Kapitel III Der Krieg aber dauerte fort, glitt über den Neujahrstag hinüber. Vor einem Jahr schon hatte er sich von einer Zahl getrennt. Es war die brennend heiße 14 gewesen, die wie eine Fahne und ein Galgen auf der sonnendurchglühten, blutigen Erde aufgepflanzt erschien. Jetzt war die sanftere 15 in sich abgeschlossen. Sie hatte den winterlichen Krieg in Unterstand und Schützengraben zum alltäglichen Einerlei gewandelt. Wie hinter ein hohes Parapet, so waren die Zahlen hinter die Scheidewand des Neujahrstags gefallen. Sie hatten den Krieg zurückgelassen und hatten alle Schönheit, die wie eine unerforschte zarte Flora in den Winkeln ihrer Ziffern grünte, endgültig mit sich genommen. Nun stand die leere 16 da. Sie hielt den Mund geöffnet und starrte dem Krieg entgegen, der jetzt kein Ende mehr nahm. Man sah seine grauen Gewässer immer höher steigen und sah, wie auf deren Oberfläche alle kommenden Jahreszahlen immer schneller fortgetragen wurden. Die Schüler wurden zum Wehrmann in Eisen geführt. Er stand in einem kahlen Hofgarten und ein Holzdach war über ihm errichtet. Sein Kopf war schon mit Nägeln bedeckt. Als Kopf war dieser Teil im übrigen nicht ohne weiteres erkennbar. Man konnte glauben, der Wehrmann habe gar keinen Kopf und sein Hals sei nur nach oben hin verbreitert. Aber Fiala sagte, er trage ein Visier. Professor Weinzierl trat vor die Schüler und hielt eine Ansprache. Er sagte, der Wehrmann in Eisen sei ein erhabenes Sinnbild. Wer hingehe und ein Geldopfer darbringe, um einen Nagel einzuschlagen, der trage bei zum Aufbau des Vaterlandes, das durch den Opfermut der Patrioten gefestigt würde, so wie durch diesen Opfersinn eine einfache Holzfigur sich in einen eisernen Wehrmann verwandle. Dann schlug er selbst den ersten Nagel ein - er hielt ihn elegant zwischen zwei Fingern seiner Linken und sprach dabei den Wahlspruch: Viribus unitis! Professor Brischta folgte ihm, er zuckte mit dem Kopf und indem er jedes Wort für sich hervorstieß, sagte er: Schwarz-gelb für immer! Dann kam Professor Piller an die Reihe. Er faßte den Wehrmann träumerisch ins Auge und seine Devise: Deutsch und treu! klang wie aus tiefem Schlaf gesprochen. Kam man jetzt an den Nachmittagen in den Stadtpark, dann sah es aus, als hätten die Alleen sich geweitet, als sei die Luft ganz weiß geworden, als hätte dieses Stück Erde sich zu einer 55 neuen und endlosen Reise gerüstet. Und beim Nachhausekommen mußte man von Tag zu Tag bemerken, wie zwischen die vierte Stunde und den Abend die Helligkeit einen Keil einrammte, der immer breiter wurde und wie das träge Licht, das jetzt nicht aus dem Zimmer wich, als isolierter Vorbote des Frühlings auf diesen engen Raum, in diese eine Stunde die ganze Trostlosigkeit der kommenden Jahreszeit zu konzentrieren suchte. Marianne kam in den Stadtpark und wenn Felix nicht da war, dann fragte sie, warum er nicht gekommen sei. Ich weiß nicht, beeilte sich Renato dann zu sagen. Er sagte es in jener absichtlich geheimnisvollen Weise, in der man spricht, wenn man dem anderen zuliebe die Bedeutsamkeit einer Person zu unterstreichen sucht. Aber er wußte zugleich, daß es sehr lächerlich war, so zu sprechen. Er dachte allerdings im Grunde, Felix könne niemals mit Marianne mehr befreundet sein als er es selbst war. Er selbst, so wußte er, war ja Mariannens bester Freund. Er wußte es, obwohl es auf den Spaziergängen schwer war, Marianne zum Sprechen zu bringen und obwohl er sah, wie froh sie oftmals war, wenn sie nach Hause gehen konnte. Aber die Mama sagte immer: Renato ist mit der kleinen Gérard befreundet, auch Miß Florence und Miß Harrison behandelten diese Freundschaft als eine Selbstverständlichkeit und deckten damit immer wieder die eigentliche Wahrheit auf, die Wahrheit, die von den höheren Mächten garantiert war und vor der jene Oberflächenwahrheit, die nur aus Mariannens äußerem Benehmen ihren dünnen, fragwürdigen Stoff bezog, sich im Augenblick verflüchtigte. So hielt auch die echte Wahrheit das Gesetz in sich beschlossen, daß nie ein anderer und auch nicht Felix als Freund Mariannens figurieren könne. Ein wohlhabender Mann, der sein Vermögen einbüßt, mag den Ruin schon lange kommen sehen. Ist er einmal wirklich ruiniert, dann erwacht er dennoch an jedem Morgen mit der Sicherheit, über Reichtümer zu verfügen, und er bleibt immer bei dieser Illusion, bis eine brutale Tatsache ihn zur Besinnung bringt. So war auch Renato überrascht, als eine andere Wirklichkeit hereinbrach. Es geschah vor der Mathematikstunde. Felix saß auf einem Pult, den Rücken dem Katheder zugekehrt und hielt die Beine auf der Schulbank aufgestützt. Er hatte den Kopf ein wenig rückwärts geneigt und ohne Vorbereitung sprach er plötzlich jene Formel, die die Erde für einen Augen- 56 blick stillstehen ließ: Ich war gestern bei den Gérards, sagte er und verkniff dabei ganz leicht die eine Hälfte des Gesichts. Man liest vom Schmerz, den eine Nachricht bereitet, man liest davon und denkt sich, das Wort Schmerz habe da nur eine bildliche Bedeutung. Aber man vergißt, daß auch ein solcher Schmerz eine körperlich feststellbare Tatsache ist, wie der Kopfschmerz oder das Brennen im Halse. So wie die Natur in weiser Voraussicht eine Frau die Geburtswehen vergessen läßt, so läßt sie, offenbar im Interesse der Arterhaltung, auch solche Schmerzen immer wieder in Vergessenheit geraten und wir sind jedesmal erstaunt, wenn wir es neu verspüren, das Gewicht, das sich zwischen die oberen Rippen und das Herz gelegt hat, selbsttätig abschwillt und dann wieder anschwillt, schließlich unseren ganzen Oberkörper mit seiner trägen Masse ausfüllt, uns zwingt, tief einzuatmen, wenn es sich zu neuen, gänzlich unerwarteten Dimensionen verbreitert ‒ in irgendeinem Augenblick kann das geschehen, etwa nur, wenn ein schönes Gesicht, eine bestimmte Kombination von Muskeln, Zahn und Haar vor unseren Augen wieder aufgetaucht ist oder wenn ein bestimmter Mund gelächelt hat. Felix lächelte und dachte offenbar an den vergangenen Tag. Aber während der Mathematikstunde blieb das dicke Gewicht in Renatos Körper hängen. Professor Weinzierl sprach von den Gleichungen mit drei Unbekannten und es war, als käme seine Stimme aus einem jener Grammophone, die ihre Platte abspielen, unabhängig von der Umgebung, in der sie sich befinden, die die Platte unter Umständen zu Ende laufen lassen, während im gleichen Zimmer ein Drama sich begibt. Professor Weinzierl sprach von der Auflösungsmethode der Gleichungen und ahnte nicht, was sich in Wirklichkeit ereignet hatte. Er hätte vielleicht sogar wie an anderen Tagen Woska und Soukup gleich nach der ersten Frage in die Bank geschickt, hätte erwartet, daß das ein Ereignis bedeuten würde, während doch am vorhergegangenen Tage Felix bei den Gérards gewesen war, Frau Gérards blauer Blick ihn gestreift hatte (in dem Moment, da sie von ihrer Sofaecke aus, ihm ihre Hand zum Kuß entgegenhielt) und während zum Schluß vielleicht sogar die beiden, die Mutter und Marianne, ihn bis ins Vorzimmer hinaus begleitet hatten, wobei es des Lachens und des Abschiednehmens gar kein Ende gab. Allerdings erfuhr Renato nichts von diesem Nachmittag. Wenn er Felix fragte, gab dieser keine Antwort, tat so, als habe 57 er die Frage überhört und ließ erkennen, daß er zu vornehm denkend sei, um etwas zu erzählen, das dem anderen einen Schmerz bereiten mußte. Auch kam es in der folgenden Woche nur wie durch eine Unachtsamkeit über seine Lippen, daß er ein zweitesmal bei den Gérards gewesen war. Wenn Renato jetzt neben Marianne herging und wenn er ihr Gesicht betrachtete, die Flügel ihrer Nase, die sie mitunter zucken ließ, und ihre Wangen, die gespannt schienen und die bei einer Berührung wahrscheinlich dennoch ganz weich gewesen wären, dieses Fleisch, das sie nach dem Spaziergang nach Hause trug, in die Wohnung, in der sie, ihrer Mutter gleich, das Unsichtbare, das ihr Körper eingeschlossen hielt, in die verschiedensten Richtungen entsandt hatte, in den verstecktesten Winkeln sich hatte ansiedeln lassen, wenn also Renato Marianne so ansah, dann mußte er zugleich an Felix denken, der in jener Wohnung mit ihr gemeinsam in den Geheimnissen ihres Lebens stöbern konnte. Einmal um die Mittagszeit sah Renato Marianne und ihre Mutter auf der Straße. Sie kamen ihm sehr rasch entgegen, im Gespräch mit einem hochgewachsenen Herrn, der höflich lachte. Frau Gérard schien ungewöhnlich gut gelaunt und fand in der eiligen Unterhaltung auch Zeit, dem großen hellgrauen Hund, den sie neben sich an einer Leine führte, etwas zuzurufen. Ihr dunkelblaues Kostüm, ihr Pelz und ihre strahlend hellen Handschuhe waren voller Frische. Marianne aber ging neben dem Hund. Sie mußte große Schritte machen. Sie lachte ebenfalls und, um den fremden Herrn zu sehen, beugte sie sich vor, während ihr Hals vom Lachen ein wenig gerötet war. Renato wußte nicht, ob er jetzt grüßen dürfe und während er überlegte, waren die anderen schon vorbei. Aber er dachte dann noch lange an diese Erscheinung, die rasch und goldgepanzert vorübergeflogen war und die tief unter allen Hüllen und Schichten ihrer großen und hochmütigen Schönheit ganz zum Überfluß und für einen Fremden fraglos unerwartet, ein neues, höchst eigenes Mysterium, nämlich Mariannens Leben, in sich trug. Er dachte auch an diese Begegnung, als ein paar Tage später Felix ihm erzählte, er habe Marianne und ihre Mutter in der Stadt bei ihren Besorgungen begleitet. Gewiß waren für Renato noch die Spaziergänge im Stadtpark geblieben. Aber er mußte bald erfahren, daß er auch davon nicht mehr viel erwarten konnte. Denn Miß Harrison hatte 58 darum angesucht, nach England zurückkehren zu können und sie sprach ganz ernsthaft von den Aussichten, die Bewilligung zu erhalten und sprach auch schon von ihrer Reiseroute. Miß Florence sagte, wie schade es sei, daß es jetzt mit den gemeinsamen Spaziergängen zu Ende gehe. Da sie aber dabei nur an sich selber dachte, so schien gerade sie es zu sein, die Renatos Freude und seine Hoffnungen endgültig zur Seite schob. Miß Florence hatte ihn übrigens in diesem Monat überrascht. An einem Abend hatte sie sein Lesepult genommen, hatte es auf das verschlossene Klavier gestellt und dann den ersten Band der Übungsschule aufgelegt. Schließlich hatte sie begonnen, ganz leise und in großen Pausen einzelne Töne anzuschlagen. Sie hatte bei Fräulein Zuleger, der Tochter aus dem Papiergeschäft, eine Klavierstunde gehabt. Aber erst nachdem Renato selbst daraufgekommen war, hatte sie das Geheimnis preisgegeben und war im übrigen entschlossen, eine so zerbrechliche und edle Sache wie ihr Spiel und die Stunden bei Fräulein Zuleger vor dem allgemeinen Unverstand, vor allem aber vor den Eltern zu beschützen. Sie übte am Abend, wenn sie wußte, daß niemand mehr ins Zimmer kommen würde. Und ihre Töne - sie schlug sie oft nicht richtig an, aber immer erst, nachdem sie mit Hilfe ihrer Brille zunächst in das Notenheft und dann auf ihre Hand gesehen hatte - diese Töne nun, die an sich wahrscheinlich schon sehr leise gewesen wären, waren im Hinblick auf das Geheimnis noch um ein Weiteres eingeschrumpft. Renato aber sah, wie über diesen Tönen (Tönen, die bei den anderen Klavierspielern nur als Vorstufe zu gelten hatten und die von hier aus immer ungeduldig in die freie Luft der Vortragsstücke und der Sonatinen liefen), wie über diesen Tönen also ein gänzlich neuer Sinn des Klavierspiels aufgestiegen war, der oberhalb der Brille, die Miß Florence trug, gleich einen Stillstand machte, um dünn und zart und maßlos traurig sich in die Falten ihrer Stirn zu legen. An einem der Abende kam aber die Köchin unerwartet in das Zimmer. Sie sah Miß Florence am Klavier und war erstaunt. Miß Florence war zuerst erschrocken, aber dann ließ sie die Köchin alles wissen. Sie erzählte auch von Fräulein Zuleger: Sie hustet immer in den Stunden, sagte sie, sie ist gar nicht richtig mit der Lunge. Die Köchin hatte ihre Arme in die Hüften aufgestützt. Jetzt schüttelte sie in Bewunderung den Kopf und schien in Anbetracht von so viel Leiden und Klavierspiel fassungslos zu sein. Renato hatte damals einen Traum. Ihm träumte, daß er eine 59 Stunde mit ansah, die Fräulein Zuleger erteilte. Er sah das Zimmer hinter dem Geschäft, sah Fräulein Zuleger, die Schülerin Fräulein Konrads (genaugenommen: die Schülerin einer ihrer Schülerinnen) und sah, wie neben ihr ein Mädchen beim Klavier saß. Allerdings war etwas Ungewohntes in dem Anblick. Es war alles viel blasser und viel kleiner, als es Renato in Erinnerung hatte. Und er wunderte sich sehr, bis er mit einem Male erkannte, daß die Lehrerin im Zimmer gar nicht Fräulein Zuleger war, sondern eine ihrer Schülerinnen, eigentlich sogar eine Schülerin einer ihrer Schülerinnen. Und es hatte hier alles so minimale Maße, das Fräulein, das den Unterricht erteilte, und gar erst das Fräulein, das die Stunde nahm, die dünnen Töne, die sie anschlug und die sich noch gerade an der Grenze der Hörbarkeit befanden, das Klavier und das Papiergeschäft, das alles war so klein und lungenkrank, daß Renato angesichts dieser Winzigkeit erwachte. Miß Harrisons Abreise war beschlossen und so stand auch in einiger Zeit das Ende der gemeinsamen Spaziergänge bevor. Aber während dieser Wochen konnte es Renato oft vergessen. Wenn er allein neben Marianne herging oder wenn Felix dabei war, dann war es ihm, als werde es immer so weiter gehen und er konnte glauben, er werde dennoch einmal das richtige Wort aussprechen können, etwas so Interessantes zu erzählen wissen, daß Marianne auf dem Fleck stehen bleiben würde, um zu sagen: Das muß ich aber der Mama berichten. Sie wird entzückt sein. Sie wird bestimmt haben wollen, daß du morgen allein zu uns kommst. Aber dann geschah es plötzlich, daß Miß Florence zu Miß Harrison sagte, sie habe gehört, daß die Leute, die in die Ententeländer führen, alle eine Woche lang an der Schweizer Grenze angehalten würden. Sie sagte es und ließ damit jene Weltordnung hereinbrechen, die die Erwachsenen für sich gepachtet hatten, in der sie die Züge abfahren ließen, das Zeichen gaben, damit die unförmigen, schwarzen Schiffe sich in Bewegung setzten, um torkelnd über den Kanal zu fahren - sie ließen kurz und scharf das Pfeifensignal erklingen und sagten dabei: Wir haben keine Zeit, darüber nachzudenken, was diese dummen Kinder da noch wollen. Aber wenn Renato an Miß Harrisons Abreise nicht dachte, dann hatte er dennoch nicht ganz unrecht, nämlich in Übereinstimmung mit einem Lebensgesetz, das dahin wirkt, daß es uns selten plötzlich so gut geht und selten plötzlich so schlecht als 60 wir es erwarten (während die Katastrophen uns von einem Bezirk aus überfallen, an den wir gar nicht dachten). Denn gleich einer jener kleinen Märchengestalten, die kaum, daß sie irgendwo verschwunden sind, wie aus einem Nichts erstehend an einem entgegengesetzt liegenden Punkte des Raumes wieder auftauchen, plötzlich auf einem Kästchen oder in einer Nische stehen, so sah Renato Marianne gewissermaßen aus einer ungeahnten Richtung kommend wieder in Erscheinung treten. Es hieß, sie würde nach Miß Harrisons Abfahrt zum Naturgeschichts- und zum Zeichenunterricht ins Gymnasium kommen, wo man seit zwei Jahren (in den beiden Klassen, die unter Renatos Klasse lagen) auch Mädchen aufgenommen hatte. Überdies sollte sie schon in der Akademie mitwirken, dem öffentlichen Schülerabend, mit dessen Veranstaltung Professor Weinzierl beschäftigt war. Dieser Abend, von Professor Weinzierl in lebhafter Rede angekündigt, mit sehr viel Zeitaufwand schon vorbereitet, schwebte jetzt als unbewegliche, große Tonne, kreuz und quer angefüllt mit Ausschnitten aus dem riesenhaften Saal, den hellgekleideten Schülern, welche rezitierten, der Theaterszene, vor der der Vorhang aufgezogen war, den Zuschauern, die mit wirren Blicken ihre Plätze suchten und dann vor Beginn sich auf ihren Sitzen vorwärts beugten, sich zur Seite und nach hinten wandten, dabei alle die Maschinerie ihrer Stimme in Bewegung gesetzt hatten, die steigend und fallend in der hohen Lage trillernd den Raum mit einem bewegten Orchesterstück erfüllten, als ein so angefülltes, großes Gefäß schwebte dieser Abend in der Luft. Seltsame Gewohnheit, die uns veranlaßt, uns das Kommende immer wieder vorzustellen! Haben wir einmal darüber nachgedacht, dann ist uns eine der deprimierendsten Tatsachen unseres Lebens aufgegangen. Aber wir haben mit dem Nachdenken nicht viel gewonnen. Weder die Erkenntnis hilft uns, noch die ausgedehnteste Erfahrung, die Erfahrung, daß es niemals vorgekommen ist, daß ein Bleistift so am Tisch liegt, wie die Phantasie es ausgemalt hat, keine Umarmung, kein fremder Körper sich so anfühlt, kein Laut so klingt wie wir es uns vorher dachten, das alles hindert uns nicht daran, auch weiterhin und ein ganzes Leben lang die todgeweihten Bilder zu produzieren, unsere ganze Liebe, unseren Geist und unser Zartgefühl in jenen Kunstwerken aufzuwenden, die für keinen anderen Zweck bestimmt sind als für das unendliche Arsenal des Nichts. 61 Professor Weinzierl hatte gefragt, was jeder an einem künstlerischen Abend leisten könne. Jeder soll mir seine Begabung nennen, hatte er gesagt und hatte dabei offenbar mit einem Male das Bewußtsein, einer auserwählten Schar von kleinen Künstlern vorzustehen, und die Halbdrehung, die er seinem Stuhl gegeben hatte, das feine Lächeln, mit dem er vor sich hinsah, der zart angedeutete Schwung, mit dem die Linke seine Rede untermalte, das alles deutete daraufhin, daß er sich jetzt als Freund der Künste fühlte, als ein Entdecker und Förderer von Talenten, allerdings in seinem kleinen Kreise. Die Mitteilung Renatos, er spiele Klavier, nahm er schweigend zur Kenntnis und bestimmte ihn dafür, bei der patriotischen Szene, der Apotheose einen Palmzweig in die Höhe zu halten. Aber eine Dame aus der Bekanntschaft Fräulein Konrads wies ihn an, er solle doch Renato spielen lassen. Ob das auf Fräulein Konrads Veranlassung hin geschehen war, das stand nicht fest. Jedenfalls aber wirkte ‒ ohne daß Renato recht bemerkte wie es geschah ‒ ein Hebelwerk, das hoch über seinem Kopfe arbeitete, sehr rasch dahin, daß sein Spiel zu einer beschlossenen Sache wurde. Auch die Eltern waren einverstanden. Der Papa fand nur noch, es sei nötig, daß Professor Weinzierl ihn anhöre, der Form halber, meinte er, müsse das geschehen. Er sagte, Professor Weinzierl solle doch am nächsten Sonntag kommen und er beging damit einen jener Fehler, wie die Eltern sie so oft begingen, wenn sie, nicht wissend, daß es neben ihrer Welt noch Welten gab, die sie nicht kannten, ganz unbekümmert in jene anderen Welten hineintappten, um ahnungslos dort einen Schock hervorzurufen und die Ordnungen zu verwirren. So scheute sich der Papa auch nicht davor, die Mathematik persönlich zu bemühen, einzuladen oder gar sich kommen zu lassen, zu erwarten, daß sie mit ihrem Strahlenhaupte ebenso selbstverständlich, wie irgendein Besucher die Stiegen heraufsteigen, im Vorzimmer den Stock ablegen, dann weitergehen würde, um drinnen sich an den Gesprächen zu beteiligen, die so unendlich und so hoffnungslos wie das ratternde Geräusch der Eisenbahn mit dem Räderkreischen des Gelächters und den langgezogenen Signalen der Höflichkeit oftmals bis in Renatos Zimmer drangen. Es war eine hochmütige Ahnungslosigkeit, das zu erwarten, eine Ahnungslosigkeit, die Professor Weinzierl auf das tiefste beleidigen mußte, die ihn aber zugleich auch, ohne daß er sich selbst darüber im klaren war, bedauernswert erscheinen ließ, da er es etwa gewiß nicht wußte, was er im Vorzimmer mit seinem Stock tun sollte und ihn fraglos mit seinem schmutzigen Ende auf einen jener Sessel legen würde, von denen die Mama zu sagen pflegte, man müsse sie schonen. Aber auch der Papa war, ohne daß er es wußte, in diesem Augenblick ein wenig zu bedauern, da er bereit war, der Mathematik mit aller denkbaren Freundlichkeit entgegenzukommen, sie hingegen in ihrer großartigen Fremdheit die gütige Bereitschaft, die sich auf Papas Wangen niedergelassen hatte, nicht beachten und alle höflichen Reden an sich abprallen lassen würde, ohne sie auch nur durch eine einzige Liebenswürdigkeit zu erwidern. Aber als die Mathematik kam, lächelte sie und das Stahlgerüst der geometrischen Figuren, das ihr Gesicht zusammenhielt, schien in diesem Lächeln zu zergehen. Und wie in einer beseligten Feuchtigkeit aufgetaut, so verschwammen die Konturen dieses Gesichtes in einer neuartigen sanften Röte, während Professor Weinzierl nach einer Reihe von Verbeugungen Mamas Anerbieten, sich zu setzen, angenommen hatte und während er mit mehrmaligem befriedigtem Kopfnicken Renatos Klavierspiel ausgezeichnet fand. Auch Miß Florence war von Professor Weinzierl auf das freundlichste begrüßt worden, ebenso wie Fräulein Konrad, die sich ihrerseits viel stiller zeigte, als man es erwartet hätte, zugleich aber den immateriellen Panzer abgelegt hatte, in dem sie immer aufgerichtet schien. Ihr Gesicht war übrigens im Augenblick, da sie Professor Weinzierl die Hand reichte, von einem Purpurhauche überzogen worden. Sah man aber den Professor selbst an, wie er im Fauteuil saß, wie er im Gespräch mit der Mama die Finger höflich auseinandergespreizt hielt, und hörte man, wie er seine majestätischen Sätze immer nur nach einem leisen Brummen seiner tiefen Stimme sagte, einem Schnarren, das er offenbar nur veranstaltete, weil er nicht wußte, was er sagen solle, dann mußte man das verwunderlich und sogar angsterregend finden. Aber nicht nur über die Mathematik, die aus ihren Wolkenhöhen herabgefallen war, auch über die Mama mußte man erstaunt sein, da sie in Professor Weinzierls Reden nicht, wie man es erwartet hätte, ein dummes, geschwollenes Zeug erblickte, sondern ihm sehr aufmerksam zuhörte (so aufmerksam, wie sie es eben gar nicht hätte tun dürfen) und schließlich auch ohne Überlegung Eigenes erzählte, sich vor Professor Weinzierl über den Papa 62 63 beklagte, der nie das Ende einer Mahlzeit abwarten konnte, sondern sich schon immer vorher die Zeitung geben ließ. So hatten sie ihre Posten verlassen, die Eltern und auch Professor Weinzierl, die Ordnungen waren inzwischen zusammengestürzt und tief unten in der Verwirrung, die zurückgeblieben war, versuchten sie, sich aneinander festzuhalten, beschämend für beide Teile, für die Eltern und für die Mathematik. So mußte es auch geschehen, daß sie in ihrer Haltlosigkeit Reden führten, die sie sich zu anderen Malen nicht gestattet hätten, nach allen Gegenständen griffen, die ihnen erreichbar schienen, um sie in ihre ordnungslose Welt herabzuziehen und mit ihrer porösen Hinterseite unters Licht zu stellen. Ich glaube, die kleine Gérard wirkt mit, sagte die Mama. Und lachend fügte sie hinzu: Das ist ja etwas für Renato. Aber mir scheint, er hat jetzt eine gefährliche Konkurrenz. Der Felix Bruchhagen macht ihr auch den Hof. Sie lachte und hatte keine Bedenken, bei Marianne von Hof machen zu sprechen, als sei sie eines jener vielen Mädchen, von denen zu lesen war und von denen gesprochen wurde, eines jener Mädchen, die mit roten Gesichtern und verrenkten Gliedern die schreckliche und beschämende Aktion des Hofmachens über sich ergehen ließen. Die Mama scheute sich nicht davor, wie in einem Winkel zusammengekauert, Renato selbst und Felix zu belauern, und auch Marianne, deren dünne Gestalt draußen im Stadtpark unbeweglich vor den ziehenden Wolken in ihrer kostbaren Materie aufgepflanzt war, auch Marianne scheute sie sich nicht, ganz einfach anzuspringen und trotz des Widerstrebens, der Anstrengung, die rührend und ohnmächtig den Kopf mit einer zarten Röte färbte, in die schlammige Masse ihres Lachens herabzuziehen. Übrigens lachte auch Professor Weinzierl, obwohl er wahrscheinlich nicht genau verstanden hatte, wovon die Rede war. Natürlich, sagte er, der Bruchhagen. Und sein Lachen verlief in einem beifälligen Schmunzeln, da er es sich offenbar gestattete, in Anbetracht dieses privaten Besuches, der außerordentlichen, gewissermaßen feiertäglichen Gelegenheit die Zügel schießen zu lassen und einen Filou wie den Bruchhagen einmal von der Seite der Heiterkeit, der schönen Lebenskunst betrachtete, mit einem Wohlwollen, das auch ganz beiläufig und sinnlos Marianne einzuschließen schien. Nachdem Professor Weinzierl gegangen war, sagten die Eltern, er sei ein reizender Mensch und Renato fand sie in diesem Augenblick bedauernswerter, als jemals zuvor. 64 Auch Miß Florence war von Professor Weinzierl entzückt. Sie hatte übrigens inzwischen die Klavierstunden bei Fräulein Zuleger schon aufgegeben. Sie hatte das getan, nachdem eine traurige Nachricht in das Papiergeschäft gekommen war. Der junge Zuleger war an der russischen Front gefallen. Warum Miß Florence allerdings gerade in diesem Augenblick beschloß, der Familie noch den Verlust einer Stunde zu bereiten, war freilich nicht ganz einzusehen. Aber sie sagte: Jetzt kann man doch nicht an Klavierspielen denken. Statt dessen saß sie nun oft für mehrere Stunden bei Frau Zuleger im Zimmer. Sie saß wahrscheinlich mit vorgebeugtem Oberkörper auf dem großen Sofa, biß ihre Zähne in die Unterlippe und sah auf Frau Zuleger, die, während die Tränen über ihre Wangen liefen, immer wieder kurz und rasch mit ihrem Kopfe nickte. Du mußt ihr dein Beileid erklären, sagte Miß Florence zu Renato. Und auf die Frage, was er da sagen solle, gab sie ihm zur Antwort: Dummer Junge, daß du das nicht weißt. Schließlich aber meinte sie: Du kannst ja sagen: es tut mir schrecklich leid, daß der Herr Zuleger im Krieg gefallen ist. Aber sie bemerkte nicht, wie traurig es war, von Herrn Zuleger zu reden, daß nämlich Renato, der den Gefallenen nicht gekannt hatte, ihn jetzt nach seinem Tode zum erstenmal mit Herr Zuleger ansprechen sollte. Er sollte den Titel Herr gebrauchen, den Titel, den der Friseur seinem Kunden gab und in welchem der Weg, auf dem der Fremde nach Verlassen des Frisiergeschäftes die Straßen durcheilen würde, und auch alle unbekannte Schönheit seines künftigen Lebens eingeschlossen war, während beim jungen Zuleger das Wort Herr nichts anderes enthalten konnte, als das, was es bezeichnete (den Körper, der auf der braunen Erde lag), so daß sich dieses Wort erst hier in seiner ganzen Trostlosigkeit offenbarte. Aber nachdem Renato dann zu Frau Zuleger in den Laden gekommen war und gesehen hatte, wie sie hinter dem Pult stand, einem Schüler ein Heft verkaufte und dann ein anderes langsam von seiner alten Stelle holte, da er mit Ausnahme des schwarzen Kleides, das sie trug, in dem kleinen Papiergeschäft nichts Ungewohntes bemerkt hatte, ging er sehr rasch wieder hinaus. Denn er hatte - ohne zu verstehen warum - gerade angesichts dieser geringen Veränderung gespürt, daß er nahe daran war, zu weinen (was vor Frau Zuleger, die selbst nicht weinte, sehr unangenehm gewesen wäre). 65 Als der Monat Feber eingerückt war, dessen leicht gebauter Name wie ein luftiger Vorbau von einer durchsichtigen Helligkeit erfüllt war, zugleich aber in dem ebenmäßigen, weder steigenden noch fallenden Klange seiner Silben das Jahr zu einem kurzen Stillstand zwang, da konnte es geschehen, daß man um die Mittagsstunde, nach Schulschluß, das Straßenpflaster und die Häuserfassaden im Sonnenlicht vibrieren sah und daß man plötzlich eine wärmere Luft verspürte, die einen Frühlingstag recht unvermutet mitten in die kalte Jahreszeit herübertrug und die auch ganz von ferne ein Stückchen einer unbestimmten Schönheit mit sich brachte. Aber die Wolken zogen sich sehr bald zusammen und die ebene Straße des Monats Feber lag wieder in ihrem sonnenlosen Lichte da, die kurze Straße, auf der es kein Vorwärtskommen gab und an deren Seite man von Zeit zu Zeit am Nachmittag - nicht so trügerisch wie in der Mittagsbeleuchtung, sondern in ihrer eigentlichen Realität - die leere Bettlergestalt des Frühlings sich immer drohender erheben sah. Miß Harrison sagte, daß ihre Abreise näher rücke, aber in Wirklichkeit war nichts davon zu merken. Auch das Konzert, von dessen Näherkommen immerzu gesprochen wurde, lag immer noch in jener selben Ferne, in der man es zunächst gesehen hatte. So konnte Renato nicht auf den Gedanken kommen, die Stücke, die er mit Fräulein Konrad vorbereitete, das Menuett von Paderewski und das Impromptu von Schubert, diese Stücke in irgendeine Verbindung mit jenem Abend zu bringen, dessen quadratische dicht gefüllte Gondel man am Ende des Horizonts in ihren großen Dimensionen schaukeln sah. Aber die Zeit nimmt hinter unserem Rücken ihren Fortgang, versteht es auch aus gänzlich unbekannten Ordnungen Dinge herabzuholen, um so die Situationen zu verdichten. Mit Marianne ging man also in diesen Wochen noch spazieren. Und kam Felix hinzu, dann konnte es geschehen, daß er sie plötzlich wortlos ansah und daß sie dann lächelte, dabei die Winkel ihres Mundes auseinanderzog und auch verbreiterte, so daß unter ihrem Körper, unter dieser Hülle, die man bisher immer aufrecht, ruhig und fest verschlossen durch die Alleen des Stadtparks hatte gehen sehen, die sich aber nun mit einem Male aufgetan hatte, daß eben darunter ein neues körperliches Wesen in Erscheinung trat, aus einem feuchten und glatten Material bestehend, aus einem gewissermaßen billigen, alltäglichen Material. Aber eingesponnen in Mariannens Leben und überschattet von Mariannens Namen schien es dazu angetan, dieses Leben mit einer neuen und schmerzlichen Schönheit zu erfüllen. Nun sah man dieses Leben auf eine neue Ebene gehoben, sah, daß Marianne dort den Inhalt ihres Namens, seiner Kostbarkeit nicht achtend, bedenkenlos verschenkte, damit umging so wie mit dem billigen Inhalt aller anderen Namen umgegangen wurde, jener anderen Namen, von denen der Name Mariannens sich gewiß nur um ein geringes unterschied. Aber von der schmalen Basis dieses Unterschiedes stieg jetzt in noch nie dagewesener Kraft und Konzentriertheit alle Süße ihres Lebens auf. Übrigens geschah es gerade damals, daß sie sich manchmal plötzlich zu Renato freundlich zeigte. Sie ließ sich sogar einmal eine Hauff-Novelle erzählen und hörte auch mit Interesse zu. Aber da ihr Mund verschlossen war und sie feste stampfende Schritte machte, konnte man glauben, es habe sich eine Teilung ihrer kleinen Persönlichkeit vollzogen, so daß hier nur die Marianne zurückgeblieben war, die ihre Schulaufgaben machte und bei der der graue Mantel, den sie jetzt trug, den Körper eines Mädchens einschloß, das mit den anderen lachte oder Sachenraten spielte, während der übrige Teil ihrer Person, als neues Wesen in sich zusammengeschlossen, von den Flügeln ihres Lächelns getragen, endgültig in eine andere Region entschwunden war. So bewirkte die Zeit ganz unbemerkt die Verschiebung der Kulissen und ließ auch unbemerkt den Knaben Renato immer tiefer in ihre zweifelhaftesten Bezirke gleiten. Denn eines Tages läutete das Telephon. Und als Renato an den Apparat kam, sah er in einer großen Entfernung, unendlich verkleinert, in einer winzigen Kapsel sitzend, niemand anders als Marianne. Er hörte auch, wie von dort her ihre Stimme zu ihm heraufkam. Sie sagte, Miß Harrison sei mit Reisevorbereitungen beschäftigt und er solle Felix, bei dem es kein Telephon gab, bestellen, daß sie ihn morgen um zwei Uhr nachmittags erwarte, um mit ihm zur Probe des Theaterstücks zu gehen. Renato hatte gar nicht gewußt, daß die beiden zusammen in dem Theaterstücke spielten. Und so kam es, daß diese plötzlich sichtbar gewordene Tatsache - sie hatten Renato nichts davon erzählt, trotzdem er immer wieder neben ihnen hergegangen war - daß diese Tatsache sich als ein zufällig herabgefallenes Bruchstück eines Lebens zu erkennen gab, das Felix und Marianne schon längst vereinte, das schon seine eigene festgefügte Gesetzlichkeit in sich trug, so daß sie es gar nicht mehr nötig 67 fanden, ihn über eine Einzelheit, und war sie auch eine harmlose, zu unterrichten. Sie dachten nicht daran, von einer Angelegenheit wie dem gemeinsamen Theaterspiel zu sprechen, weil eben diese Angelegenheit, die isoliert, gewissermaßen unter abstraktem Gesichtspunkt betrachtet, ein farbloser, alltäglicher Tatbestand sein konnte, in Wirklichkeit mit tausend Fäden in jenes Leben eingesponnen war, das sie bewohnten und das schon lange Zeit in seiner unerreichbar blauen Ferne ruhte. Aber das Telephon läutete noch einmal und läutete zu wiederholten Malen. Und es fiel Renato auf, daß Felix auch an Tagen kommen sollte, für die eine Theaterprobe gar nicht angesetzt war.