Was war früher,  1. das Bedürfnis, ein Zeitzeugnis abzulegen, das authentisch Erlebte aus individueller Sicht festzuhalten und so vor dem Vergessen zu bewahren oder  2. das, das Bild einer Epoche mitzuprägen, sich selbst über seine Identität durch das autobiographische Schreiben mehr Klarheit zu verschaffen oder sogar eine Selbstrechtfertigung? Inwieweit können andere Ego-Dokumente^[1]^1 bzw. Quellen das in einer Autobiographie überlieferte Bild korrigieren? Wir nehmen an, das Leben würde die Autobiographie hervorbringen wie eine Handlung ihre Folgen, aber können wir nicht mit gleicher Berechtigung davon ausgehen, das autobiographische Vorhaben würde seinerseits das Leben hervorbringen und bestimmen? *‘Autobiography as Defacement’ (1979). Dt. Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel. In: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. (1993) Wie beeinflussen die Autobiographien unser Geschichtsbild? Hat Platon recht, wenn er eine umgekehrte Proportionalität zwischen der Zahl der Zeugnisse und der Aufmerksamkeit, die ihnen in der Gesellschaft gewidmet wird? Platon über die Schrift (Phaidros, König Ammon an Theut, den Erfinder der Schrift) Denn diese Erfindung wird in den Seelen derer, die sie erlernen, Vergeßlichkeit bewirken, weil sie ihr Gedächtnis nicht mehr üben; denn im Vertrauen auf Geschriebenes lassen sie sich von außen erinnern durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch sich selbst. Also hast du ein Mittel nicht für das Gedächtnis, sondern eines für die Erinnerung gefunden. Was aber das Wissen angeht, so verschaffst du den Schülern nur den Schein davon, nicht wirkliches Wissen. Denn da sie durch deine Erfindung vieles hören ohne mündliche Unterweisung, werden sie sich einbilden, vieles zu verstehen, wo sie doch gewöhnlich nichts verstehen, und der Umgang mit ihnen ist schwierig, da sie überzeugt sind, klug zu sein, es aber nicht sind." Goethe: Einleitung zur Dichtung und Wahrheit^[2]^2. Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hierzu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt daß man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein. Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält, oder ein ganze Reihe von Geschichten. – Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein, 45 Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu. Ödön von Horváth: Zur schönen Aussicht. 1926. Ada zu Christine. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie (Sammlung Metzler 323), Stuttgart / Weimar 2000 (mit Sammelbibliographie, 202-221). [3]1 Erinnerungen der Kollegen oder Famiienmitglieder, Tagebücher und Briefe vs. Strafprozessakten, Steuererhebungen, Einstellungsbefragungen, Bittschriften [4]2 „Das Problem jeder Autobiographie: der Betrachtende ist selbst der Betrachtete; er schreibt wie ein Epiker und ist selber die Hauptgestalt im Bilde.“(Trunz, Erich: Anmerkungen des Herausgebers. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Trunz, Erich. Bd. 9. München: Beck, 1974 S. 608)