3.5 Deutsche Nachkriegsgeschichtswissenschaft Uneinig war man sich auch hinsichtlich der Frage, welche Rolle die Geschichtswissenschaft nach dem Kriege spielen sollte. So oft bei den Diskussionen das Wort Revision verwendet wurde, so unterschiedlich waren die Vorstellungen, was alles und in wie weit zu revidieren wäre. Einerseits gab es die bereits im vorigen Kapitel angedeutete Tendenz, deutsche Geschichte als eine revisionsbedürftige Reihenfolge der falschen und zwangsläufig in den Nationalsozialismus mündenden Ereigniskette hinzustellen. Außer der oben vorgestellten Version von dem Marxisten Abusch begegnete man dieser Perspektive auch bei Emigranten und einigen ausländischen Historikern (A.J.P. Taylor). Forderte die marxistische Interpretation eine Revision der gesamten deutschen Geschichte, weil die fortschrittlichen Kräfte jederzeit von den reaktionären um den Sieg gebracht worden sein, wurde die Revisionsnotwendigkeit in den nicht marxistischen Theorien weniger absolut ausgelegt: Bei allem katastrophalen Potenzial fand man in der deutschen Geschichte manches, was auf Hoffnung schließen ließe. Somit erschöpfte sich die Geschichtswissenschaft etwa in Meineckes Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen (1946) keineswegs darin, mit allem abzurechnen, was man, so ungefähr auch immer, mit Nazismus in einen Topf werfen könnte. Die Revision dürfe nicht pauschal über alle deutschen Traditionen herfallen, sie müsse von der unumstrittenen deutschen humanistischen Kultur- und Bildungstradition Ausgang nehmen, die in Meineckes Augen auch die Barbarei des nazistischen Deutschseins überstanden hätten. Das für das erste Nachkriegsjahrzehnt dominierende geschichtswissenschaftliche Modell repräsentierte der Freiburger Historiker Gerhard Ritter, der sein Fach vor dem in seinen Augen schädlichen Einfluss der zeitbedingten Affekte und Leidenschaften zu schützen suchte. Er forderte zur möglichst emotionslosen und sachlich nüchternen Geschichtswissenschaft auf. Ritter akzeptiert keine zwangsläufigen Ketten in der deutschen Geschichte. Weder von den verlorenen Bauernkriegen (Marxismus), noch von Luther, Nietzsche (T. Mann), oder Bismarck (Meinecke) her führe kein direkter Weg zu Hitler. Hitler habe so gut wie überall auftauchen können, so wie letztendlich Faschismus in Italien oder Bolschewismus in Russland erschienen seien. Sein Erfolg in Deutschland sei weniger einer geschichtlichen Gesetzlichkeit zuzuschreiben, vielmehr einem „Betriebsunfall“, der jedoch nicht von ungefähr gekommen sei. Die einzige Kausalität, die Ritter zulässt, ist der Nexus zwischen ökonomisch und national gedemütigten und äußerst verunsicherten Massen und deren totalitären Rückfälligkeit. Wie sahen die Beziehung „Deutsche Geschichte – Hitler“: 1) Die marxistischen, die emigrierten, und einige ausländische Historiker? 2) Die nicht marxistischen, etwa F. Meinecke? 3) Gerhard Richter? Welches Modell von diesen drei hat sich in den 50ern durchgesetzt?