P L Ä D OY E R F Ü R E I N E L I T E R A R I S C H E P E R S P E K T I V E AU F S P R AC H E U N D K U LT U R I M KO N T E X T VO N DA F / DA Z ( D O B S TA D T / R I E D N E R ) 17. 3.22 Johannes Köck • Michael Dobstadt spricht am 25. 4. 22 in Brno (Termin der LV dann Montag 18 Uhr) • https://skyfri.uber.space/ AUFBAU Zweischritt: 1) Kontextualisierung, thematischer Einstieg, Perspektive Literarizität 2) Blick öffnen: „Winks upon winks upon winks“ … In jeder Sprache gibt es die Fremdsprache Literatur, die, scheinbar paradox, dadurch Vertrauen und Nähe begründet, dass sie Fremdsprache bleibt und sich der Verfügbarkeit entzieht (Muschg, Adolf: Die Erfahrung von Fremdsein, Vortrag vom 8.08.1987 in Bern, aus Anlass des Internat. Deutschlehrerverbands. Vgl. auch Dobstadt u. Riedner 2011, 5). ZUM EINSTIEG „Dem Gebrauch einer Fremdsprache wohnt selbst eine literarische Erfahrung inne: Denn auch das Erlernen einer Fremdsprache kann Distanz zur alltäglichen Sprache schaffen; so wie das auf ihre Weise auch die Literatur vermag (Dobstadt/Riedner, 2011:11).“ AUS DER DIPLOMARBEIT EINER IHRER KOLLEGINNEN • „Die literarische Sprache, nicht nur in L1-Sprache, sondern auch in L2-oder L3-Sprache,kann also auf den Leser fremd wirken. Vermeintlich feste Verbindungen zwischen Worten und Gedanken, zwischen Signifikanten und Signifikaten, stehen nicht unbewusst und selbstverständlich nebeneinander, stattdessen werden sie gelockert. Dadurch wird die Aufmerksamkeit des Lesers gefesselt und die angeeigneten Denkmusterwerden gestört. Dem Leser eröffnet sich eine Möglichkeit, sein Blick auf die Welt neu und anders zu richten, und folglich auch neue kulturelle Deutungsmuster kennenzulernen. Da die literarischen Texte die Versuche des Lesers, dem gelesenen Text einen eindeutigen Sinn zu verleihen, stören, ist die Literatur nach Dobstadt und Riedner ein hervorragend geeignetes Medium für die Einübung des Umgangs mit kultureller und symbolischer Komplexität“ (Weszterová, 2020: 23). F RE MD SP RAC H E A LS LI TE RATUR - FU muss eine ästhetische Dimension ausbilden (Weinrich 1985, 236) - Es gilt also auch der Umkehrschluss! - Dem gebrauch einer Fremdsprache wohnt selbst eine literarische Erfahrung inne: Denn auch das erlernen einer F kann Distanz zur alltäglichen Sprache schaffen, so wie das auf ihre Weise auch die Literatur vermag (Dobstadt u. Riedner, 2011, 11) - Befreiende Wirkung: Lockerung Verbindung Wort und Gedanke 1. FREMDSPRACHLICHE LITERATURDIDAKTIK IM 20. JAHRHUNDERT Bis Mitte 20.Jhdt: Ideal einer höheren Bildung (GÜM) Audi-linguale und visueller Methode: Radikaler Wechsel (Literatur hat „ausgedient“) -> Fokus auf den Erwerb sprachlicher Handlungsfähigkeit im Alltag („Nutzenparadigma“) • Antwort: „Von der Langeweile des Sprachunterrichts“ (Weinrich 1985, 241) • Ästhetische Qualität zur Motivation statt „Pattern Drill“ und lebenspraktischer Sachtexte Weinreichs Plädoyer wirkt: fortan verstärkte Berücksichtigung von Literatur in Lehrwerken (etwa Kast, Bernd, 1994,Themenheft „Literatur im Anfängerunterricht“) Im Kontext eines IKKonzepts (Wissen über kulturelle Handlungs-und Deutungsmuster) Und eines handlungs- und produktorientierten Literaturunterrichts (kreativer Umgang, weitreichende Sprachproduktion) Voraussetzung: Literaturbegriff, der literarische Texte nicht als unantastbares Bildungsgut ansieht, Gegenstand lebendiger Auseinandersetzung und subjektiver Sinngebung ProduktiveVeränderung, Umgestaltung, Fortschreiben (ab 1970ern auch Öffnung zur Kinder- und Jugendliteratur) Litdidaktik bis heute von Rezeptionsästhetik maßgeblich beeinflusst (Bedeutung existiert nicht unabhängig von der Lektüre) AU S W I R K U NG E N AU F D E N F U • L als motivationsförderndes Zusatzmaterial • Anregung der Lernenden zur Sprachproduktion • Subjektive Sichtweise in „fremde Welten“ (Landeskunde) • ABER: die ästhetische Dimension literarischer Sprache, spezifische Literarizität, (Weinreich) kam/kommt dabei oft zu kurz • Ästhetische Sprachfunktion (Verfremdung/Verlangsamung mit FU nicht vereinbar (vgl. Dobstadt, Riedner, 2011) • Aufhebung von Fremdheit soll Verstehen herstellen ZWISCHENFAZIT 1 • Die Frage, ob, wie und zu welchem Zweck literarische Texte eingesetzt werden, hängt gleichermaßen vom Verständnis des FU und seiner Funktion in einer modernen Gesellschaft ab, wie auch vom Literaturbegriff, den man zugrunde legt. • Wie sieht es damit in der Gegenwart aus? (ebd.) IHRE LESEEINDRÜCKE – TAUSCHEN SIE SICH AUS Wie ist ihr Leseeindruck? Was haben Sie sich notiert? Was fanden Sie interessant? Was unklar? Fragen L I T E R A R I Z I TÄT A L S AU S GA N G S P U N K T L machtVielschichtigkeit der Sprache seit jeher herausragend sichtbar, nutzt sie für ihre Zwecke à Eignung symbolische Kompetenz Neuer Stellenwert der Literatur im FU Kulturbezogenes Lernen, flexibler offener Umgang mit Fremdheit, ohne klare Festlegung der „Fremdheit“ Besonderheiten der literarischen Sprachverwendung nicht "überspringen" (Dobstadt u. Riedner, 2011, 8) • Jakobson versteht unter der poetischen Funktion der Sprache »die Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen«. Sie ermöglicht »die unmittelbare Erfahrbarkeit der Zeichen«Mit dieser Funktion bewirken die Texte das, was als ihre genuine Leistung angesehen wird und was sie zu besonders wertvollen Kulturprodukten macht: die viel diskutierte Entautomatisierung der Wahrnehmung. Dichtung hebt die Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem ins Bewusstsein. Damit wirkt sie der unreflektierten Gleichsetzung beider entgegen, die, so Jakobson, die Verwendung der Alltagssprache kennzeich-net und die letztlich zur Verflüchtigung‹ der Realitätswahrnehmung führt. Bekanntlich begrenzt Jakobson die poetische Funktion der Sprache nicht nur auf die Dichtung, sondern bestimmt sie als eine der sechs Funktionen, die Sprache generell aufweist (Winko 2009, 375). ZWISCHENFAZIT 2 • Literatur kann ihr spezifisches Potential für die Vermittlung sprachlicher und kulturbezogener Kompetenz nur dann voll entfalten, wenn ihre Literarizität in den Mittelpunkt gestellt wird (Dobstadt/Riedner, 2011.) • Literarizität selbst als Art Fremdsprache (vgl. Zitat Muschg) LI TE R A R I Z I TÄT, DA S B E SOND E R E D E R LI TE R ATUR ? Rekurs von Dobstadt/Riedner auf Prager Strukturalismus (Roman Jakobson) Literarizität/Poetizität als Merkmal von Sprache, das an eine bestimmte Einstellung des Rezipienten bzw. Produzenten eines bestimmten Textes gebunden ist Wird sichtbar, wenn „die Nachricht um ihrer selbst willen betrachtet wird“ Fokus auf Klang, Zusammenstellung der Worte, nicht nur im Bezug auf „kommunikative Richtigkeit“ Formales Zueinander-Passen (Äquivalenz) Verlagerung der Aufmerksamkeit „weg vom Sinn“ macht Sinn neu erfahrbar (D&R 2011) ZWISCHENFAZIT 3 • Literatur als Bestandteil aller Niveaustufen im FU • Bedingung: nach Niveaustufen differenziert (Ziele/Arbeitsformen) • A1/A2 spielerischer Umgang (Jandl, Morgenstern, Gernhardt, Märchen…) • Um-Fortschreiben, generatives Schreiben • Auf Lesbarkeit der L setzen • Höhere Niveaus: Fokus zunehmend auf Vielschichtigkeit, „Unlesbarkeit“ (vgl. ebd. 13) • Lehrer_innen sollen in der Lage sein zielgruppen und sprachniveauspezifisch literarische Erfahrung als Erfahrung von Literarizität zu ermöglichen. (Dobstadt u. Riedner 2011, 13) „Winks upon winks upon winks“ – Plädoyer für eine literarische Perspektive auf Sprache und Kultur im Kontext von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (alle nachfolgenden Zitate beziehen sich auf diesen Text) AUSGANGSLAGE • Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ hat wieder einmal zu Bewusstsein gebracht, wie wichtig, wie zentral für die Gesellschaften Europas eine gut organisierte und ausgestattete Fremd-und Zweitsprachenvermittlung ist (39) • die Auseinandersetzung mit der Sprache als ein wichtiger Faktor auf dem Weg zur Erlangung von Handlungsfähigkeitin der neuen, fremdsprachigen Umgebung ist (ebd.) • Kritik an reiner Handlungsorientierung des FU • Welcher Sprachbegriff liegt zugrunde?! • Verwertungslogik vs. Literarische perspektive auf Sprache und Kommunikation (41) • Aus diesem Befund ziehen wir den Schluss, dass der DaF- und DaZ-Unterricht auf den problematischen Kulturbegriff verzichten und das, was daran sinnvoll und bewahrenswert ist, in einen literarisierten Begriff von Sprache integrieren sollte. Dies ist der Kern unseres Vorschlags für eine literarische Perspektive auf Sprache und Kultur im Kontext von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (ebd.) U M R I S S E N E I N E S L I T E R A R I S C H E N S P R AC H B E G R I F F S F Ü R D E U T S C H A L S F R E M D U N D Z W E I T S P R AC H E ( N OVA L I S ) • „Wir suchen das Unbedingte, finden aber immer wieder nur Dinge“ (Novalis 1978, S. 221). • Wie deuten D&R hier Novalis und seinen Sprachbegriff? • Wie ist Yoko Tawadas Zitat im Hinblick auf den FU zu lesen (45)? • Genau darin liegt für uns der Mehrwert dieses literarischen Sprachbegriffs und seine Überlegenheit gegenüber dem instrumentellen Sprachbegriff: Er bietet den Lernenden die Perspektive der Regel, der Norm, der Konvention, aber so, dass diese zugleich und zwar von Anfang an als subvertierbar, veränderbar, verschiebbar erscheint (47). A S P E K T E D E S K U LT U R B E G R I F F S I N D E U T S C H A L S F R E M D - U N D Z W E I T S P R A C H E – E I N E K R I T I S C H E B I L A N Z • Was sind die wichtigsten Punkte, die genannt werden? • Warum fällt die Bilanz kritisch aus? • Diskutieren Sie, nennen Sie Beispiele KULTURELLES LERNEN UND SYMBOLISCHE KOMPETENZ • Zunehmend Kritik am IK (Dichotomie „Eigen“ vs. „Fremd“) • Einheitlichkeit feststehender Kulturen, klare kulturelle Prägung der Lernenden (kulturalisierende Zuschreibungen) • So handeln die („Tschechen“, “Franzosen“, „Deutschen“) • Didaktik eines umfassenden kulturbezogenen Lernens (Hu/Byram), Auflösen der Gegensätzlichkeit • Kulturelle Deutungsmuster (Altmayer) statt national oder ethnisch begründeter Kulturen • Von der kommunikativen zur symbolischen Kompetenz (Claire Kramsch) KULTURELLE DEUTUNGSMUSTER (ALTMAYER) • Was also ist ein kulturelles (Deutungs-) Muster? Es ist ein Wissenselement, in dem musterhaft verdichtetes und typisiertes, d.h. auf einer mittleren Abstraktionsebene angesiedeltes und insofern auf viele konkrete Situationen anwendbares Wissen über einen bestimmten Erfahrungsbereich enthalten ist; - das dazu dient, je konkrete Erfahrungen und Situationen als Fall eines allgemeineren Typs / Musters zu deuten und einzuordnen, der Erfahrung bzw. Situation einen bestimmten Sinn zuzuschreiben und unser Handeln in der entsprechenden Situation zu orientieren; das in Sprache und Diskursen gespeichert und überliefert ist, im Prozess der Sozialisation in bestimmte Diskurse erworben wird, für die Verständigung und die Herstellung einer gemeinsamen Wirklichkeit innerhalb dieser Diskurse zur Verfügung steht und in diesem Sinn Gemeinschaft stiftet;-das in alltäglichen Handlungsvollzügen und Kommunikationssituationen in der Regel implizit und unreflektiert verwendet und als allgemein bekannt und selbstverständlich vorausgesetzt wird, das im Bedarfsfall aber auch auf eine reflexive Ebene gehoben und selbst zum Gegenstand auch kontroverser Deutung werden kann (Altmayer, 2013). SYMBOLISCHE KOMPETENZ • Kramsch definiert symbolische Kompetenz als ein komplexes Cluster, das sich aus folgenden symbolischen Fähigkeiten zusammensetzt:„awareness of the symbolic values of words, ability to find the most appropriate subject position, ability to grasp the larger social and historical significance of events and to understand the cultural memories evoked by symbolic systems, ability to perform and create alternative realities by reframing the issues.”(Kramsch 2009, 113 zitiert nach Baumann, Beate 2018). • "Bewusstsein für die symbolischen Werte von Wörtern, Fähigkeit, die angemessenste Subjektposition zu finden, Fähigkeit, die größere soziale und historische Bedeutung von Ereignissen zu erfassen und die kulturellen Erinnerungen zu verstehen, die durch symbolische Systeme hervorgerufen werden, Fähigkeit, alternative Realitäten durch Reframing der Themen aufzuführen und zu schaffen" • Die Fähigkeit, sich nicht nur der Sprach eines Anderen anzunähern, oder sich diese anzueignen, sondern auch den genauen Kontext in dem die Sprache gelernt und genutzt wird neu zu prägen. • Während die Problematik des Kulturbegriffs in didaktischen Kontexten in Deutsch als Zweitsprache inzwischen intensiv diskutiert wird, hat die Reflexion der Frage, welche Relevanz solche Überlegungen für das Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache haben, zumal sich dieses ja ebenfalls keineswegs in macht- und interessefreien Räumen vollzieht (siehe zum Beispiel Bornscheuer 2017), noch kaum begonnen (56). KONKLUSION • Fassen Sie die Konklusion des Beitrags in eigene Worte • Was sind die wichtigsten neuen Aspekte für Sie? • Was bleibt unklar? • Welche Fragen haben Sie? 3. LITERATURVERZEICHNIS • Altmayer, Claus (2006): Kulturelle Deutungsmuster als Lerngegenstand. Zur kulturwissenschaftlichen transformation der Landeskunde. In: Fremdsprache Lehren und Lernen (FLUL). 35. Jahrgang, 2006, 44-59 • Altmayer, Claus (2 013): Das Wort. Germanistisches Jahrbuch Russland Kulturwissenschaft –eine neue Perspektive für die Germanistik in Russland • Breitenbach Iona/Zukrigl, Ina (2000): Tanz der Kulturen. Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt. Rheinbeck bei Hamburg: Rowohlt. • Dobstadt, Michael/Riedner, Renate (2011): Fremdsprache Literatur. Neue Konzepte zur Arbeit mit Literatur im Fremdsprachenunterricht. In: Fremdsprache deutsch H.44. • Dobstadt, Michael/Riedner, Renate (2016) Winks upon winks upon winks. Plädoyer für eine literarische Perspektive auf Sprache und Kultur im Kontext von Deutsch als Fremdund Zweitsprache. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Intercultural German Studies 42/2016, 39–61 . • Eagleton, Terry (1992): Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart: Metzler. • Hu, Adelheid/Byram Michael (2009)(Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und fremdsprachliches Lernen: Modelle, Empirie, Evaluation. Tübingen: Gunter Narr. • Jakobson, Roman (1972): Linguistik und Poetik. In: Ihwe J., (Hrsg.)Literaturwissenschaft und linguistik. Eine Auswahl. Texte zur Theorie der Literaturwissenschaft. Bd. 1. Frankfurt a. M. Athenäum Fischer, 99-135. • Sklovskij, Viktor (1988): Die Kunst als Verfahren. München: Fink, 5-35. • Weszterová, Barbora. Entwicklung der symbolischen Kompetenz im DaF-Unterrichtanhand des Textes von Philipp Löhle: „Wir sind keine Barbaren!“ Magisterarbeit Masaryk-Universität. Online verfügbar: https://is.muni.cz/th/d64ja/DP_Barbora_Weszterova_qlkoawdi.pdf (10. 3. 22) • Winko, Simone (2009): Auf der Suche nach der Weltformel Literarizität und Poetizität in der neueren literaturtheoretischen Diskussion. In: Grenzen der Literatur. Berlin/New York: De Gruyter, 374-396. • Wintersteiner, Werner (2006): Poetik der Verschiedenheit. Literatur, Bildung, Globalisierung. TEXTNACHWEISE • Muschg, Adolf: die Erfahrung von Fremdsein, Vortrag gehalten am 8.August 1987 anlässlich der Tagung des int. Deutschlehrerverbands. • Tawada, Yoko: Von der Muttersprache zur Sprachmutter. In Talisman. Literarische Essays. &. Auflage Tübingen: konkursbuch-Verlag 2008. 9-15.