als wenn sie blosser Gegenstand der Diskussion in emer Sprache sind. Die Schweiz hat sich bis anhin immer über die Mehrsprachigkeit definiert. Sie täte gut daran, dies auch in Zukunft zu tun. Marco Baschera ist T-tularprofessor für allgemeine und vergleichende Literatlirwissenschaft an dei Universität Zürich