Einleitung 17 3. Begriffe und Leitfragen einer integrierten Stadtgeschichte. Konzeptionelle Zugänge Um ein differenziertes Bild der vielschichtigen Integrations- und Ausgrenzungsmechanismen in der Hauptstadt der als Nationalstaat konzipierten multinationalen Republik zu gewinnen, werden in der Arbeit Anregungen und Erkenntnisse der kuhur- und sozialwissenschaftlichen Stadt Forschung, der konstruktivistischen Nationalismus- und Ethnizkätsforschung sowie der Histoire croisee zum Konzept einer integrierten Stadtgeschichte zusammengefasst. Darunter wird hier die Analyse der Beziehungen und Verflechtungen von Akteuren vielfältiger nationaler, kultureller und konfessioneller Identitäten verstanden. Der Untersuchungsgegenstand ist nicht die Stadt als Ganzes. Vielmehr richtet eine integrierte Stadtgeschichte ihr Augenmerk auf die sozialen Beziehungsund Verflechtungszusammenhänge in der Stadt. In Anlehnung an die neuere Stadtsoziologie und -ethnologie soll die Stadt als eine Wirklichkeit erfasst werden, „die durch Interaktionen, Erfahrungen, Erzählungen, Bilder und Darstellungen verschiedener Gruppen aktiv hervorgebracht und verändert wird".'13 Die Stadt ist demnach Produkt und Produzent einer Vielzahl sozialer Räume, für die die „Gleichzeitigkeit von Kontaktaufnahme und Kontaktvermeidung" charakteristisch ist.44 Die Erfahrungen, Handlungen und Vorstellungen der Bewohnerinnen und Bewohne^ Besucherinnen und Besucher machen die (Groß-)Stadt so zu einem veränderlichen kulturellen Gefüge, zu einem Vermitt-lungs- und Bedeutungsraum.45 In diesem Vermittlungsraum begegnen sich Akteure unterscIiiedüeher kultureller, sozialer und sprachlicher Zugehörigkeiten, die kollektive Identitäten immer wieder aufs Neue verhandeln.46 Es wird davon ausgegangen, dass die für den Untersuchungsraum scheinbar omnipräsenten ethnisch-nationalen Identitätskonstruktionen Ergebnis direkter und indirekter Interaktionsprozesse Featbtrsitme, Mike; Globale Stadt, InformatJonstechnolagie und Üffentlichkfit. In; Radt-macber, Claudia/,?chroer, Markus/ Wiecktns, Peter (Hg.); Spiel ohne Grenzen? Ambivalenzen der Globalisierung. Wiesbaden 1999, 169-201, hier 182. Stbtötr: Räume 244. — Sieht auch Low, Martina: Raum Soziologie.. Frankfurt a. M. 2007, 254-262. Gmidt, Helge: Großstadtbilder. In; Ders.; Kulturwissenschaft im Zeitalter der Globalisierung, Volkskundliche Markierungen. Münster 2002, 64-78, insb. 67. Unter „Identität" wird hier im Anschluss an Jürgen Straub „die Differenzierung und Bewahrung von Differenzen ebenso [..,] wie die Synthetisierung oder Integration des Unterschiedenen" verstanden. Straubs Identitätskonzept bietet sich insofern an, da er zwischen „personalen" und „kollektiven Selbst- und Weltverhältnissen" unterscheidet, die stets symbolisch vermittelt werden. Straub, Jürgen: Personale und kollektive Identität, Zur Analyse eines theoretischen Begriffs. In: Assmam, Aleida/Friese, Heid tun (Hg.); Identitäten. Frankfurt a, M, t998 (Erinnerung, Geschichte, Identität 3), 73-104y hier 94. — Siehe auch: Brnf)akert RogersfCooper, Frederick; Beynnd „Identity". In-. Theory and Society 29/1 (2000) 1—47. — Wodak, Ruth u.a.: Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität. Frankfurt a. M. 1998. 18 í. Kapitel zwischen sprachlich und kulturell verschiedenen Städterinnen und Städter waren. Die Arbeit rekurriert damit auf die zwei grundlegenden Konzepte der konstruktivistischen Nationalismus- und Ethnizitätsforschung: die „vorgestellten Gemeinschaften" {imagined communities)*1 und die „situative Ethnizität" {situational ethnicity)*** Nationen, Nationalitäten, nationale Mehr- und Minderheiten, Ethnien und ethnische Gruppen sind dem zufolge gedachte Ordnungen, das heißt von Menschen erzeugte, kulturelle Produkte. Darüber hinaus betont besonders das Konzept der situativen Ethnizität den relationalen und kontextabhängigen Charakter von Wir-Gruppen: Diese entstehen durch einen Konstruktionsprozess, „which incorporates* adapts, and amplifies preexisting communal solidarities, cultural attributes* and historical memories".49 Gerade die Erkenntnis, dass Ethnizität immer prozesshaft ist, lässt es sinnvoll erscheinen, Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. 2. Überarb. und erw. Aufl. London, New York 1991. — Zur kontroversen Rezeption des Ansatzes in den Geschic hts- und Geis res wis sen schiften: Haupt, H ei n z-Gerhard /Tacke, Charlotte: Die Kultur des Nationalen. Sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze bei der Erforschung des europäischen Nationalismus im 19, und 20. Jahrhundert. In: Hardtwig, Wolfgang/l^A/er, Hans-Ulrich (Hg.): Kulturgeschichte heute. Göttingen 1996, 255-283. — Hrocb, Miroslav: Das Europa der Nationen, Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich. Götringen 2005. — Langwiescbt, Dieter: Was beißt „Erfindung der Nation"? Nationalgeschichte als Artefakt — oder Geschichtsdeutung als Machtkampf. In: Historische Zeitschrift (im Folgenden HZ) 277/3 (2003) 593-617. — Mergel, Thomas; Benedict Andersons Imagined Communities: Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. In: Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. 2,, erw. Aufl. der Neuausgabe Frankfurt a. M. u. a. 2005, 281-306. — Sarasin, Philipp: Die Wirklichkeit der Fiktion. Zum Kon2cpt der imagined communities. In: jurdt, Ulrike (Hg.): Politische Kollektive. Die Konstruktion nationaler, rassischer und ethnischer Gemeinschaften. Münster 2001, 22^5. Z. B. Okafftffra, Jonathan f.: Situational Ethnicity. In: Ethnic and Racial Studies 4/4 (1981) 452-465. — Eriksen, Thomas Hylland: The Cultural Contexts of Ethnic Differences. In: Man, N. F. 26/1 (1991) 127-144. — Dm.: Ethnicity and Nationalism. 2. Aufl., London 2002, insb. 18—58. — Das soziologische Konzept der „situativen Ethnizität" ist älterj gleichwohl fand es wesentlicher später Eingang in die Geschichtswissenschaft als das der imagined communities. Siehe Rahden: Juden 19-20. — Ders.: Weder Milieu noch Konfession, Die situative Ethnizität der deutschen Juden im Kaiserreich in vergleichender Perspektive. In: Biaschke, Olaf/Kuhlematin, Frank-Michael (Hg.): Religion im Kaiserreich. Milieus - Mentalitäten — Krisen. Gütersloh 1996 (Religiöse Kulturen der Moderne 2), 409-453. — Auf die historische Belastung von Begriffen wie „Ethnizität" und „Hybridi-tat" verweisen zu Recht: Wengs: Integration, 39. — Wotf: Gefährliche Ideen. — Hct, Kien Nghi: Kolonial - rassistisch - subversiv - postmodern. Hybridität bei Homi Bhaba und in der deutschsprachigen Rezeption. In: Habermas, Rebekka/' Maüinckrodtf Rebekka von (Hg.): Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn, Europäische und angloameri-kanische Positionen der Kulturwissenschaften. Göttingen 2004, 53-69. Con%en, Kathleen Neils u, a.: The Invention of Ethnicity. A Perspective from the U.S.A. In: Journal of American Ethnic History 12/1 (1992) 3-41, hier 4—5. — Vgl. auch Höckmann, Friedrich: Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnisch er Beziehungen. Stuttgart 1992, 30-39, insb. 37-38. Einleitung 19 anstelle von Gruppen, Gemeinschafren oder Milieus Kol lekti Woeste Hungen (grvapftess) und die mit ihnen zusammenhängenden Interaktionsbeziehungen zu untersuchen.st) Schließlich werden dem hier vorgeschlagenen Konzept einer integrierten Stadtgeschichte die Erkenntnisse der KuUmtransrerforschung, der Shared oder Connected HiStöry und vor allem der Histoire craise'e zugrunde gelegt. Diese Ansätze reagier(tjen auf die Herausforderung einer transnationalen Geschichtsschreibung, die sich seit den 1980er Jahren zunehmend stellt, und konzeptualisieren Prozesse des Austauschs und der Verflechtung. Sie rücken Phänomene wie Mehrsprachigkeit, Mehrfachidentitäten und Grenzüberschreitungen in den Fokus historischer Forschung, Damit zeigen sie zugleich eine hohe Aufmerksamkeit für einzelne historische Akteure und ihre Erfahrungen.51 Obwohl die grenzüberschreitenden Phänomene „keine Gesellschaft jenseits der Nation" (Michael Werner/Benedicte Zimmermann) schufen, konstituierten sie in der Stadt eine Vielzahl transnationaler beziehungsweise transkultureller Zwischenräume. Diese Zwischen- oder Grenzräume werden hier mit den Worten des Historikers Johannes Paulmann als „Übergangszonen verdichteter Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Kulturen" begriffen,52 Dieser Definition liegt ein Verständnis von Kultur als veränderlichen Ensembles von Verhaltensweisen, Wahrnehmungs- und Deutungsmustern zugrunde. ^ ftntbak.tr, Rogers: Ethnicity Without Groups. Cambridge 2004, insb. 7-27. 51 Wemerf Zimmermann: Vergleich 528-636, — Werner, Michael: Transfer und Verflechtung, Zwei Perspektiven zum Studium soziokultureller Interaktionen. In: MiHerbauer, g&/Stbrrke, Katharina (Hg.): Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart. Wien 2005 (Studien zur Moderne 22), 95-107, — Aus der Fülle der Literatur fcur historischen Kukurtransferforüchurig sei hier angeführt: Jüspagne, Michel/ Werner, Michael: Deutsch-Französischer Kulturtransfer im 18. und 19, Jahrhundert. Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm des C-N.R.&. In: Francia 13 (1985) 502-510.— Dies. (Hg.): Transferts. Les relations interculmrelles dans l'espace franco-allemand (XVIIIe et XlXe siecle}, Parts 1988. —Lü'sebrink, Hans-Jürgen (Hg.): Kukurtransfer im Epochenumbruch Frankreich - Deutschland 1770 bis 1815. Leipzig 1997 (Deutschfranzösische Kulrurbibiiothek 9).—Middtll, Matthias: Von der Wechsel sei tigkeit der Kulturen im Austausch. Das Konzept des Kultuttransfers in verschiedenen Forschungskontexten. In: Langer, Andrea (Hg.): Metropolen und Kulturtransfer im 15./16. ]a.hrhun-dert. Prag - Krakau - Dartzig — Wien, Stuttgart 2001 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des ösdichen Mitteleuropa 12), 15-51. — Schmale, Wolfgang/JVrer, Martina (Hg.): Kulturtransfer in der jüdischen Geschichte. Frankfurt a. M. 2006. — Zur Sbared Histoiy, einem Konzept aus dem angelsächsischen Forschungskuntcxt vgl. Conrad, Sebastian/Rtw-deria, Shalini: Einleitung. Geteilte Geschichten - Europa in einer postkoitalen Welt. In: Dies. (Hg,): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichtsund Kulturwissenschaften. Frankfurt a, M., New York 2002, 9-49. ^ ?iiuhnannt Johannes: Grenzüberschreitungen und Grenzraume. Überlegungen zur Geschichte trans national er Beziehungen von der Mitte des 19, Jahrhunderts bis in die Zeitgeschichte. In: Cen^e, Eckart/Lappenkiiper, Ulrich/Miiikr, Guido (Hg.): Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin. Köln 2004, 169-196, hier 183-184. 20 /. Kapitel Die historischen Akteure sind in dieser Perspektive nicht Mitglieder einer Nationalkultur, sondern „kontextuelle Benutzer kultureller Repertoires".53 Der Begriff der transnationaien und transkulturellen Zwischenräume steht in einer Reihe mit weiteren Konzepten wie etwa den contact ypnes und meeting places, die die kulturelle Vielfalt und Differenz in räumlichen Dimensionen zu erfassen suchen. Insbesondere das von der Geografin Doreen Massey vorgeschlagene Konzept der meeting places bietet eine zusätzliche Beobachtungsperspektive. Laut Massey stellen meeting places Orte dar, „where specificity (local uniqueness, a sense of place) derives not from some mythical internal roots nor from a history of relative isolation [...] but precisely from the absolute particu-larity of the mixture of influences found there."54 Demnach sind Orte beziehungsweise Räume immer Produkte sozialer Beziehungen und zeichnen sich durch eine Gleichzeitigkeit distinkter und dennoch mannigfaltig vernetzter Narrative aus. Aus diesen konzeptionellen Zugängen ergeben sich folgende Leitfragen für die Arbeit: In welchen sozialen Situationen beziehungsweise Kontexten nahmen die Akteure Alteritat wahr, und wie deuteten sie diese? Welche Unterschiede, aber auch Überschneidungen gab es zwischen den verschiedenen ethnisch-nationalen Identitätskonstruktionen? Wo stießen sie auf Grenzen und verloren ihre Relevanz? Oder anders formuliert: Welche weiteren Zugehörigkeiten prägten die Kontakte und Beziehungen der Städterinnen und Städter? Schließlich hat eine integrierte Stadtgeschichte ebenso danach zu fragen, wie die Akteure den Urbanen Raum wahrnahmen, wie sie ihn sich aneigneten und formten. Wie „materialisierte" sich die sprachlich-nationale und ethnischkulturelle Heterogenität der Akteure im städtischen Raum? 53 Randeriti, Shalini: Geteilte Geschichte und verwobene Moderne. In; Riisett, Jörn (Hg.): Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung. Frankfurt a. M. 2000, 87-96., hier 94. — Zur Notwendigkeit der Anwendung neuerer kulturgeschichtlicher Konzepte im Bereich der deutsch-tschechischen (und deutsch-slowakischen) Beziehungsgeschichte Marek, Michaela: Kultur als Vehikel und als Opponent politischer Absichten. Einleitung. In: DiesJKoväi, Dusan/Pip/f/fe, )vtifPrabl, Roman (Hg.): Kultur als Vehikel und als Opponent politischer Absichten. Kulturkontakte zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre. Essen 2010, 1-14 (Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission). 54 Massey, Doreen: Imagining Globalization: Power-Geometries of Time-Space. In: Dies.: Power-Geometries and the Politics of Space-Time. Heidelberg 1999 (Hettner lectures 2), 9-23, hier 22. — Siehe hierzu auch: Berkittg, He]muth/Lö'a>, Martina: Wenn New York nicht Wanne-Eickel ist... Uber Städte als Wissensobjekt der Soziologie. In: Dies. (Hg.): Die Wirklichkeit der Städte. Baden-Baden 2005, 9-22.