JAN KEUPP/ROMEDIO SCHMITZ-ESSER (HG.) Neue alte Sachlichkeit Studienbuch Materialität des Mittelalters Jan Thorbecke Verlag durchaus kontrovers, vor allem aber sehr offen und konstruktiv über die materielle Kultur des Mittelalters nachgedacht werden konnte. Die Übersetzung der Manuskriptfassungen in das Format eines Sammelbandes wäre nicht ohne die tatkräftige Mithilfe des Jan Thorbecke Verlags und insbesondere seines Leiters Jürgen Weis gelungen. Zahlreiche Institutionen haben uns durch die Bereitstellung von Bildrechten unterstützt. Bildrecherche und Vorlektorat lagen in den Händen von Frau Theresa Rudolph, deren Engagement und Exaktheit uns mehr als einmal bewunderndes Erstaunen abgenötigt hat. Die Abrechnung der Kosten erledigten schließlich Frau Barbara Kober (München) und Frau Manuela Brück (Münster) mit routinierter Gründlichkeit. Ihnen und allen Beteiligten sprechen wir unseren sehr herzlichen Dank aus! Einführung in die „Neue alte Sachlichkeit": Ein Plädoyer für eine Realienkunde des Mittalters in kulturhistorischer Perspektive JAN KEUPP UND ROMEDIO SCHMITZ-ESSER „Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden, im Lande Mordor, wo die Schatten dröhn."1 Der hiermit für jeden Tolkien-Freund klar umrissene Ring entscheidet das Schicksal einer ganzen Welt; in diversen Ausfertigungen gibt es den ,einen' Ring für Fantasy-Fans zu kaufen und die Verfilmung des „Herrn der Ringe" durch Peter Jackson hat diesem Hype erst richtig Schwung gegeben. Solche magischen Ringe hat auch das Mittelalter hervorgebracht: Der Ring von Paußnitz, über den wir am Ende dieses Bandes noch nachdenken wollen, lässt sich ebenfalls als Replik an der Hand tragen.2 Doch mittelalterliche Objekte verfügen in der Regel nicht über eine beigegebene Prophetie wie diejenigen, die aus der literarischen Realie einen in seiner Sinngebung klar entschlüsselbaren Gegenstand machen. Dringend wird eine versachlichte Debatte über die materielle Kultur des Mittelalters in der Mediävistik benötigt und der vorliegende Band möchte dazu einen Beitrag leisten. Er soll Studentinnen und Studenten verschiedenster historischer Fachgebiete einen Leitfaden an die Hand geben, wie man kulturhistorische Studien mit und aus Objekten heraus schreiben kann. Dieser Band entstand als Ergebnis der Arbeiten des von den beiden Herausgebern geleiteten DFG-Netzwerks „Neue alte Sachlichkeit. Realienkunde des Mittelalters in kulturhistorischer Perspektive". Die hierin behandelten Objektbeispiele spannen dabei einen großen Bogen zwischen sehr verschiedenen Objekttypen: Es handelt sich - vom Kirchenkomplex bis zum Schmuckstein - um sehr große und sehr kleine Realien, die unterschiedlichste Stofflichkeit besitzen und sehr unterschiedliche Fundkontexte, Objektgeschichten und Aufarbeitungsgrade in der Mediävistik aufweisen. Nur eines haben die Objekte gemeinsam: Ihre dingliche Existenz muss gewährleistet sein; ein rein literarischer Gegenstand wie der Ring aus Tolkiens Mittelerde findet sich hier nicht. Allerdings betrachtet Achim Hack in seinem Beitrag ein Artefakt, an dessen Existenz im 15. Jahrhundert zwar kaum ein Zweifel bestehen kann, das aber nur mehr textuell überliefert wird und somit nicht mehr direkt sensorisch erfahrbar ist. Damit zeigt sich zugleich die methodische Vielfalt der Zugriffe, für die wir Leserinnen und Lesern mit dieser Einleitung ein zusätzliches theoretisches Rüstzeug bereitstellen möchten. Gerade durch die Vielfalt von Ansätzen und Exempeln hoffen wir, einen möglichst breiten Einblick zu gewähren, der eine eingehende Beschäftigung mit der materiellen Hinterlassenschaft des Mittelalters ermöglicht. Ein kulturgeschichtlicher Ansatz kombiniert mit 8 9 der Betrachtung eines Einzelobjekts steht dabei im Zentrum der hier vorgeschlagenen Herangehensweise. Die Frage nach dem kulturellen Wert, den eine Sache für die Erzählung mittelalterlicher Geschichte besitzt, fordert sogleich einen gewichtigen Widerspruch heraus: Die Beschäftigung mit .Realien' erweckt stets den Anschein der Naivität. Das Objekt biete, so etwa die Meinung von Mediävisten älteren Schlages wie Percy Ernst Schramm oder Ahasver von Brandt, einen direkten Blick auf das Mittelalter. Als Überrest sei es stets der verschriftlichten Historiographie, der intentional gefärbten Traditionsquelle, als Zeugnis der Vergangenheit überlegen. Wir möchten hier vorschlagen, diesem freilich unhaltbaren Urteil zwar keinesfalls zu folgen, zugleich aber die Naivität im Umgang mit dem Objekt als Hilfe bei der Fragestellung und beim Heben des kulturhistorischen Wertes des „Dings" kreativ zu nutzen. 11 ~" In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging das Interesse in der Mediä-visitk an Oberhaupt und Verfassung des Reiches allmählich zurück, während der Blick auf Sozialstruktur, Alltag und kulturelle Sinngebungen der Epoche Konjunktur erhielt. Auch das Dingliche hat hier nachgezogen, nachdem die Mittelalterarchäologie in den letzten Jahrzehnten entscheidende Fortschritte in methodischer und quantitativer Hinsicht gemacht hat.7 Mit dem Quantensprung der Nachbardisziplin stellt sich jedoch zunehmend die Frage, welche Folgen deren Funde und Befunde für die Geschichtswissenschaft haben werden. Gibt es also parallel zu den anwachsenden Beständen an bekannten mittelalterlichen Realien auch eine proportional zunehmende Erforschung der mittelalterlichen Sachkultur? Die Antwort lautet bedrückenderweise: nein. Im deutschsprachigen Raum besteht mit dem Institut für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit an der Universität Salzburg nur eine einzige außermuseale Forschungseinrichtung, die den Realien nachgeht und sie in übergreifender Weise zu strukturieren und zu verstehen sucht. Es freut uns deshalb ganz besonders, dass das Institut mit gleich dreien seiner Mitarbeiter an dem Projekt, dem dieser Sammelband entsprang, beteiligt ist. Unser Beitrag zur Versachlichung des Mittelalters „Wenn ein Objekt zu einem spricht, dann muss man sich ernsthaft fragen, was man am Abend zuvor geraucht hat" - dieses Zitat aus einer Debatte unseres Netzwerks „Neue alte Sachlichkeit" mag die Darstellungsabsicht dieses Einführungstextes in doppelter Weise offenlegen: Er reflektiert auf der einen Seite einen über zwei Jahre hinweg andauernden, oftmals kontroversen Diskussionsprozess, ohne ihn in seiner Komplexität und schillernden Aspektfülle auf ein streng lineares Anwendungsschema reduzieren zu wollen. Andererseits präsentiert er alles andere als einen Almanach arkaner Beschwörungsformeln, mit deren Hilfe den materiellen Relikten des Mittelalters auf wunderbare Weise vernehmbare Botschaften, authentische Stimmen der Vergangenheit, entlockt werden können. Nicht die überkommenen Artefakte sind der Adressat der folgenden Ausführung, sondern ihre Erforscher in Percy Ernst Schramm und die Prinzessin hinter der Dornenhecke Percy Ernst Schramm war in vielerlei Hinsicht ein Pionier mediävistischer Forschung. Seine Studien zu den Bildnissen der römisch-deutschen Herrscher, die ganz dem Zeitgeist entsprechend den Staat von seiner Führungsfigur her dachten, vollzogen bereits in der Vorkriegszeit einen ,iconic turn', während das unter dem Rubrum „Herrschaftszeichen und Staatssymbolik"angelegte große Forschungsprogramm der 1950er Jahresich in gewisser Weise in die Genealogie des ,perfbrmative' und .material turn' einordnen lässt.3 Doch nicht die Jagd nach immer neuen Wenden trieb ihn, auf unbekanntes Terrain vorzudringen, sondern eine tief sitzende Skepsis gegenüber der Subjektivität der Schriftquellen. Die Aussagen der Urkunden, Annalen und Akten des Mittelalters seien - ohnehin nur für den Augenblick geschaffen - stets durch die aktuellen Auffassungen ihrer Autoren hindurchgegangen und dadurch verzerrt. Die .Wortzeugnisse' der Epoche verwehrten daher die unverfälschte Sicht auf die Wirklichkeit des mittelalterlichen Staatswesens. „Es gibt jedoch eine Gattung von Zeugnissen, die es uns ermöglicht, die Scheidewand des Wortes zu durchstoßen", so glaubte der Göttinger Gelehrte erkannt zu haben.4 Realien seien unbestechliche Zeugen der Vergangenheit und daher dazu geeignet, die „Dornenhecke" subjektiver Deutungen zu durchdringen und den Blick auf „die Tatsachen selbst" freizugeben. Da im Lauf der Jahrhunderte „die Schlacken des Momentanen und Persönlichen" von ihnen abgefallen seien, würden sie einen Wesenskern historischer Wahrheit enthüllen.5 Doch schlummert hinter den Dornenranken tatsächlich eine verwunschene Prinzessin namens .Wahrheit', die mit der Hilfe der Realien aus ihrem tausendjährigen Schlaf geweckt werden kann?6 Wie objektiv sind die Objekte? Rein empirisch ist den Relikten des alten Reiches wenig Erhellendes zu entlocken. Das schlichte Zählen der Zacken einer Krone verrät nichts über die Qualität des durch sie repräsentierten Königtums. Die materiellen Dinge sind in derSchramm'schen Diktion in erster Linie .Denkmale' - alsoKristalli-sationskerne eines Nachdenkens über die Vergangenheit. Als solche luden sie die Zeitgenossen des Mittelalters ebenso zum interpretierenden Deuten ein, wie die modernen Vertreter der Mediävistenzunft. Die Reichskrone etwa, die ein Walther von der Vogelweide besang, ein Johann Wolfgang von Goethe verspottete und ein Percy Ernst Schramm erforschte, stellt sich im Licht der jeweiligen Texte völlig anders dar. Ihre Gestalt ist dabei niemals eine objektiv gegebene, sie ist mindestens ebenso sehr aus poetischen Gedankenfäden gesponnen wie aus geschmolzenem Gold gefertigt. Doch sind es gerade diese subjektiven 5innwelten, zu denen eine kulturgeschichtlich betriebene Realienkunde vorstoßen will. der Gegenwart. Mit Immanuel Kant wagen wir „anzunehmen, [dass] die Gegenstände [...] sich nach unserer Erkenntnis richten [müssen]"-und nicht etwa unsere Erkenntnis nach den Gegenständen.8 Unter dieser Prämisse gebührt dem erkennenden Subjekt und seinem gedanklichen Rüstzeug, „gleichsam die Sonne, durch ■» 10 11 14 15 -e Tragegefühl seine schlussendliche Abkehr von der Denimhose, die seinen wissenschaftlichen Denkprozess beenge. Mit einem analytischen Blick bedacht führt das Selbstexperiment den Semio-tiker zu der Einsicht, dass die physisch erfahrbare Relation zwischen Objekt und Besitzer nicht nur eine persönlichkeitsverändernde, sondern gar eine weltgeschichtliche Wirkung zeitigen könne: „So begann ich darüber nachzudenken, welchen Einfluss die Kleidung als Rüstung im Verlauf der Zivilisationsgeschichte auf die Haltung und damit auf die äußere Moral gehabt hat. Der viktorianische Bourgeoiswar steif und pedantisch wegen des steifen Stehkragens."41 Der äußere Druck der Kleidung führe zur Knechtschaft des Geistes unter der Knute gesellschaftlicher Zwänge. Der freie Denker habe in jedem Stadium der Weltgeschichte solch ein Korsett von Körper und Verstand verabscheut und weite Röcke und Kutten bevorzugt. Die Jeans hingegen sei kein Zeichen der Freiheit und Selbstbestimmtheit, sondern Werkzeug der auf perfide Weise im Physischen implementierten Repressionsgewalt sozialer Normvorgaben. Sprache und Materialität verfugten offenkundig beide als semiotische Mechanismen über die Macht, sinnhafte Wirklichkeit zu erzeugen und zu strukturieren - letztere sogar „sehr viel physischer als die Consecutio temporum oder der Konjunktiv"42. Was Umberto Eco sozusagen im Namen der Hose formuliert hat, besitzt trotz seiner Kurzweiligkeit eine über die historische Kleiderforschung hinausweisende Erklärungskraft. Die mentale Macht des Materiellen lässt es unumgänglich erscheinen, Kulturgeschichte nicht mehr allein auf der Ebene von Texten zu betreiben. Wird mit der Enge der Jeans nicht eine sinnlich erfahrbare, jenseits des Zeichensystems der Sprache liegende Existenzebene sichtbar? Produziert sie nicht konkrete Praktiken, die das Denken und damit den kulturellen Kontext beeinflussen? Eco selbst sollte in seinem späteren Schaffen dieses materielle Sein vor allem als widerständiges Element auffassen, als dem arbiträren Spiel der Zeichen gegenüber resistenten und regulativen „harten Sockel" der Realität.43 Epistemologisch ließe sich dieses Verhältnis von empirischer Wahrnehmung und Bedeutungszuweisung durchaus auch weitergehend fassen: Im dualistischen Sinne der Kantischen Kritik postuliert werden könnte ein symmetrisches Zusammenspiel zwischen dem aus der Wahrnehmung stammenden unbestimmt „Mannigfaltigen" und der ordnenden Kraft des Verstandes: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind", so Kants griffige Maxime44, die der Kulturphilosoph Ernst Cas-sirer durch die Feststellung noch pointierter reformulierte: „dass Begriffe ohne Anschauung leer sind"45. Wie Bedeutung nicht ohne empirische Bezugsbasis erwachsen könnte, so würde sie sich selbst stets von neuem ein „bestimmtes sinnliches Substrat erschaffen"46. Die Wechselbeziehung zwischen Sinn und Sinnlichkeit, sprachlichem Ausdruck und materiellem Substrat, ließe sich somit als eine symbi-otische beschreiben: Das Mentale bemächtigt sich des Materiellen, indem es Dinge formt und überformt, so wie es umgekehrt ohne das Materielle weder Bezugspunkt noch Medium des Ausdrucks hat. Beide Elemente laufen im konkreten Akt des Handelns mit und aufgrund von Artefakten zusammen. Dinge, so ließe sich daher mit Andreas Reckwitz folgern, sind nicht „auf Phänomene des ,Sinns' und des .Codes' zu reduzieren". Sie sind vielmehr „notwendige Bestandteile sozial-kultureller Praktiken, in denen sie effektiv wirken und in denen mit ihnen umgegangen wird."47 Eine Wende zum Materiellen hätte also die lang vernachlässigte Seite des Gegenständlichen als einen Angelpunkt der Analyse zu wählen, ohne umgekehrt die Zeichenebene der Texte, Begriffe und Diskurse zu vernachlässigen, durch welche die historische Dimension der Dinge erst vermittelt und vermittelbar wird. Sie hat schließlich die Praktiken des Austausches zwischen Materialität und sozialem Sinngefüge zu berücksichtigen, die reziproken Akte der geistigen und physischen Aneignung. .Kultur' vollzieht sich, zumal sie keine statische Größe darstellt, in einem intersubjektiven Prozesses des Deutens und Aushandelns, der Dinge und soziale Akteure gleichermaßen einbezieht. Das handlungsleitende Bedeutungsgefüge einer Gesellschaft ergibt sich nicht zuletzt aus dem spezifischen, stets veränderlichen Arrangement von Menschen und ihren Artefakten. Wie die soziale Welt sich ihre Objekte schafft, so formen die Objekte umgekehrt ihre gesellschaftliche Umwelt. Mit Herbert Blumer ließe sich schlussfolgern: „Das Leben und das Handeln von Menschen wandeln sich notwendigerweise in Übereinstimmung mit den Wandlungen, die in ihrer Objektwelt vor sich gehen."48 Eine kulturhistorisch betriebene Realienforschung bietet also einen Zugang, über die Betrachtung der Dinge zu neuen Sichtweisen auf die Menschen des Mittelalters zu gelangen. ~> 18 — Mediävistische Wege zur Materialität Der im Sommer des Jahres 1816 entworfene „Berliner Plan für Deutsche Geschichte" ist in einem entscheidenden Punkt gescheitert. Zwar führte die Initiative des Freiherrn vom Stein zur Gründung einer Gesellschaft „zur Herstellung einer Gesammtausgabe der besten Quellenschriftsteller deutscher Geschichten des Mittelalters", die unter dem Namen Monumenta Germaniae Historica bis heute fortbesteht.51 Unrealisiert blieb hingegen das Vorhaben, „außer der Sammlung von historischen Quellen, die geschrieben vorhanden sind", auch nichtschriftliche Zeugnisse der Vergangenheit wie Kunstgegenstände, Gebäude, landwirtschaftliches Gerät und Werkzeuge in „Zeichnungen oder Modellen" editorisch zu erfas-sen.sz Die Hinansetzung dieser Zielvorgabe trug vermutlich dazu bei, dass die Dinge des Mittelalters in der textorientierten historischen Fachdisziplin, von Schramms Insignienkunde abgesehen, lange Zeit ohne Heimat blieben. In der Kunstgeschichte konnte sich hingegen das Konzept einer „Realienkunde" durchsetzen, die von „Kulturkunde (...) scharf zu sondern"53 sei: Empirieorientiert sieht sie sich der Erfassung gelebter .Wirklichkeit' auf den Bildwerken des Mittelalters verpflichtet: „Daß die Mausefalle, die St. Joseph gerade gefertigt hat, eine theologische Aussage macht, kann für die Realienkunde außer Betracht bleiben, die sich für die Mausefalle als Mausefalle interessiert", konstatierte zuletzt Bernd Roeck.54 -> 16 17 <- Symbolischer Interaktionismus, oder: Der soziale Sinn eines Stuhls Der durch Georg Herbert Mead und Herbert Blumer begründete symbolische Interaktionismus'begreift sich als vermittelnde Position innerhalb der Polarität von Realismus und Idealismus. Bedeutung sei den Dingen nicht als unabänderliche Eigenschaft in ihre physische Struktur eingeschrieben, so dass „ein Stuhl eindeutig von sich aus ein Stuhl'"19 sei. Sie würden aber auch nicht einfach von außen als substanzlos-fiktionale Fremdzuschrei-bung an das Objekt herangetragen. Vielmehr bedürfe es der unmittelbaren Begegnung zwischen Artefakten und gesellschaftlichen Akteuren, um den formenden Prozess der Sinnzuweisung in Gang zu setzen. Die Grundannahmen dieses Deutungsmodells sind dankenswerterweise bewusst einfach und schematisch gehalten: „Die erste Prämisse besagt, daß Menschen Dingen gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen (...). Die zweite Prämisse besagt, daß die Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht. Die dritte Prämisse besagt, daß diese Bedeutungen in einem interpretativen Prozeß, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert werden"50 Reizvoll erscheint auf der einen Seite, dass ein .realer" Eigensinn der Objekte, die durch ihre vielleicht physische, sicher psychische Präsenz am Sinngebungsprozess partizipieren, als Anknüpfungspunkt ausdrücklich erhalten bleibt. Andererseits zieht der Denkansatz sowohl gesellschaftliche Großgruppen als auch Individuen als Akteure in Betracht. Zwar dient die intersubjektive Zuweisung von Bedeutungen in erster Linie dazu, kollektives Handeln im sozialen Raum zu koordinieren. Handlungsträger bleibt gleichwohl das jeweilige Subjekt, das sich in konkreten Situationen sinndeutend mit dem Objekt auseinandersetzt. So mag ein Stuhl eben je nach Kontext Sitzmöbel oder Kunstgegenstand sein. Letzteres wird er vor allem dann, wenn mehrere Mitglieder einer Gesellschaft ihm gemeinschaftlich diesen Kult(ur)status zuweisen. Ersteres kann er wieder sein, wenn ihm diese Bedeutung von einzelnen Ignoranten oder ganzen Kunstgemeinden bestritten wird. Von solch einem positivistischen Programm setzte sich das 1969 gegründete „Österreichische Institut für Realienkunde des Mittelalters" zu Recht deutlich ab: „Realienkunde beschäftigt sich nicht nur mit dem schieren Vorhandensein des Dinges, sondern auch mit den verschiedensten Kontexten in sozialen Situationen und Quellen", so formulierte es sein früherer Direktor Kail Brunner.55 Von Historischer Anthropologie und Alltagsgeschichte inspiriert, wollte man nicht beim antiquarischen Sammeln und Katalogisieren verharren, sondern kam zu dem Schluss, dass „Sachgüter nicht nur eine .körperliche', sondern auch eine .geistige' Seite" besäßen.56 Der Realienbegriff erfuhr daher eine beträchtliche Erweiterung, so dass er explizit „nicht nur Konkreta sondern auch Abstrakta"57 mit einschloss und folglich materielles wie geistiges „Kulturgut" gleichermaßen erfasste.511 Die Mausefalle wür- de auf diese Weise als Gegenstand vervielfältigt: Für den Gebildeten stünde sie in Anlehnung an den Kirchenvater Augustinus für die Zwangssituation, in die der Teufel durch die Erlösungstat Christi geraten sei [muscipula diaboliä).m Aus der Perspektive des ungelehrten Betrachters würde der Heilige hingegen vielleicht als treusorgenden Hausvater erscheinen, die,Realie' wäre ihm Zeichen für handwerkliches Können und vorausschauende Ökonomik. Als Folge dieser kulturhistorisch erweiterten, letztlich auf eine .histoire totale' abzielenden Realienkonzeption ist allerdings das Verblassen der Konturen von Materialität und Mentalität, von Objekt und sozialer Sinngebung, zu konstatieren. Wenn in der Konsequenz heute „Profil und Methodik" der historischen Teildisziplin „unscharf erscheinen60, so besitzt dies sicherlich mit Blick auf die Vielfalt der zu erforschenden Wechselbeziehungen zwischen Menschen und Objekten seine Berechtigung. Die aktuelle Wende zur Materialität bietet allerdings die Chance, die Dinge selbst wieder konsequent zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen. Der in diesem Band eingeschlagene Weg versteht sich indes nur als eine mögliche Variante, die zur Nachahmung einlädt, keinesfalls aber einen Anspruch der .Alternativ -losigkeiť erheben möchte. Die Prämisse, ein Einzelobjekt ins Zentrum der Untersuchung zu rücken, stellt keine Selbstverständlichkeit dar. Als Gegenkonzept existiert eine lange Tradition serieller Untersuchungen von Objektgruppen und -typen. Eine Annäherung auf einer breiteren Materialgrundlage scheint einen verlässlichen Zugang zur Makro -ebene semantischer Strukturen, zu Kulturströmen und Mentalitäten zu bieten. Dennoch birgt sie auch Gefahren: Serielle Analysen setzen notwendig eine Taxonomie der Dinge voraus, ein Verfahren der Vereinheitlichung. Dies könnte auf den Spuren der französischen Annales dazu führen, das Detail zu eliminieren, um das Außergewöhnliche zugunsten des Banalen, das Besondere zugunsten des Allgemeinen des Alltags zurückzudrängen.81 Der vorschnelle Zug zur Generalisierung und Abstraktion führt letztlich erneut in eine Aporie des Gegenstandslosen. Daher wollen wir Realienkunde von jeweils ganz konkreten Artefakten ausgehend betreiben.62 Obgleich die Objekte selbst nicht zu uns sprechen, tragen sie doch in doppelter Hinsicht zur gedanklichen Vergegenwärtigung der Vergangenheit bei. Einerseits vermögen sie in ihrer physischen Präsenz tatsächlich unsere Sinne zu „affizieren" und damit Interesse für bestimmte Forschungsgegenstände zu wecken.63 Dem stummen Dialog zwischen dem Historiker und seinen Quellen erwachsen neue Fragestellungen und Erkenntnishorizonte. Andererseits dient das Objekt als künstlicher Fixpunkt der Vergangenheitsbetrachtung, der den Fokus der Analyse lenkt und Verknüpfungen zwischen verschiedenen Sach-Verhalten herstellt. Ihre stets standortgebundenen .Erscheinungsformen' werden in idealtypischer Manier zu Hilfsmitteln einer „denkenden Ordnung der empirischen Wirklichkeit"64. Narrative der historischen Forschung lassen sich auf diese Weise am konkreten Beispiel nachvollziehen, modifizieren oder gar neu konstruieren. Metaphorisch ausgedrückt sind die Objekte Wassertropfen, in deren Oberfläche sich die schillernde Vielfalt der geschichtlichen Welt spiegeln und betrachten lässt. -» 20 — -» 18 19 <- I mundus in gutta - Die Welt im Wassertropfen1 Abb. 1 Der Blick in den Wassertropfen des Objektes. Zeichnung von Theresa Rudolph Mittelalterliche Kosmologien mögen den Historiker Hermann Heimpel zu diesem prominenten Sprachbild inspiriert haben. Es ist ein Bekenntnis zum mikrologischen Blick: In der gekrümmten Oberfläche eines winzigen Wassertropfens spiegelt sich die ganze Weite des Weltrundes. Das Allgemeine wird somit durch seine Reflexion im Besonderen für den Betrachter auffindbar und beschreibbar. Heimpel verknüpfte dies mit der Hoffnung, zumindest „an einzelnen Stellen eine echte Begegnung mit der geschichtlichen Welt zu haben"66 Der Blick auf den Mikrokosmos historischer Artekfakte kann kaum authentische Projektionen der Vergangenheit heraufbeschwören. Die Welt des Mittelalters ist gerade nicht im Wassertropfen selbst enthalten, auch wenn das Objekt als Produkt seiner Zeit zweifellos zahllose Facetten historischer Wirklichkeit' in sich vereint. Es bleibt für den moderner Betrachter daher nur ein mittelbarer 5piegel. In diesem Sinne vermag seine Untersuchung aber zumindest beschränkte Bildausschnitte wiederzugeben, perspektivisch verzerrt und gebrochen nach den Gesetzen der Optik und zugleich gebunden an den subjektiven Standort des Bearbeiters. Trotz allem wirkt dieser stark facettierte Blick erkenntnisfördernd. Aus der spezifischen Konstellation von Einzelobjekt, Kontext und Betrachter heraus lassen sich neue Sichtweisen und Perspektiven auf die Vergangenheit gewinnen, werden mithin also unbekannte historische Teilwelten im Wassertropfen sichtbar gemacht. Als Zugang zu den Artefakten Hegt diesem Band ein analytischer Dreischritt zu Grunde, bestehend aus einer Abfolge komplementärer Perspektivenerweiterungen. Er geht (1) von der .Geschichte des Objektes', seinen qualitativ und quantitativ fassbaren Eigenschaften in ihrer historischen Genese aus. Die anschließende ,Geschichte im Objekt' sucht (2) die Diskursstränge und Wissensformationen freizulegen, die dem Gegenstand im Zuge seiner Erschaffung und Verwendung seine spezifische Gestalt verliehen haben. Schließlich soll (3) eine ,Geschichte aus dem Objekt' die „spezifische .Effektivität' eines Artefakts, d.h. seine .Wirkung' auf menschliches Handeln"67 und Deuten in den Blick nehmen und nach Wechselwirkungen zwischen Artefakt, konkreten Praktiken und sozialer Sinngebung fragen. Die Arbeit des Netzwerks hat den Nutzen dieses Schemas vielfach bestätigt, aber auch seine Schwächen offenbart: Nicht immer ist eine strikte Scheidung der drei Analyseschritte möglich und sinnvoll. Zudem ist unter Berücksichtigung der Materialgrundlage ein ausbalanciertes Verhältnis der einzelnen Untersuchungsabschnitte kaum zu gewährleisten. Kritisieren ließe sich ferner das konventionelle Design eines Zugriffs, der die kategoriale Trennung zwischen Objekt und Gesellschaft, unbelebten Dingen und humanen Akteuren, fortschreibt. Herausgeber und Beiträger dieses Bandes bekennen sich diesen berechtigten Einwänden zum Trotz zu einem gewissen Pragmatismus, einer offen praktizierten .simplicitas'. -> 22/23 Die Methode Bommel, oder: Simplify Your Science „Ach, daß die Einfalt, daß die Unschuld nie / sich selbst und ihren heil'genWert erkennt!" J.W. von Goethe70 „Wat is en Dampfmaschin? Da stelle ma uns mal janz dumm ..." Die unorthodoxe Pädagogik des Lehrers Bommel aus der „Feuerzangenbowle" hat Filmgeschichte geschrieben. Ihre methodische Substanz blieb hingegen weitgehend unhinterfragt. Künstliche Naivität als Mittel der Erkenntnis? Wird hier ein Fetzen der Phänomenologie Edmund Husserls greifbar, durch eine „eidetische Reduktion" - das Einklammern allen theoretischen Vorwissens - beschreibend „zurück zu den Sachen selbst" zu gelangen?71 Aus mediävistischer Perspektive jedenfalls befindet sich der kauzige Pauker in ehrenwerter Gesellschaft. Ausgehend vom Kirchenvater Hieronymus galt die Heilige Einfalt (sancta simplicitas) den Theologen des Mittelalters als Gegenpol zur gelehrten Weltklugkeit und damit als probates Mittel der Gotteserkenntnis, als Weg zum unverstellten Blick auf die Wahrheit und Wahrhaftigkeit des Allerhöchsten.72 Anerkannte Lehrautoritäten wie Petrus Damiani, Bernhard von Clairvaux oder Franz von Assisi entwickelten geradezu eine Theologie der Unvoreingenommen-heit. Ihr Loblied auf die heilige Einfalt darf gleichwohl nicht als Hymnus auf Dummheit, Ignoranz und geistige Trägheit missverstanden werden: Vielmehr diente die -> 20 21 «- Erwin Panofskys Dreischritt und dergefehte Mantel aus dem Palazzo Davanzati Nicht frei von Konvention ist der Versuch, sich dem Gegenstand der Untersuchung in einem Dreischritt zu nähern. Jeder Novize der Bildwissenschaften lernt früh die Einteilung kennen, die einer der einflussreichsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts als methodische Vorgabe entwickelte. In seinen „Studies in Iconology" empfahl Erwin Panofsky ein dreistufiges Modell der Erforschung von Kunstwerken: Die vorikonographische Beschreibung, die Ikono-graphische Analyse und die Ikonologische Interpretation.68 Während man im ersten Schritt das Dargestellte möglichst ohne Vorannahme ansieht, um dargestellte Formen und Objekte zu erkennen, stellt die Ikonographie die Lesekunst der Kunsthistoriker auf die Probe: Welcher Heilige ist hier gezeigt, wenn der abgebildete Mann eine Mitra trägt, in einen entsprechenden Ornat gekleidet ist und ein Pedum und einen Fisch in der Hand hält? Nur das kontextuelle Wissen um die historischen Konventionen der Darstellung ermöglicht die Identifizierung des Heiligen Ulrich. Am komplexesten ist jedoch die Frage, warum und mit welcher Intention bestimmte Bildinhalte dargestellt werden und was sie über die Welt ihrer Epoche erzählen können, kurz: welcher ikonologische Gehalt der Darstellung eigentlich zukommt Ein kleiner gedanklicher Sprung ins Florenz des 14. Jahrhunderts kann das illustrieren: Wandmalereien im zweiten Stockwerk des Palazzo Davanzati zeigen unter weit offenen 5cheinarkader einen Mann und eine Frau, die links gemeinsam ein Schachspiel vor sich haben, während rechts die Dame den Mann umschlungen hält und ihm einen Kuss auf die Wange gibt.59 Obwohl die meisten Betrachter die Geschichte einer Liebschaft recht problemlos erkennen werden, wird doch nur ein Kenner der mittelalterlichen Literatur darauf kommen, hierin einen Teil der Geschichte der „Chästelaine de Vergy", eines französischen Romans des 13. Jahrhunderts zu entdecken. Doch selbst nachdem wir vorikonographische Betrachtung und ikonographische Deutung an der Hand haben, bleibt doch unklar, warum gerade diese literarische Vorlage in einem Florentiner Bürgerhaus die Wand zierte. Die Lösung mag sein, dass die unglücklich verlaufende Liebesgeschichte sich direkt auf den Entstehungsanlass der Malereien bezog: Sie waren 1395 anlässlich der Hochzeit des Tommaso Davizzi und der Caterina Alberti angefertigt worden; vielleicht sollten sie dem Hochzeitspaar die Risiken amouröser Eskapaden vor Augen führen. Ganz sicher aber handelte es sich um eine Ausstattung, die Bildungsgrad und patrizisch-adeligen Anspruch der beiden Florentiner aus gutem Hause eindrücklich ins Bild setzte. Nicht nur war die Kenntnis des Romans eine Voraussetzung für die umfassende Rezeption des Bildes; die in höfischem Umfeld spielende Szenerie machte es zugleich möglich, Elemente adeligen Lebensstils im Bild zu spiegeln: Die Decke der Arkaden ist von goldenen Lilien auf blauem Grund geziert und die polygonale Struktur der Kleidung des Paares (in Form der heraldischen „Feh") verweistauf deren verschwenderischen Pelzbesatz. Verortet die Fleurde Lys die Handlung geographisch in Frankreich, legen die stilisierte Feh und das Schachspiel das adelige Milieu der Handlung fest und steckten damit einen Sinnbezirk ab, an dem die Auftraggeber Anteil hatten oder zumindest erstrebten. Der komplexe Entschlüsselungsvorgang mittelalterlicher Kunst im Panofsky'schen Schema, dessen Ergebnis im Idealfall mit der ursprünglich vom Künstler beabsichtigten Botschaft zusammenfällt, begünstigte bereits im Mittelalter eine Erstarrung der Formen, wie das Beispiel aus dem Palazzo Davanzati mit seinen heraldischen Anspielungen zeigt; die Realien können sich damit von ihrer tatsächlichen Materialität im Bild mitunter erheblich entfernen. Methodisch ist der kunsthistorische Dreischritt jedoch nicht nur auf Kunstwerke anwendbar, sondern zugleich auf Objekte beziehbar; dies ist ein wichtiger Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen. bewusst herbeigeführte Einfalt der gedanklichen Fokussierung auf das Erkennt-nisziel. Als eine Form der akademischen Askese strebt sie die Ausblendung der sich aufplusternden Wissenschaft [sciencm inflans13) an - jener in esoterischem Fachjargon gehaltenen Elogen eitler Erudität also, die damals wie heute den Blick auf das Wesentliche verstellen. In dieser reinigenden Hilfsfunktion konnte die pura sancta simplicitas schließlich die Schwester der sancta sapientia genannt werden.74 Wiewohl sich die historischen Disziplinen gegenwärtig nicht mehr als reine Wahrheitswissenschaften definieren, lässt sich das epistemologische Grundproblem doch in die Moderne fortschreiben: Verstellt nicht gerade die geschulte Gelehrsamkeit mit ihren festgefügten Denkkategorien den sachgerechten Zugang zum Erkenntnisgegenstand? Reproduziert das .zünftische' Arbeiten innerhalb etablierter akademischer Wissenskartelle gar unsere eigenen Fachperspektiven und Erklärungsmodelle unentwegt in einer wiederkehrenden Schleife professioneller Selbstverliebtheit? Muss daher nicht tatsächlich die praktisch angewandte Empirie stets der abstrakten Theoriebildung vorausgehen? Das mag sich die Leserin oder der Leser bereits bei mehreren der zahlreichen zuvor genannten theoretischen Zu- gänge gefragt haben. „The proof of the pie is in the eating", wie Hans-Ulrich Wehler, ein bekanntes englisches Sprichwort bemühend, treffend bemerkt.75 Apologeten der „Methode Bommel" finden sich gerade unter den Referenzgrößen einer kulturhistorisch inspirierten Realienforschung. Erwin Panofsky etwa ermutigt mit seiner vorikonographischen Analyse dazu, in der allseits bekannten Geste des Hutziehens noch keinen freundlichen Gruß, sondern „nichts als die Veränderung gewisser Einzelheiten innerhalb einer visuellen Konfiguration" zu erblicken. Von diesem Punkt aus müsse der Vorstoß zur „eigentlichen Bedeutung" der Dinge vorurteilsfrei seinen Anfang nehmen.76 Der Soziologe Ulrich Oevermann empfiehlt den vorübergehenden Verzicht auf „vorgängiges fallspezifisches Kontext -und Hintergrundwissen"". Der Untersuchungsgegenstand solle als „eigenständiges Wirklichkeitsgebilde"78 ernst genommen werden, unwissende Offenheit dem Erkenntnisprozess systematisch vorgeschaltet sein. Mit der Parole „context stinks" entfaltet schließlich Bruno Latour, der derzeit einflussreichste Impulsgeber eines ,material turn', sein Programm theoriearm-empirischer Entdeckungsreisen.79 Latours Anliegen, die Dichotomie von Subjekt und Objekt aufzuheben, sieht eine strikte Unparteilichkeit gegenüber sozial- und naturwissenschaftlicher Modell- -> 22 23 bildung gleichermaßen vor. Damit der eigene Ansatz nicht gleichfalls unter die Kategorie des Sozialkonstruktivismus fällt, gelte es, in erster Instanz möglichst einfache, unwissenschaftliche Aussagen zu formulieren, die auf „flachen", wenig arti-fiziellen Theoremen beruhen. Durch die konsequente Beschreibung des empirisch Beobachtbaren würden sich die Zusammenhänge in der Folge wie von selbst erschließen: „Die Erklärung erscheint, sobald die Beschreibung gesättigt ist."80 Erfolglos habe man bislang mehr Energie in die selbstreferentiellen Kapriolen der Theoriebildung als in die zu erforschende Welt selbst investiert: „Auf hundert Bücher voller Kommentare und Argumente kommt nur eines mit einer Beschreibung".81 Die Devise müsse daher lauten, zunächst rein deskriptiv zu den Dingen vorzustoßen und „sämtliche apriorischen, also der Beobachtung vorausgesetzten Annahmen"61" beiseite zu lassen: „Wir sind im Beschreibungsgeschäft. Alle anderen handeln mit Klischees", so schreibt der Soziologe es einem fiktiven Studenten ins Stammbuch.82 Im Verzicht auf Vorannahmen also bestehe „das Programm, das den Wissenden von der Bühne stößt. Weg mit Kant! Weg mit der Kritik! Lasst uns zu der nach wie vor unbekannten und verachteten Welt zurückkehren."83 Latours kämpferische Unbekümmertheit hat seine Ursache in dem Bemühen, den an sich sprachlosen Dingen im gesellschaftlichen Diskurs eine eigene Stimme zu verleihen. Doch erscheint sein Enthusiasmus ein wenig wie Don Quichotes Anrennen gegen Windmühlen epistemologischer Gewissheit. Zu übermächtig und monumental prangt Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft am Firmament moderner Erkenntnislehre. Einer ihrer Kernsätze erklärt das „Ding an sich" für den forschenden Verstand als unsichtbar. Das erkennende Subjekt könne keinesfalls die absolute physische und psychische Qualität eines Gegenstandes erfassen, sondern nehme sie nur als rationalisiertes Gedankengebilde, als Erscheinung seines Geistes'wahr. Die Empirie real existierender Dinge vermöge zwar die Sinne zu ,affi-zieren', die daraus gewonnene Erkenntnis aber richte sich „nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens (...) weil die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt"84. Erst ein profundes geistig-theoretisches Rüstzeug macht es folglich möglich, Dinge einzuordnen und gedanklich zu vergegenwärtigen. Forschen ohne ein apriorie bestehendes Kategorien- und Begriffssystem bleibe hingegen ein „bloßes empirisches Herumtappen"85. In jeder „Tatsache", so lässt sich mit Max Weber treffend resümieren, steckt vorgängig also „Theorie"86. Die sich gegen Kant und seinen Kritizismus abzeichnende „Kopernikanische Gegenrevolution" sollte demnach besser ausfallen87. Der Historiker vergibt sich sein wichtigstes Erkenntnisinstrument, sobald er den eigenen Theorie- und Inter-essenshorizont bewusst ignoriert. Wer voraussetzunglos zur Erkenntnis gelangen wolle, so Charles Darwin, gleiche am Ende jenem Geologen, der ohne Sinn und Verstand „in eine Kiesgrube steigt, die Kiesel zählt und ihre Farben beschreibt".88 Die künsüich erzeugte sancta simplicitas würde auf diese Weise zur reinen Narrheit. Gerade jedoch, weil sich die „Gegenstände nach unserem Verstände" richten, bleibt eine strikte Kontrolle der theoretischen Komponente höchstes Gebot. Än- dern die Dinge je nach Perspektive und Fragestellung ihres Betrachters Gestalt und Erscheinungsbild, so bleibt der individuelle Standort des forschenden Subjekts die einzig beherrschbare Basis des Erkenntnisprozesses. Beherrschbar ist sie jedoch nur, solange der Verstand innerhalb handhabbarer gedanklicher Parameter operiert. Diese Handhabbarkeit für den Bearbeiter schließlich muss mit der Nachvollziehbarkeit für potentielle Rezipienten korrespondieren. Was von der „Methode Bommel" übrigbleibt, ist auf der einen Seite die Warnung vor einem allzu raschen Rückgriff auf Makromodeile und Meistererzählungen. Latours Aufruf zu .flachen' Theorien ist dem auf nur vier apriorische Kategorien des Verstandes reduzierten Erkenntnisapparat seines Kontrahenten Kant in dieser Hinsicht erstaunlich eng verwandt. An dieser Einsicht kranken manche der neueren Entwürfe zur historischen Materialität, indem sie sich äußerlich ins Gewand einer geistig-theoretischen Wende der Kulturwissenschaften kleiden. Der in diesem Band verfolgte methodische Dreischritt mag demgegenüber tatsächlich von einer gewissen simplicitas geprägt sein, die seiner Anwendbarkeit und Handhabbarkeit zu Gute kommen soll. Mit einem guten Maß an pragmatischem Enthusiasmus lässt er die umkämpften Frontlinien des aktuellen Materialitätsdiskurses hinter sich. Auf der anderen Seite verfolgt er, wie der alte Bommel, eine spezifische Strategie der Narration: Denn auch der Lehrer ist ja nicht eigentlich „dumm", er stellt sich nur so. Aus der Black-Box des Objektes, dem „jroße schwarze Raum der Dampfmaschin", lässt er so ganz allmählich ein differenziertes Gedankenbild erwachsen. Sein didaktisches Prinzip ist es, seine Schüler Schritt für Schritt am Erkenntnisgewinn und der gelehrten Entfaltung von Komplexität teilhaben zu lassen. Es spricht vieles dafür, in dieser Kauzigkeit Klugheit zu erblicken. Beschreibend vom konkreten Objekt auszugehen und erst in den Folgeschritten die Perspektive auszuweiten, war uns bei der methodischen Konzeption dieses Bandes daher ein elementares Anliegen.89 26 — 1. Schritt: Geschichte des Objekts Sammeln, sichten, sortieren: Der erste Schritt jeder Annäherung an das Objekt besteht in der möglichst präzisen Erfassung seiner äußeren Gestalt und deren Genese. Geklärt werden müssen materielle Zusammensetzung, Formgebung und Erhaltungszustand, mögliche Bearbeitungsstufen und Phasen der Überlieferung. Im Idealfall sind Informationen zur Technologie der Herstellung, der Typologie der Objektgruppe und ihrer geographischen Verbreitung heranzuziehen und im interdisziplinären Rahmen Expertisen einzuholen. Das vorderhand stupide Sammeln von Objektdaten ist weder banal noch zweckfrei. Ziel muss es sein, alle greifbaren Partikel als potentielle Ansatzpunkte einer späteren Interpretation verfügbar zu machen, ohne vorgängig eine Selektion nach Kriterien der Relevanz vorzunehmen. Auf diese Weise lassen sich Zirkelschlüsse effektiv vermeiden: Der akribische Blick auf das Detail schützt davor, eige- -» 24 25 <- Affordanz oder der,Eigensinn' der Kaffeetasse Wer den Namen des Unholds kennt, der bricht seine Macht und nimmt ihm den Schrecken. Dieses traditionelle Märchenmotiv hat längst auch wissenschaftlich Schule gemacht: Eine geschickte Begriffsbildung kann komplexe Sachverhalte gedanklich reduzieren und somit beherrschbar machen. Ein solches Zauberwort lautet .Affordanz'.30 Es domestiziert eine Streitfrage, die im Rahmen des Netzwerkes konträre Standpunkte offenbart hat: Enthalten Dinge Dispositive? Inwieweit sind ihrer Form und Substanz im Zuge ihrer Herstellungfeste Handlungsskripts einprägt worden? Geht man unter Ausschluss soziokultureller Faktoren davon aus, dass die Form streng der Funktion und diese wiederum der menschlichen Physis folgt, so wäre eine Kaffeetasse „an sich" zum Gebrauch als Trinkgefäß bestimmt Selbstverständlich aber lässt sie sich jederzeit auch anders verwenden: Als Briefbeschwerer, Blumentopf oder Kuchenform. Ohne Kultur wäre sie als Tasse gegenstandslos. Andererseits: als Schreibgerät oder Sitzmöbel ist sie kaum geeignet Offenbar vereinen sich in ihr untrennbar objektiv-physische und subjektiv-kulturelle Eigenschaften. Der Begriff der Affordanz weist einen Ausweg aus diesem Dilemma. Der amerikanische Psychologe James J. Gibson bezeichnete damit „eine bestimmte Kombination der Eigenschaften seiner Stofflichkeit und Oberfläche, betrachtet in Bezug auf ein Lebewesen".91 Materialität wird damit eine Art vorsprachlicher „Eigensinn" zugeschrieben, der allerdings nicht aus sich selbst heraus kulturell sinnbildend wirkt Er ist vielmehr als mögliche Handlungs- und damit auch Deutungsanregung zu betrachten. Affordanz ist weniger Programmierung als Prognosemittel für den möglichen Umgang mit Dingen. Sie bezeichnet die gesteigerte Plausibilität bestimmter Rezeptionspraktiken. Damit wird sie zugleich zum legitimen Ansatzpunkt historischer Rekonstruktion. Doch wie wirkungsvoll ist dieses Zauberwort? Lässt sich durch den Affordanz-Begriff beispielsweise jener Mamorblock erklären, von dem der Bildhauer dem bekannten Bonmot zufolge alles abschlägt, was nicht nach Löwe aussieht? Grenzen und graduelle Abstufungen von Affordanzen wären im Einzelfall genauer zu bestimmen. Wie ein Puzzleteil, das sich aufgrund seiner Stanzung scheinbar wie von selbst in die vorgesehene Position einfügt, mag sich ein Gegenstand in bestimmten Gebrauchskontexten eindeutig zur Verwendung anbieten. Doch die Anregungen, Angebote oder Aufforderungen eines Artefakts müssen keineswegs aufgegriffen werden, noch weniger sind sie absolut zu setzen. So verdanken wir die Erfindungdes Cupcakes einer vielleicht unplausibleren, doch historisch nicht weniger wirksamen Affordanzannahme des Objektes,Keramiktasse'. Abb.2 Handmade by Ina Keupp ne Erwartungs- und Wissensbestände zum Ausgangs- und zugleich Zielpunkt des Deutungsversuches zu machen. Dabei gilt es, größtmögliche Offenheit für die Anregungen zu bewahren, die das Objekt selbst bereithält: Sogar basale Objekteigenschaften wie Größe und Gewicht eines Gegenstandes können physische und physikalische .Affordanzen' enthalten, also auf plausible bzw. unmögliche Kontexte der Verwendung und Bedeutung verweisen. Spuren von Gebrauch oder künstler-ische Gestaltung markieren die Intensität der Auseinandersetzung mit einem Gegenstand und machen eine Einordnung in soziale und geistige Milieus möglich. Selbst wenn Objekte nicht als Text lesbar sind, besitzen sie stets latente Referenzen auf die Sinnzusammenhänge, denen sie entstammen. Diese versteckten Verweise lassen sich für eine spätere Deutung nur verwenden, wenn sie zuvor erkannt und protokolliert worden sind. -» 28 — Da der hier vorgeschlagene Ansatz besondere Aufmerksamkeit auf ein Einzelobjekt legt, gehören zu den beobachtbaren Details nicht nur die offensichtlichen Eigenheiten, die dem Objekt bei seiner Herstellung eingeschrieben wurden, sondern auch die im Laufe seiner Lebenszeit hinzugekommenen Charakteristiken. Abnutzungsspuren, gezielte Veränderungen wie die Zerstörung oder Umfor-mulierung von Besitzmarken sowie die Ergänzung neuer Zeichen wie etwa einer Inventarnummer durch Archäologie oder Museumskuratoren geben oftmals ausgezeichnete Hinweise auf die unterschiedlichen Stadien im Lebenszyklus des Objekts. Erst wer auf die in einer vierten Sprache verfasste Inschrift auf dem berühmten Stein von Rosette achtet, erkennt die Komplexität solcher Objektgeschichten: Eine häufig übersehene englische Inschrift bemerkt die Eroberung des Steins durch die britische Armee, die 1801 den napoleonischen Truppen das Fundstück abnahm. Sie verweist damit auf den historischen Besitzwechsel, der zugleich begründet, warum Neil MacGregor, der Direktor des British Museum, auf diese vierte Inschrift aufmerksam machte - und nicht sein Kollege aus dem Louvre.94 Und was ist schon eine sinnlose Datenansammlung, so könnte man nach der durch Giorgio Riello vorgelegten Analyse eines Mieders fragen.95 Nicht nur, dass das Objekt aus dem frühen 18. Jahrhundert die mehrfache Überarbeitung solcher Kleidungsstücke unter Angleichung an den veränderten Modegeschmack in folgenden Generationen nachweist; und nicht genug damit, dass das in einem Haus im englischen Nether Wallop in Hampshire gefundene Stück über einem Herd verborgen wurde und damit wohl einem verbreiteten Brauch solcher Niederlegungen von persönlichen Stücken der Besitzer an Hausöffhungen entsprach, was auf einen volkstümlichen Glauben an die Wirksamkeit solcher Präsenthaltungen im Objekt verweisen könnte. Nein, die erstaunlichste Wende der Untersuchung erfolgte, als man die Knochen naturwissenschaftlich untersuchte, die das Mieder verstärkten: Die DNA-Analyse der dafür verwendeten Walknochen ermöglichte den Nachweis einer bis dahin noch nicht bekannten Walart, die biowissenschaftliche Narrative über die Biodiversität im Nordatlantik hinterfragte.96 Der Fall warnt davor, im ersten Schritt zu rasch Einzelheiten der .Geschichte des Objekts' in -> 26 27 <- Sherlock Holmes, der positivistische Blick des ig. Jahrhunderts und die 5puren unsachgemäßen Gebrauchs Die exakte Beobachtungsgabe des berühmten Detektivs aus dQr Bakerstreet 221B ist weidlich bekannt und beschrieben. Was er als die Fähigkeit zur „deduction" bezeichnet, markiert tatsächlich ein abduktives Erkenntnisverfahren: Holmes schließt vom konkreten Detail und der allgemeinen Regel auf den großen Plan des Verbrechers. Der Philosoph Charles Sanders Peirce hat diese Methode stets mit einem hypothetischen „may be" verknüpft, sie aber zugleich als „die einzige logische Operation, die ir- gendeine neue Idee einführt", bezeichnet.92 Es kann daher Abb.3 ©TheSherlock für Dingwissenschaftler nicht schaden, dem Meisterdetek- Hoimes Museum. 221b Baker tiv über die Schulter zu schauen, wenn er die Taschenuhr Street London,England seines Freundes Watson unter seine Lupe nimmt und den Vorbesitzer schließlich als Lebemann und Trinker identifiziert: „Nein, nein: ich rate nie. Das ist eine widerwärtige Gewohnheit, die jede logische Fähigkeit zerstört. Die Sache erscheint Ihnen nur sonderbar, weil Sie weder meinem Gedankengang folgen, noch die kleinen Anzeichen beobachten, die zu großen Schlußfolgerungen führen können. Wie bin ich zum Beispiel zu der Ansicht gelangt, daß Ihr Bruder [der bisherige Besitzer] nachlässig war? - Betrachten Sie einmal den Deckel der Uhr genau. Sie werden bemerken, daß er nicht allein unten an zwei Stellen eingedrückt ist, sondern auch voller Schrammen und Kratzer - eine Folge der Gewohnheit, andere harte Gegenstände, wie Münzen oder Schlüssel, in derselben Tasche zu tragen. Wer aber eine so kostbare Uhr auf solche Weise behandelt, muß ein nachlässiger Mensch sein. Um das zu erkennen, bedarf es keines großen Scharfsinns. (...) Betrachten Sie nun noch den inneren Deckel der Uhr. Sehen Sie die tausend Schrammen rund um das Schlüsselloch - Spuren, wo der Schlüssel ausgeglitten ist? Bei der Uhr eines nüchternen Mannes kommen solche Kratzer nicht vor; auf der Uhr eines Trinkers findet man sie regelmäßig. Er zieht sie nachts auf und hinterläßt diesen Beweis von der Unsicherheit seiner Hand. Wo ist in alledem ein Geheimnis?"93 Überlassen wir all jene, die sich wie Dr. Watson „zu dumm" fühlen, derartige Schlussfolgerungen zu ziehen, der immer wieder anregenden Lektüre von Sir Arthur Conan Doyles Werken. Gewiss erweist sich der Positivismus seines Protagonisten als verführerische Fassade: Was Holmes mit unerschütterlichem Selbstvertrauen als evident betrachtet, ruht letztlich auf dem wackligen Fundament eines Plausibilitätsschlusses. Als Auslöser für die zitternde Hand des Uhrenbesitzers käme mithin eine Parkisonerkrankung ebenso in Frage wie religiöses Erweckungsfieber. Gerade weil wir als Mediävisten die .Gesetzmäßigkeiten'unserer fernen Epoche weit weniger durchdringen als Holmes die geordnete Welt des Viktorianischen Zeitalters, gelangt die abduktive Methode rasch an ihre Grenzen. Doch mag die literarische Imagination des unfehlbaren Detektivs uns Inspiration genug sein, die scheinbar unwichtigen Details niemals aus den Augen zu verlieren. dem vermeintlichen Vorwissen über das später zu wählende Narrativ zu unterschlagen. Um schließlich die reine Datenanhäufung in eine strukturierte .Geschichte des Objekts' zu verwandeln, bietet sich entsprechend eine .biographische' Ordnung an. Die Phasen von Konzeption und Herstellung, Weitergabe und Verwendung sowie Endnutzung bzw. Entsorgung sind ebenso zu berücksichtigen wie die Rezeption als Museumsobjekt oder Forschungsgegenstand.87 Dieses Arrangement kann keineswegs .kontextfrei' erfolgen, sollte aber möglichst sparsam mit Sinnzuschrei-bungen arbeiten. Vor allem sollte es dazu angelegt sein, aus der Betrachtung des Objektes heraus Fragen aufzuwerfen und hypothetische Lesarten zu entwickeln, die die Agenda der folgenden Arbeitsschritte bereichern. -» 30 — 2. Schritt: Geschichte im Objekt Was wäre, so fragte 1861 der Berliner Schriftsteller Aaron Bernstein, wenn eines Tages ein berühmter Astronom zu Besuch käme, um das folgende fantastische Angebot zu unterbreiten: „Siehe ich will dir in deinem Zimmer ein Kunstwerk hohen wissenschaftlichen Werthes ausstellen das vor deinen Augen ein getreuliches Bild abgiebt von dem Lauf der Sonne am Himmelszelt oder richtiger von der Umdrehung der Erde um ihre Axe"?101 Der wundersame Mechanismus sei in der Lage, den Stand der Sonne selbst bei dichtester Wolkendecke und in finsterster Nacht anzuzeigen. Ohne eigene Anstrengung könne sein Besitzer den täglichen Lauf des Zentralgestirns erfassen, genauer noch „als je die unsterblichen Meister und Forscher Hipparch Ptolemäus und Copernikus es herausbringen konnten"102. Ein kostspieliges Kuriosum? Mitnichten, so fährt der Autor forr, des berühmten Astronomen bedürfe es längst nicht mehr. Seine geheimnisvolle Apparatur sei bereits ein Gegenstand des Alltags geworden: Es sei eine triviale Taschenuhr, mit deren Hilfe man die Zeit ganz ohne Himmelbeobachtung zu jeder Stunde exakt ermitteln könne. Ein Wunderwerk sei sie gleichwohl, denn Jahrhunderte astronomischer und technologischer Wissensproduktion habe ihr ihre allbekannte Gestalt verliehen: „Wie sonderbar ist es doch daß Millionen Menschen gar nicht ahnen welch einen Gedankenreichthum sie in den Westentaschen mit sich herumschleppen."103 Wie die Taschenuhr ein ganzes Universum kultureller Leistungen in sich trage, so sei der Alltag insgesamt voller Wunder. Sie zu vergessen oder besser: zu triviali-sieren, entlaste den Alltag des Menschen, indem man gedankenlos auf die Gedankenfülle anderer zurückgreifen könne. Der Psychologe Moritz Lazarus griff im Folgejahr auf diese Anregung zurück: „Fern von seinem Beginn und völlig unerwartet schlingt sich der Faden höchster Geistescultur in die Formen der alltäglichsten Dinge", so resümierte er.104 Dahinter stecke ein Prozess der „gedanklichen Verdichtung", der vom Standpunkt des Wissenschaftlers indes keine geistige Einbahnstraße darstellen dürfe. Der einstige Gedankenreichtum sei keineswegs unwieder- 4 28 29 32 33 <- terliegen, so ist auch mit Metamorphosen ihrer Bedeutung zu rechnen. Bereits ein geringfügig verändertes Arrangement von Artefakten und Akteuren produziert fluide neue Handlungskontexte und macht aus einer bedrohlichen Phalanx eine spektakuläre Parade oder ein Reenactment-Event. Dabei muss man durchaus nicht bei den auf unmittelbare physische Wirkung konzipierten Waffen stehen bleiben, wie die Zeithistorikerin Anne Sudrow am Beispiel des Schuhs im Nationalsozialismus eindrücklich nachwies1'6: Tatsächlich verbirgt sich hinter diesem zunächst so unscheinbar wirkenden Kleidungsstück die Geschichte der rücksichtslosen Rüstungsplanung des NS-Staates ebenso wie der Verhaltenscode seiner militärischen Leitung {Offiziersschuh aus Leder) und die menschenverachtende Rolle der Häftlinge in den Konzentrationslagern im »großen' Bild der Umverteilung von Ressourcen und unvergleichlicher Grausamkeit gegenüber den von der Volksgemeinschaft' Ausgeschlossenen. Denkt man an Michel Poucaults Überlegungen zur Analyse gesellschaftlicher Diskurse, die in den jüngeren Kulturwissenschaften zentraler theoretischer Referenzpunkt geworden sind, so erweist sich das Objekt als ein Teilnehmer und Akteur innerhalb dieses Diskurses.117 Die Dinge sind eingesponnen in ein Netz von Dispositiven. Die Realie partizipiert dabei an den gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen; sie wird zugleich durch sie geschaffen, wie sich ihre Bedeutung erst aus dem Diskurs heraus ergibt. Der Schuh ist nicht per se harmlos, reines ,Objekt' oder Ding an sich; er steht in Beziehung zu seiner Umwelt und erhält andere Handlungsaufmerksamkeit und Zu-schreibungsmöglichkeiten je nach sozialem Kontext. Eine .Geschichte aus dem Objekt' hat diese Wirkmacht materieller Präsenz auf historische Prozesse und Ereignisse zu thematisieren. Sie hat zu fragen, welche physischen und psychischen Ressourcen des Handelns ein Gegenstand - sei es Schmuckstück, Waffe oder Werkzeug - seinen Besitzern zur Verfügung stellt und welchen Zwängen er sie womöglich unterwirft. Auf welche Weise wirkten die gesellschaftlich erzeugten Dispositive, die als .objektivierte' Sinnzuweisungen an Sachgegenstände delegiert wurden, selektierend, strukturierend und normierend auf die Denk- und Handlungsweisen menschlicher Akteure ein? Zugleich hat eine solche Geschichte zu untersuchen, inwieweit das Objekt selbst im Zuge seines Gebrauchs kulturelle und materielle Veränderungen erfährt. Gerade weil Realien keine hermetisch abgeschlossenen Speicher von Sinnbezügen darstellen, eigenen sie sich ideal als Ausgangspunkte zur Erforschung kulturellen Wandels. -> 34/35.36/37 — Die Rahmenanalyse von Erving Goff man und das Theater um Merkels Handtasche Bei der Abstimmung über den Euro-Rettungsschirm im November 2011 trug Angela Merkel einen orangefarbenen „Shopper" als neue Handtasche mit in den Bundestag und erregte damit einige Aufmerksamkeit: „erfrischend trendy", wie die Bunte-Modechefin bemerkte, kostete das gute Stück rund 300 Euro, wie man nach der Diskussion weiß.118 Taschen von Politikern sind in der Politik Nachkriegseuropas gar nicht so unwichtig. In der deutschen Politik wurde etwa Herbert Wehners Aktentasche berühmt, aus der er jederzeit kompromittierendes Material habe ziehen können, um seine gefürchtete Rhetorik noch zu unterfüttern, wie der Historiker Gerhard Beier schrieb. Margaret Thatcher trug klassischerweise eine Handtasche, über deren geheimnisvollen Inhalt Präsident Gorbatschow und der US Secretary of State George Shultz gewitzelt haben sollen, Großbritannien habe unter Thatcher von der „gun-boat diplomacy" zur „handbag diplomacy" gewechselt. Jedenfalls wurde „Handbagging" im Vereinigten Königreich zum geflügelten Wort, das so viel wie jemanden abkanzeln bedeutete. Vor kurzem wurde eine dieser Thatcher-Taschen für einen guten Zweck versteigert; sie soll 28.000 Euro eingebracht haben. So betrachtet stellt sich vielleicht auch noch der orangene Merkel-Shopper als eine vorausschauende Investition mit großer Gewinnspanne dar. Doch wählte die deutsche Kanzlerin bei einer so wichtigen Abstimmung ihren orangenen „Shopper" auf einer verborgenen „Hinterbühne" wirklich aufgrund politischer, gar historisch-musealer Überlegungen? Immerhin verfügt das Haus der Geschichte in Bonn über die Strickjacke von Helmut Kohl, mit der er einst mit Michail Gorbatschow über Deutschlands Zukunft sprach, oder die berühmten Turnschuhe Joschka Fischers. Ein Alltagsgegenstand macht Geschichte; doch wurde er absichtlich gewählt? Spielt Merkel also durch die Wahl der besonderen Tasche die Kanzlerin, oder handelt es sich bei ihrer Tasche nur um den Ausdruck ihrer Partizipation an einer allgemein geteilten Begeisterung unserer Kultur für Damenhandtaschen? Folgen wir dem Soziologen Erving Goffman,1'9 so lassen sich soziale Interaktionen als eine Art Rahmen verstehen, der wie im Theater die Möglichkeiten unseres Handelns bestimmt. In solch einer Rahmenanalyse „spielen" wir alle unseren Part; so folgen etwa gerade in diesem Moment, in dem die folgenden Zeilen entstehen, die beiden Organisatoren des Handbuchs einem wissenschaftlichen Skript, indem sie die Einleitung zu diesem Sammelband überlegen und ausformulieren. Nur wenige Dinge unterscheiden nach Goffman dabei das Theater von der Realität: In Letzterer sind alle Zuschauer zugleich potentielle Schauspieler, und jeder von uns glaubt (anders als der Schauspieler im Theater) an seine jeweilige Rolle. Bleiben wir in diesem Bild von einem Rahmen, der unsere Rolle determiniert, und dem Spiel von Rollen, dem wir alle unterworfen sind, so werden die Objekte, die uns umgeben, selbst zu einer Art Requisite. Sie vermögen, die Rolle der handelnden Charaktere zu definieren oder der Interaktion dramatische Wenden zu geben: Ein neues oder neu verstandenes Requisit - eine Rose, ein Dolch, ein zum Rennauto umfunktionierter Theaterstuhl - eröffnet fast unweigerlich neue Handlungsressourcen. Diese Feststellung ist von einiger Tragweite für unsere Überlegungen: Die Objekte, die wir behandeln, bieten eben gerade nicht durch sich selbst eine Interpretation ihrer Bedeutung, sondern nur ihrer potentiellen Funktion. Wir können zwar im Sinne der Äff ordanz überlegen, was das Objekt möglicherweise für Konsequenzen für Rollenverständnis und Handlung seiner Besitzer besaß; aber wir wissen dadurch noch lange nicht, wofür es wirklich genutzt wurde und welche kulturellen Implikationen damit verbunden waren. Erst durch die Kenntnis des Rahmens, eine Kontextualisiemng, können wir über den potentiellen Nutzen des Objekts im gesellschaftlichen „Spiel" hinaus auch die Überlegunganstellen, welche Rolle die Requisite im von Goffman sogenannten „Impression Management" eingenommen hat, also bei unserem Versuch der Kontrolle unserer eigenen Erscheinung und Wirkung auf andere. -> 34 35 38/39 !""! Kehren wir zum Schluss der Einleitung noch einmal ins Land Mordor zurück. Der Ring, der bei Tolkien alle anderen Ringe knechtet, hat nie existiert außer in der Vorstellung des Literaten und der Legion seiner Leser. Damit entbehrt er des Wechselspiels, dem dieser Band seine Aufmerksamkeit widmet: Dem symbioti-schen Austausch von Materialität und kultureller Zuschreibung, von handlungs- -» 36 37 Der Direktor des British Museum und der Erfolg des Dings in der Geschichtsvermittlung In 100 Objekten möchte der Direktor des British Museum, Neil MacGregor, in einer Hörfunkreihe auf BBC4 die Geschichte der gesamten Welt erzählen. Mehr als zehn Millionen Hörer sind ein Beleg des erheblichen Erfolgs der Serie, die ihren Ursprung nicht zuletzt im erfrischenden Enthusiasmus ihres Autors hat. Doch verbirgt sich hinter dem publikumswirksamen Panoptikum der Dinge durchaus ein ernsthaftes Anliegen: Eine Global- und Universalgeschichte, die diesen Namen verdient, könne es keinesfalls bei der Auswertung schriftlicher Aufzeichnungen bewenden lassen. Eine ausgewogene Menschheitsgeschichte müsse „nicht nur die Texte, sondern auch die Objekte lesen".123 Zu Recht diagnostiziert MacGregor eine Privilegierung schreibkundiger Gesellschaften gegenüber der schweigenden Mehrheit schriftloser Zivilisationen. Eine solche Asymmetrie, die oftmals einer eurozentristischen, bisweilen gar imperialistischen Geschichtsdeutung Vorschub leistet, gelte es durch eine Erweiterung der Quellenbasis zu korrigieren. Im gewaltigen Sammlungsbestand seines Museums glaubt MacGregor den passenden Schlüssel zu den scheinbar vergessenen Welten des schriftlosen Alltags gefunden zu haben: Der Unmittelbarkeit einer visuell und haptisch erfahrbaren Materialität wird dabei die Funktion eines assoziativen Interface zwischen Forscher und Vergangenheit zugeschrieben. Unter der Prämisse, „dass die Objekte von Menschen hergestellt wurden, die im Grunde wie wir sind", ließe sich eine gedankliche Brücke in die Vergangenheit schlagen und im Wortsinne „begreifen, worum es in der Welt großteils geht".124 Exemplifiziert wird dieser Zugang etwa am Beispiel eines nahezu 2 Mio. Jahre alten Faustkeils aus der Olduvai-Schlucht im Norden Tansanias. Er stehe stellvertretend für jene 95% der Menschheitsgeschichte, die sich ausschließlich „in Stein erzählen" ließe.125 Allein der physische Kontakt mit dem Artefakt, so zitiert MacGregor den britischen Dokumentarfilmer Sir David Attenborough, bringe den Forscher der Vergangenheit näher: „Wenn ich diesen Stein in Händen halte, kann ich spüren, wie es war, draußen in der afrikanischen Savanne zu sein, wenn man Fleisch schneiden und beispielsweise einen Tierkadaver zerlegen musste, um an eine Mahlzeit zu kommen. Wenn man ihn in die Hand nimmt, ist die erste Reaktion: Mensch, ist der schwer, und wenn er schwer ist, verleiht das deinem Schlag natürlich einige Wucht"126 Die ergonomische Form des Steins stimuliert ebenso wie seine scharfe Schnittkante die Imagination des Regisseurs, nunmehr den entscheidenden Schritt hinüber in die Welt des Steinzeitmenschen getan zu haben. Indes, die vermeintlichen „Signale aus der Vergangenheit"127, die der Faustkeil dem modernen Forscher übermittelt, steigen kaum als raunende Geisterstimmen aus den Tiefen der Zeit zu uns herauf. Sie sind nicht im Sinne einer Tonbandaufnahme in der physischen Substanz des Objektes hinterlegt und durch bloßes Berühren abrufbar. Ob einem Homo Habiiis des Pleistozän beim physischen Kontakt mit dem Steinwerkzeug dieselben Gedanken in den Sinn geschossen wären, wie dem mehrfach preisgekrönten Naturfilmer, darf zu Recht bezweifelt werden. Schöpfer und Benutzer des Steinkeils waren womöglich weder physisch noch psychisch „wie wir". Das taktile .Begreifen' eines Artefakts mag daher zwar produktiv neue Erkenntnishorizonte öffnen - authentisch sind sie aber schwerlich. Körperlichkeit stellt für sich genommen kein Interface zum Verständnis vergangener Dingwelten dar, reine Phänomenologie erweist sich oftmals als Irrweg. Speziell für den kulturhistorischen Zugang zum und vom Objekt bleibt stets eine nicht unerhebliche Distanz zur Gegenwart zu überwinden, begründet in der standortgebundenen Subjektivität des Betrachters. Eingedenk dieser kaum überwindbaren Barriere beschreibt MacGregor seine Ge-schichtsnarrative daher in erster Linie als „poetische Neuschöpfungen", die gleichwohl „gepaart mit streng erworbenem und geordnetem Wissen" eine gewisse Plausibilität beanspruchen können: „Geschichte in Dingen' wäre ohne Dichter schlicht unmöglich!'128 Methodisch ist damit wenig mehr als eine grobe Marschrichtung markiert. Den entscheidenden Nutzen von Objekten für eine erweiterte Geschichtswahrnehmung und ihre Vermittlung an die Öffentlichkeit hat der Erfolg von MacGregors Vorstoß jedoch eindringlich demonstriert. begleitenden und handlungsformenden Charakteristiken mittelalterlicher Artefakte. Dabei wird in der Arbeit mit den Objekten im hier vorgeschlagenen Dreischritt zugleich deutlich, dass die Begegnung mit dem Materiellen und die Frage nach seinen kulturhistorischen Bedeutungen stets in ein Feld führen, das die Imagination beflügelt. Wir hoffen, dass die Leserinnen und Leser sich von dieser naiven Freude anstecken lassen und zugleich enthusiastisch zu den Grenzen historischer Erkenntnis stehen. Stellt nicht gerade das die besondere Freude jeder Beschäftigung mit dem Mittelalter dar? Gewiss droht ein Scheitern, wo die Schwelle von der Imagination zur Illusion überschritten wird, wie wir am Ende dieses Bandes noch am Ring von Paußnitz zeigen wollen. Uns ist bewusst, dass unser Dreischritt nur eine und vielleicht nicht die beste Methodik darstellt, sich den Objekten der Vergangenheit zu nähern. Die Plausibilität historischer Narra- tive kann sich jedoch erst zeigen, wenn sie erzählt werden. Mit Lessing bleibt uns nur zu sagen, dass wir unserer Vorgabe umso getreulicher folgen als „der echte Ring vermutlich ging verloren".129 38 39 ANMERKUNGEN 1 Unser Dank gilt dem Blog http://mittelalter.hypotheses.org, namentlich Herrn Dr. Martin Bauch, für die Gelegenheit, diesen Text vorab einer Fachöffenflichkeit zur Diskussion stellen zu können. JohnR. R. Tolkien, Der Herr der Ringe, Bd. 1: Die Gefährten, übers, von Margaret Carroux. Stuttgart 1977, S. 7. 2 Die Fundpräsentation erfolgte im Rahmen der Jahresschrift für mitteldeutsche Vorgeschichte 87, 2003. Vgl. kritisch Stefan Tebruck, Der „Zauberring von Paussnitz" - Kritische Anmerkungen zu einem „Sensationsfund", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52, 2004, S. 397-406. 3 Stellvertretend für das OEuvre sei zitiert: Percy Ernst Schlamm, Herrschartszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert, 3 Bde. (MGH Schriften 13). Stuttgart 1954-1956. Zu Person und Karriere vgl. David Thimme, Percy Ernst Schramm und das Mittelalter. Wandlungen eines Geschichtsbildes (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie derWissenschaften 75). Göttingen 2006. 4 Schramm, Herrschaftszeichen (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 1067. 5 Percy Ernst Schramm, Die Anerkennung Karls des Großen als Kaiser (bis 800). Ein Kapitel aus der Geschichte der mittelalterlichen Staatssymbolik, in: Historische Zeitschrift 172, 1951, S. 449-515, Zitate S.451, 514. 6 Vgl. zum Folgenden bereits Jan Keupp, Sachgeschichten. Materielle Kultur als Schlüssel zur Staufer-zeit, in: Die Staufer und Byzanz, hrsg. von der Gesellschaft für staufische Geschichte e.V. (Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst 33). Göppingen 2013, S. 156-180, hier S. 162. 7 Die interdisziplinäre Vielfalt ansatzweise zusammengefasst in: Manfred K. H. Eggert, Archäologie: Grundzüge einer Historischen Kulturwissenschaft. Tübingen 2006; Barbara Scholkmann, Das Mittelalter im Fokus der Archäologie. Stuttgart 2009. 8 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. Riga 17B7, S. XVI (= ND Hamburg 1956, S. 19-20). 9 Wulff D. Rehfus, Art. Kopernikanische Wende, in: Ders. (Hrsg.), Handwörterbuch Philosophie. Mit Beiträgen von 54 Autoren. (1. Aufl.) Göttingen 2003, S. 428-430. 10 Clifford Geeetz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 1983, S. 7-43, hier S. 9, mit Rekurs auf den Kulturbegriff Max Webers. 11 Den Begriff des .Partizipanten' entlehnt von Stefan Hirschauer, Praktiken und ihre Körper. Über materielle Parüzipanden des Tuns, in: Karl H. Höming/Julia Reuter (Hrsg.), Döing culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld 2004, S. 73-91, hier S. 74-75, der hier explizite Kritik am Akteursbegriff Bruno Latours übt. Wir betrachten die passive Partizipation neben der Sinnproduktion als eine mögliche Funktion von Objekten. 12 Markus Hilgert, .Text-Anthropologie': Die Erforschung von Materialität und Präsenz des Geschriebenen als hermeneutische Strategie, in: Ders. (Hrsg.), Altorientalistik im 21. Jahrhundert: Selbstverständ-nis, Herausforderungen, Ziele, in: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft 142,2010, S. 85-124. 13 Anknüpfend an Peter L. berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M. 1969, die materielle Gegenstände explizit in ihr zyklisches Modell einer Externarisierung, Objektivierung und Intemalisierung sozialer Ordnung integrieren. 14 Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Mit einem Nachwort zur Studienausgabe 2006: Aktuelle Tendenzen der Kulturtheorien. Weilerswist 2006, S. 713. 15 So setzt sich Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt a. M. 2001, S. 381ff., zwar intensiv mit dem Verhältnis von Forschungsobjekt und Wahrheit auseinander, möchte dabei allerdings in erster Linie die Faktengläubigkeit älterer Forschergenerationen dekonstruieren. Erste kritische Einwürfe sind im Kontext der neueren Kulturgeschichte der Körpergeschichte zu verdanken, die gegenüber einem reinen Sozialkonstruktivismus an der materiellen Substanz des physischen Körpers festhielt, vgl. beispielhaft Philipp Sarasin, Subjekte, Diskurse, Körper. Überlegungen zu einer diskursanalytischen Kulturgeschichte, in: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Kulturgeschichte Heute. Göttingen 1996, S. 131-164, S. 131: „Die Materialität historisch wandelbarer Zeichen und Sprachen wurde hermeneutisch zum bloßen Medium des Geistes verklärt." 16 Jacques Derrida, Grammatologie. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 1996, S. 274. Aus der Fülle einführender Texte vgl. die prägnanten Problemaufrisse von Birgit Emich, Geschichte der Frühen Neuzeit studieren. Konstanz 2006, S. 73-81; Sylvia TscHOPP/Wölfgang Weber, Grundfragen der Kulturgeschichte. Darmstadt 2007, S. 84-88. 17 Jan Assmann, Im Schatten junger Medienblüte. Ägypten und die Materialität der Zeichen, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M. 1988, S. 141-160, hier S. 143. 18 So Dominik Schräge, Kultur als Materialität oder Material - Diskurstheorie oder Diskursanalyse?, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.), Soziale Ungleichheit - Kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004, CD-ROM. Frankfurt a. M./ New York 2006, S. 1806-1813, hier S. 1807-1808. Det sehr lesenswerte Beitrag demonstriert treffend, was im Fahrwasser des ,linguistic turns' nicht als ,material turn' missverstanden werden sollte: Der Rekurs auf Materialität als Gegensatz zur Mentalität und damit als „polemische Metapher, mit deren Hilfe der Diskurs als Zwischeninstanz zwischen dem Denken und Sprechen vor allem gegen bewusstseinsphüosophi-sche Begriffe plausibilisiert werden soll" (S. 1809). Deutlicher formuliert trennt die Bezugnahme auf die Materialität sprachlicher Zeichen Welten von jener .Dingwissenschaft', die sich konkreten Artefakten widmet. Der .linguistic turn' beruht auf idealistischem, der .material turn' auf dualistischem Denken, die beide kategorial unvereinbar sind. 19 Programmatisch dazu Doris Bachmann-Medick, Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Berlin 2004. 20 Hans Peter Hahn, Dinge als Zeichen - eine unscharfe Beziehung, in: Ulrich Veit/Tobias L. Kienlin/ Christoph Kümmel (Hrsg.), Spuren und Botschaften: Interpretationen materieller Kultur (Tübinger archäologische Taschenbücher 4). Tübingen 2003, S. 29-52, hier S. 43. Die Kontextbedingtheit der Dingbedeutungen soll hier keinesfalls negiert werden, die Herausgeber halten gleichwohl eine Hypothesenbildung auf Basis sorgfältiger historischer Kontextanalysen für legitim. 21 Ebd., S. 35, verweist auf ein Experiment Grant McCrackens anhand durchmischter und damit unlesbarer Kleiderarrangements. Das Beispiel lässt sich insofern ins Gegenteil wenden, als gerade die durch .falsche' Kleiderensembles ausgelöste Irritation der Probanden auf die Existenz eines intersubjektiv verankerten Bedeutungscodes verweist, der bei ausreichender Quellenbasis rekonstruierbar wäre. 22 Vgl. im Oberblick Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 3. Aufl. Reinbek 2009. 23 Eine systematische Analyse der Diskursarena .Materielle Kultur' steht aus. Generell lässt sich vielleicht differenzieren in .ungebrochene' Forschungstraditionen etwa in Archäologie, Volkskunde, Ethnologie und Museologie, die zugleich neue Impulse (Konsumforschung. postprozessuale Archäologie) hervorbrachte, und innovative Neuansätze etwa der Techniksoziologie. Der .Grad' der Wende reicht von einer bloßen Semiotik des Materiellen über eine Medienperspektive bis hin zum radikalen Symmetriepostulat Bruno Latours. Vgl. den Forschungsüberblick bei Frank Trentmann, Materiality in fhe Future of History: Things, Pracüces, and Politics, in: Journal of British Studies 48, 2009, S. 283-307. 24 Vgl. bereits Jan Keupp, Die Wahl des Gewandes. Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters (Mittelalter-Forschungen 33). 2. Aufl. Stuttgart 2014, S. 20-22. 25 Christa LiEDTKE/Maria J. Welfens, Vom Wissen zum Handeln. Didaktische Module: Ressourcen, Energie (RE), Otzenhauseno.J., S. 117. 26 Angabe gemäß dem „World Denim Market: Production and Consumption Report 2012", unter: bttp://www.denimsandjeans.com/latest-denim-reports/global-denim-market-2012/; abgerufen am 20. September 2013. 27 Daniel MiLLER/Sophie Woddward, Introduction, in: Dies. (Hrsg.), Global Denim. Oxford/New York 2011, S. 1-21, hier S. 6. 28 Formulierung entnommen dem nach wie vor lesenswerten Werkabriss von Karl Kautsky, Karl Marx' oekonomische Lehren. Gemeinverständlich dargestellt und erläutert. Stuttgart 1903, S. 26. Für den ergänzenden Hinweis danken die Autoren Barbara Stollberg Rilinger, die uns ihren Text: Macht und Dinge, in: Stefanie Samida/Manfred K. H.Eggert/Hans Peter Hahn (Hrsg.), Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Stuttgart 2014, S. 85-88, vorab zukommen ließ. 29 Jan Keupp, Mode im Mittelalter. Darmstadt 2011, S. 9. Obgleich der Autor an dieser begrifflichen Differenzierung festhält, möchte er heute die Materialität der Mode nicht mehr generell in Abrede stellen. 30 Roland Baethes, Die Sprache der Mode. Frankfurt a. M. 1985, S. 18. Vgl. dazu aus mediävistischer Sicht ausführlich Andreas Krass, Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel (Biblio-theca Germanica 50). Tübingen/Basel 2006, hier explizit S. 1-2, 31 Barthes, Sprache der Mode (wie Anm. 30), S. 18. 32 Vgl, u. a. Anna Schober, Blue Jeans. Vom Leben in Stoffen und Bildern. Frankfurt a. M. 2001; Rebecca Menzel, Jeans in der DDR, Vom tieferen Sinn einer Freizeithose. Berlin 2004; sowie die bei Daniel Miller/ Sophie Woodward (Hrsg.), Global Denim. Oxford/New York 2011, versammelten Beiträge. 33 Ulrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W. Rostock 1979, S. 27. 41 42 43 44 45