1960er Jahre. Ein Wendepunkt? Während in den 1950er Jahren mit Beschuldigungen gespart und eine kollektive Schuldzuweisung zurückgewiesen wurde, nahm in den 1960er Jahren der Kreis der Beschuldigten ständig zu, bis sich auf der Anklagebank die Bundesrepublik als solche gefunden hat. Zeigte man im vorigen Jahrzehnt keinen besonderen Willen, die Vergangenheit zu ermitteln, und übte man sich, falls man zu viel wusste, in diskretem Schweigen, so löste das sechste Jahrzehnt diese Diskretheit in einer Atmosphäre des Verdachts auf; jeder deutsche Soldat wurde der begangenen Verbrechen gegen die Menschheit verdächtigt, jeder Bundesbürger wurde dem Vorwurf ausgesetzt, dass ihm solche Verbrechen wohl noch heute denkbar vorkommen mögen. Diese recht schablonenhafte Schilderung ruft den Eindruck hervor, die 1960er Jahre würden einen Wendepunkt markieren. Der damals heranwachsenden Generation mag mit der Bundesrepublik und ihren Manieren der Geduldsfaden gerissen sein, man war nun nicht mehr bereit, die bis dahin sanktionierte Heuchelei zu akzeptieren. Immer bedrohlicher erschien der Widerspruch zwischen der erfolgreichen und selbstzufriedenen Gesellschaft einerseits und deren unumstrittenen Schuldverstrickung andererseits. So waren Stimmen zu vernehmen, die von offensichtlichen Defiziten der üblichen (und nur vermeintlich erfolgreichen) Aufarbeitung der Vergangenheit gesprochen haben. Als bedrohlich wurde auch das von der ganzen Nation gepflegte Distanzieren vom Nationalsozialismus empfunden, infolge dessen die Schrecken der Vergangenheit ins kollektive Gedächtnis kaum integriert wurden: man habe sie beschwiegen, mit keinem konkreten Raum verbunden, sie seien unlokalisierbar, a-topisch gewesen. All dies schien sich jetzt zu ändern: es galt, eigene Schuldverstrickung nicht zurückzuweisen, sondern zu thematisieren. Der gerechte Zorn der kritischen Intellektuellen der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mag berechtigt gewesen sein, man sollte jedoch zumindest eine Tatsache bedenken. Die kritische Reflexion der deutschen Vergangenheit, die unzählige Male die Reihen der Schuldiggesprochenen und Sich-schuldig-Fühlenden vermehrte, wurde am meisten von denjenigen in Gang gehalten, die, generationell gesagt, „selbst weder am Aufbau des NS-Regimes noch am Zweiten Weltkrieg aktiv beteiligt gewesen waren“. Anders gesagt, diese kritische Reflexion wäre ohne den zeitlichen Abstand undenkbar gewesen, was ja zum Teil den erhobenen Vorwürfen ihre Spitze abbricht. Und sie war gleichzeitig durch den Abstand von dem Gegenstand der kritischen Reflexion bedingt. Diese Generation hat sich am Nazismus nur hypothetisch beteiligt, de facto konnte sie an ihm keine Verantwortung getragen haben. Und gerade diese Konstellation prädisponierte sie dazu, mit Schuldzuweisungen zu jonglieren, ohne sich selbst einzubeziehen. Kritische Reflexion der deutschen Vergangenheit mag sich in den 1960ern und insbesondere in deren zweiten Hälfte auch deswegen dermaßen breit durchgesetzt haben, dass es sich in vielen Fällen nicht um Selbstreflexion, sondern um Reflexion dessen handelte, was die anderen gemacht hatten; es ging vielmehr um die Anklage tua culpa, weniger um die Selbstanklage mea culpa. Fragen: 1) Wie wurde die Vergangenheit in den 50ern reflektiert? (Kleine Wiederholung 😉) 2) Wie wurde die Vergangenheit in den 60ern reflektiert? 3) Wieso kam es zu dieser Veränderung?