2.218 Swantje Ehlers Lesen als Verstehen Zum Verstehen fremdsprachlicher literarischer Texte und zu ihrer Didaktik 0 Fernstudieneinheit 2 MZK-NK Brno II Hill II lull,'!!1, 2G1D001845« P BRÜNN !J Fernstudienprojekt zur Fort- und Weiterbildung im Bereich Germanistik und Deutsch als Fremdsprache Teilbereich Deutsch als Fremdsprache Kassel • München • Tübingen CD LANGENSCHEIDT Berlin ■ München • Wien ■ Zürich ■ New York Einleitung Lieber fremdsprachiger Leser, diese Studieneinheit wendet sich an Sie, den Leser, für den die deutsche Literatur eine fremde ist und der gerne mehr von dieser Literatur verstehen möchte, der nach Mitteln und Wegen sucht, um sich diese Literatur und ihre Inhalte erschließen zu können, der neugierig ist und offen für Neues. Vor allem aber wendet sie sich an den, der gerne liest und der lernen möchte, wie man fremdsprachliche literarische Texte lesen kann, daß sie sich in ihrer Eigenheit und ihrem fremden Zauber entfalten können. Diese Studieneinheit wendet sich auch an den, der wissen möchte, wie er in seinem Unterricht mit literarischen Texten arbeiten kann, um sie seinen Studenten/Schülern näherzubringen, daß sie mehr und besser verstehen. Und damit bin ich schon bei den zwei Schlüsselbegriffen dieser Studieneinheit: dem Leser und seinem Verstehen. Was heißt, Verstehen'? Und was tut der Leser, um zu verstehen? Das sind die Leitfragen, die schrittweise behandelt werden. Lesen ist eine Verstehenstätigkeit, die darauf zielt, sinnvolle Zusammenhange zu bilden. Sie wird auf der einen Seite gesteuert von dem Text und seiner Struktur*, auf der anderen Seite von dem Leser, der sein Vorwissen, seine Erfahrung, seine Neigungen und sein Interesse an einen Text heranträgt. Das Gespräch zwischen Text und Leser ist das Thema, das sich durch die Studieneinheit zieht. Die Faktoren, die dieses Gespräch beeinflussen, werden in den einzelnen Kapiteln herausgearbe: tt und auf ihre lesedidaktische Bedeutung hin geprüft. Alle Kapitel sind so aufgebaut, daß zuerst von einem literarischen Text ausgegangen wird, um in der Auseinandersetzung mit ihm aufzuzeigen, wie ein Leser zu bedeutungsvollen Zusammenhängen gelangen kann und wovon seine Tätigkeit im einzelnen gelenkt wird, Im letzten Teil eines jeden Kapitels wird dann der Frage nachgegangen, welche Folgen die zuvor gewonnenen Einsichten für den fremdsprachlichen Literaturunterricht haben. Was will diese Studieneinheit? - Sie möchte Einblick geben in lesetheoretische Zusammenhänge. - Sie möchte ein wenig von der Vielfalt literarisch-ästhetischer* Spielregeln und Techniken vermitteln, die literarische Texte benutzen, um den Leser und seine Verstehenstätigkeit zu lenken. - Sie möchte ebenfalls deutlich machen, daß literarische Strategien* und Darstellungstechniken konventionalisiert sind und daß ein Leser diese Konventionen* kennen muß. - Sie möchte ein kleines Repertoire an Deutungs- und Gesprächsmöglichkeiten entwickeln. - Sie möchte Anregungen geben für den fremdsprachlichen Literaturunterricht. - Sie möchte Möglichkeiten öffnen, wie man mit Texten arbeiten kann. - Sie möchte zur Diskussion auffordern und jeden Leser ermutigen, sich selbst mit seinen Erfahrungen und Neigungen einzubringen. - Aber sie legt auch Wert darauf klarzumachen, daß das Verstehen von Texten nicht beliebig ist, sondern daß man die ihnen eigene Sprache kennen muß, um mit ihnen „sprechen" zu können. Lesen und Verstehen kann man lernen, und nach meiner Auffassung sind die Texte selbst die besten Lehrmeister - sie zeigen dem Leser vielfältige Wege des Verstehens und Deutens (=hermeneutische* Wege). Sie enthalten in dem Sinne ihre Verstehenslehre, die ich mit Ihnen gemeinsam aufdecken möchte. Benutzerhinweise: Da einzelne Fragestellungen, Begriffe und Zusammenhänge schrittweise von Kapitel zu Kapitel entwickelt werden und somit aufeinander aufbauen, sollten Sie als Leser sich von dieser Studieneinheit - von mir also - zunächst führen lassen und der Spur der einzelnen Gedanken folgen. Es beginnt ganz leicht und mit einfachen Texten, und es wird zunehmend schwieriger. Ich habe moderne und ältere Texte ausgewählt. Sie werden immer wieder auf kleine und größere Aufgaben stoßen, die Sie dazu auffordern, sich Ihre eigenen Gedanken zu machen und Sie somit zu immer neuen Verstehens- und Deutungshandlungen veranlassen möchten. Am Ende der Studieneinheit stehen die Lösungen zu den einzelnen Aufgaben, die Sie dann nachschlagen können. Im „Reader" finden Sie neben den verwendeten Texten noch zusätzliches Material zur Literaturgeschichte und zur Biographie der Autoren bzw. Autorinnen. Abschließend bleibt mir noch zu sagen: Es gibt nicht eine Wahrheit, nicht eine Sichtweise und nicht eine Deutung. Wo immer ich hier meinen Standpunkt, meine Art, die Dinge zu sehen und die Texte zu deuten, hereingetragen habe, stelle ich diese auch zur Diskussion und öffne mich dem Gespräch mit Ihnen, dem fremdsprachigen Leser. Verstehen Ziel Text Was heißt es, einen literarischen Text zu verstehen? Was soll verstanden werden? Welche Voraussetzungen braucht ein Leser, um einen Text zu verstehen? Von diesen Fragen möchte ich im folgenden Kapitel ausgehen, um dem Leser einen Einstieg in die Thematik der gesamten Studieneinheit zu geben. Es sollen ihm jene Grundlagen vermittelt werden, die eine sinnvolle Planung des Literaturunterrichts erst ermöglichen. Zunächst möchte ich an einem kleinen Textbeispiel einige Begriffe und Vorgänge aufzeigen, die bestimmend sind für das Lesen und Verstehen von Texten. Bitte lesen Sie den folgenden Text von Hans Manz: Verstehen Du bist noch zu klein, um das zu verstehen, das kannst du noch nicht verstehen, nein, das verstehst du nicht, verstehst das nicht, noch nicht, verstanden!!! Manz (1974), 12 Dieser Dialog verweist auf eine bestimmte Situation, Aufgabe 1 1. Konnten Sie sich beim Lesen dieses Textes die Situation vorstellen? 2. Können Sie sagen, wer zu wem spricht, in welchem Tonfall, mit welcher Gestt yiarum er so sprich! und mit welcher Absicht? Ich jedenfalls habe die Situation genau vor Augen, wie ein Erwachsener zu einem Kind spricht. Ich höre fast, wie er die einzelnen Sätze und Wörter ausspricht; wie er sie betont, vielleicht sogar, welches Gesicht er dabei macht und welche Geste er mit der Hand und dem Arm ausführt. Ich kann mir das deshalb so genau vorstellen, weil es typisch ist für ein bestimmtes Verhalten Erwachsener gegenüber Kindern in einer bestimmten Situation. Dieses Verhalten zeigt sich in einzelnen Formulierungen wie „Du bist noch zu klein, um das zu verstehen" oder „Nein, das verstehst du nicht". Es gibt viele Gründe, warum Erwachsene so sprechen. Vielleicht ist es etwas, was ein Kind tatsächlich noch nicht versteht oder nicht wissen soll. Oder die vielen Fragen des Kindes sind ihnen lästig, und sie werden ungeduldig. Vielleicht haben sie keine Zeit oder wollen sich keine Zeit nehmen, um einem Kind etwas zu erklären. In diesen Äußerungen spiegelt sich nicht nur ein äußeres Verhalten wie Tonfall und Gestik, sondern auch eine innere Einstellung gegenüber Kindern. Alles, was Sie und ich bisher Uber den Text gesagt haben, steht nicht direkt darin. Es werden lediglich einzelne Äußerungen aneinandergereiht, die uns, den Lesern, die zugrundeliegende Situation anzeigen. Es wird nicht gesagt, wer zu wem spricht, warum und weshalb, in welchem Ton und mit welcher inneren Einstellung. Und dennoch können wir all diese Fragen beantworten. Ein Leser kann auch noch mehr aus diesem Text herauslesen. Er weiß, daß literarische Texte im allgemeinen eine Pointe* haben, einen Hauptgedanken, um den das Ganze kreist und der einen Text erst interessant und lesenswert macht für den Leser. Haben Sie eine Vermutung, worin die Pointe dieses Textes bestehen könnte? Ja? Nein? Unsicher? Dann gehen Sie weiter mit mir, daß wir die Pointe gemeinsam finden. Schauen wir uns den Text noch einmal genauer an. Er enthält einzelne Äußerungen, die zunächst alle dasselbe sagen, nämlich jemand ist der Meinung, ein anderer würde etwas nicht verstehen. Wer was nicht versteht, erfahren wir nicht; auch nicht, wer hier spricht. In jeder Zeile wird die Aussage etwas anders ausgedrückt. „Nein, das verstehst du nicht" klingt unwilliger, bestimmter, ärgerlicher und vielleicht aggressiver als „Du bist noch zu klein, um das zu verstehen". Zu der Inhaltsaussage, daß jemand nicht versteht, kommen Nebentöne - sogenannte Konnotationen* - hinzu, die sehr viel über den Sprecher und sein jeweiliges Verhalten aussagen. Mit j eder Zeile wird der Tonfall des Sprechers unfreundlicher und drohender gegenüber dem Angesprochenen, dem Kind, bis zu dem abschließenden „Verstanden!!!", mit dem der Sprecher autoritativ jedes weitere Gespräch beendet. Dieses „Verstanden!!!" steht inhaltlich im Widerspruch zu der vorhergehenden Behauptung, daß der andere nicht versteht. Darin liegt auch der Witz (= die Pointe) dieses Textes. Doch außer der Situation und der Pointe enthält dieser Text noch etwas. Der Autor möchte mit der Charakterisierung des Verhalteos von Erwachsenen etwas ausdrücken. Er hat eine Absicht ( = I n te n t i o n * ), mit der er diesen Text geschrieben hat. 1. Was meinen Sie, was möchte der Autor mit diesem Text ausdrücken ? 2. Wie sieht erden Erwachsenen und sein Verhalten gegenüber Kindern ? Aufgabe 2 Weder die Pointe noch die Perspektive* des Autors werden dem Leser direkt mitgeteilt, und dennoch erfaßt er sie. Wie kommt nun ein Leser dazu, all diese Bedeutungsaspekte wie Situation, Pointe, Autorenperspektive aus dem Text herauszulesen? Die im Text verwendeten Äußerungen charakterisieren eine alltägliche Situation, in der ein Erwachsener auf belehrende und besserwisserische Weise zu einem Kind spricht. Ein Leser, der ein solches Verhalten von Erwachsenen kennt, kann die einzelnen Äußerungen sofort einordnen und auf die entsprechende Situation beziehen. Dadurch erst werden sie sinnvoll und verständlich. Das kann der Leserabernur tun, weil er erstens die Sprache kennt und somit die Äußerungen versteht und weil er zweitens ein Wissen mitbringt über Erwachsene und ihr Verhalten gegenüber Kindern. Aufgrund seines Sprachwissens, seiner Erfahrungen und seines Vorwissens interpretiert* der Leser die einzelnen Äußerungen und erfaßt die beschriebene Situation, die Pointe und die Kritik des Autors an solchen Erwachsenen. Da aber jeder Leser wiederum eine andere Vorstellung von der Wirklichkeit hat, wird er den Text jeweils auf sein Bild von Wirklichkeit beziehen, so daß unterschiedliche Deutungen entstehen. Der eine empfindet das „Verstanden!!!" als besonders hart und bedrohlich; der andere empfindet es eher als komisch, und der dritte lehnt die im Text enthaltene Kritik des Autors ab. Jeder Leser trägt somit etwas von sich hinein und bewertet dementsprechend auch den Text. Kommt ein Leser aus einer anderen Kultur und ist mit der Wirklichkeit, auf die der Text sich bezieht, nicht ganz vertraut, dann erkennt er vielleicht die Nebentöne und die Kritik des Autors nicht. Wie ist es mit Ihren Schülern ? Würden Ihre Schüler die Gesprächssituation, die Charakterisierung des Erwachsenen und die Kritik an dessen Verhaltensweisen erfassen ? Aufgabe 3 Wenn Säe die zu Anfang gestellten Fragen beantworten konnten, dann haben Sie bereits vier Verstehensstufen durchlaufen: 1. Sie haben den Inhalt der einzelnen Äußerungen verstanden. 2. Sie haben aufgrund dieser Äußerungen und ihrer Konnotationen die zugrundeliegende soziale Situation mit den charakteristischen Verhaltensmerkmalen von Erwachsenen erkannt. 6 7 Zusammenfassung 3. Sie haben aufgrund der Situation und des inhaltlichen Widerspruches (Nicht-Verstehen - Verstanden) die Pointe des Textes abgeleitet. 4. All diese Aspekte* zusammen haben es Ihnen ermöglicht, die Kritik des Autors zu erkennen und damit die Gesamtintention des Textes zu erfassen. Mit jeder Stufe bilden Sie einen neuen Zusammenhang; Sie dringen damit tiefer in den Text ein und verstehen mit jedem Zusammenhang mehr. Wenn man will, kann man noch einen Schritt weitergehen, indem man nun den Text verläßt und seine Aussage verallgemeinert, d.h. allgemein über Erwachsene und Kinder in dieser und/oder Ihrer Gesellschaft spricht. Moglicherweise kann man auch vergleichen. Man hätte dann eine weitere Verstehensstufe: 5. Verallgemeinerung des Textes und Einordnung in den entsprechenden gesellschaftlichen Zusammenhang. Vergleichen mit und/oder Abgrenzen von der Gesellschaft des jeweiligen fremdsprachigen Lesers. Die Unterscheidung von Verstehensstufen ist wichtig für den Unterricht, denn mit jeder Stufe muß ein Leser mehr wissen und mehr können, um zu verstehen. Das wörtliche Verstehen der einzelnen Äußerungen ist leichter und stellt weniger Anforderungen an den Leser als das Erfassen der Pointe und der Gesamüntention des Textes. Andererseits muß ein Leser erst einmal den Text wörtlich verstehen, bevor er die Pointe und die übergeordnete Absicht versteht. Somit spiegeln die einzelnen Verstehensstufen unterschiedliche Fähigkeiten (= Kompetenzen*) eines Lesers. Ein muttersprachiger Leser wird wahrscheinlich mit einem Blick die verschiedenen Aspekte des Textes erfassen, weil er über das notwendige Sprachwissen und entsprechende Sachkenntnisse verfügt. Aber Ihre Schüler können das nicht unbedingt. Sie wollen ja erst lernen, einen fremdsprachlichen Text zu verstehen. Hier können wir schon eine erste Regel für den Unterricht aufstellen: Gehen Sie vom Einfachen zum Schwierigen und vom Einzelnen zum Übergeordneten. 1. Wir lesen und verstehen in einem literarischen Text sehr viel mehr als in ihm direkt ausgesagt i:' | Selbst ein so kleiner und sprachlich einfacher Text wie dieser von H. Manz enthält eine Fülle weiterer Informationen, die zusammen erst das Bild einer komplexen Situation ergeben. 2. Ein literarischer Text beschreibt eine Situation oder ein Geschehen nicht vollständig, sondern nur in einzelnen Aspekten. Alles Gesagte verweist somit auf einen Wirklichkeitszusammenhang, der aber imText selbst nicht unbedingt genannt wird. 3. Um einen Text zu verstehen, muß ein Leser diesen Wirklichkeitszusammenhang erfassen. Dazu braucht er wiederum ein Wissen Uber die Sprache, über Texte und über die Welt (= Hintergrundwissen oder Kontextwissen*). 4. Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, dann können Verstehensprobleme und/oder Verzerrungen auftreten. 5. Dajeder Leser aber mit „seinen Augen"liest, d.h. immer vordem Hintergrund seiner Vorstellungen und Erfahrungen, entstehen unterschiedliche Deutungen. 6. Jeder literarische Textenfhält verschiedene Bedeutungsebenen, für deren Verständnis ein Leser unterschiedliche Verstehensleistungen erbringen muß. 7. Diese Verstehensstufen können jeweils Lehr- und Lernziele für den Literaturunterricht bilden, auf die ein Lehrer schrittweise hinführen kann. 2.1 Der Leser als Mitspieler Während des Lesens ordnen wir fortlaufend einzelne Mitteilungen in Zusammenhänge ein; das kann eine soziale Situation sein, ein Geschehen oder die Gesamtabsicht eines Autors. Nun gibt es in literarischen Texten verschiedene Möglichkeiten, Zusammenhänge sichtbar zu machen oder zu verschlüsseln. Dementsprechend lesen sich manche Texte leicht und flüssig, weil alles Gelesene sich sofort in Bilder und Gedanken umsetzt. Andere dagegen lesen sich schwerer; der Leser muß vielleicht in der Lektüre innehalten, zurückblättern und darüber nachdenken, was wohl gemeint sein könnte. Im folgenden möchte ich mit Ihnen der Frage nachgehen, wie eigenflichZusammenhän-ge entstehen und welchen Anteil der Leser daran hat. Lesen Sie einmal den Anfang des folgenden Prosatextes von Reiner Kunze und überlegen Sie: Wer sagt....... ? Was ............? Wie.............? Worüber.........? Hinweis: In dem Text kommt die Redewendung „nichts auf die Meinung anderer geben" vor. Das bedeutet: Die Meinung anderer ist einem nicht wichtig; man beachtet sie nicht. Für „lässig" kann man auch sagen; „locker" oder „leger". Das Verb „unterschreiben" wird hier reflexiv gebraucht. Das bedeutet: Sie haben nicht nur mit ihrem Namen unterschrieben, sondern mit ihrer ganzen Person. Fünfzehn Sie trägt einen Rock, den kann man nicht beschreiben, denn schon ein einziges Wort wäre zu lang. Ihr Schal dagegen ähnelt einer Doppelschleppe: lässig um den Hals geworfen, fällter in ganzer Breite Uber Schienbein und Wade. (Am liebsten hätte sie einen Schal, an dem mindestens drei Großmütter zweieinhalb Jahre gestrickt haben - eine Art Niagara-Fall aus Wolle. Ich glaube, von einem solchen Schal würde sie behaupten, daß er genau ihrem Lebensgefühl entspricht. Doch wer hat vor zweieinhalb Jahren wissen können, daß solche Schals heute Mode sein würden. Zum Schal trägt sie Tennisschuhe, auf denen sich jeder ihrer Freundeund jede ihrer Freundinnen unterschrieben haben, Sie ist fünfzehn Jahre alt und gibt nichts auf die Meinung uralter Leute - das sind alle Leute über dreißig. Könnte einer von ihnen sie verstehen, selbst wenn er sich bemühen würde? Ich bin über dreißig. Kunze (1976), 27 Auch in diesem Textabschnitt bleibt vieles ungesagt, was der Leser mitlesen muß, damit die einzelnen Mitteilungen verständlich werden. Man kann sich diesem unausgesprochenen Zusammenhang nähern, indem man zunächst von den oben genannten Fragen ausgeht. Der Autor beschreibt schrittweise, was dieses Mädchen trägt, wie es sich verhält, welche Einstellung es gegenüber Erwachsenen hat. Während des Lesens fügen sich diese Einzelteile zusammen zu dem äußeren Erscheinungsbild eines fünfzehnjährigen Mädchens. Damit ist ein erster Zusammenhang entstanden. Mit dem Äußeren charakterisiert der Autor jedoch nicht allein dieses eine Mädchen, sondern er stellt einen bestimmten Typ von Jugendlichen dar. Ziel Aufgabe 4 Text Aufgabe 5 Beantworten Sie bitte folgende Fragen: 1. Was ist typisch jugendlich an diesem Mädchen ? 2. Ist Ihnen dieses Verhalten vertraut? 3. Verhalten sich Jugendliche in Ihrem Land ähnlich? 4. In welche Zeit (50er, 60er... Jahre) und in welche Gesellschaft (westeuropäisches Land, amerikanisches Land... etc.) würden Sie dieses Mädchen einordnen? Aufgabe 6 Was immer Sie jetzt geantwortet haben, Ihre Antworten stehen nicht selbst im Text. Im Text werden nur die äußeren Merkmale eines Mädchens beschrieben. Diese signalisieren dem Leser zeitliche und gesellschaftliche Zusammenhänge, so daß er über den Text hinausgehen kann und dieses Mädchen als einen bestimmten Typ einer Jugendlichen in den entsprechenden gesellschaftlichen Zusammenhang einordnen kann. Aufgrund unseres allgemeinen Wissens über Jugendliche und ihr Verhalten können wir an konkreten Einzelheiten wie Rock, Schal und Turnschuhen das Typische erkennen. Wenn Sie Unterschiede und/oder Gemeinsamkeiten zu Jugendlichen in Ihrem Land entdeckt haben, dann ordnen Sie dieses Mädchen in einen noch umfassenderen Zusammenhang ein, in dem Sie die Welt des Textes Ihrem eigenen kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhang gegenübergestellt haben. Bestehen z.B. Unterschiede in der Kleidung und im Verhalten zu Jugendlichen in Ihrem Land, so erhält dieses Mädchen für Sie vielleicht noch eine zusätzliche Kennzeichnung: ein „deutsches" Mädchen; ein Mädchen „in einer westlich-europäischen Gesellschaft". Für mich ist dieser Kontext so selbstverständlich, daß ich ihn nicht extra benennen würde. Sie jedoch würden durch eine solche Kennzeichnung den Zusammenhang, in dem dieses Mädchen steht und der für Ihr Verständnis wichtig ist, hervorheben und zugleich von Ihrer Erfahrungswelt abgrenzen. Sie tragen damit eine andere Perspektive an den Text heran als ein deutschsprachiger Leser (= P e r s p e k t i v e des realen fremdsprachigen Lesers). Bisher haben wir uns vor allem dem T e x t i n h a 11 zugewandt und wie sich dieser für einen fremdsprachigen Lese* vor dem Hintergrund seiner Erfahrung beleben könnte. Doch geht es in einem liter^ischen Text nicht nur um das, wag dargestellt wird, sondern vor allem auch darum, wie etwas dargestellt wird. Ich kann z.B. sagen „Der Schal ist sehr lang." oder „Der Schal ist so lang, daß er fast bis zum Boden fällt." oder wie es im Text heißt: „Ihr Schal dagegen ähnelt einer Doppelschleppe...". Im Kern sagen alle diese Sätze, daß der Schal lang ist, aber sie sagen es jeweils anders und vermitteln damit Nebenbedeutungen, die ein Leser miterfassen muß. Je nachdem, wie etwas gesagt wird, drückt ein Autor unterschiedliche Wertungen aus. Die sprachlichen Ausdrucksmittel (= S t i 1 m i 11 e 1) zeigen somit die Perspektive, die der Autor gegenüber dem Mädchen einnimmt. 1. Was meinen Sie: Wie sieht der Autor das Mädchen?- Kritisch, distanziert, wohlwollend, positiv, negativ, liebevoll, ironisch, interessiert, mit Sympathie, mit Abstand ...etc.? Bitte begründen Sie auch Ihre Meinung. 2. Worin drückt sich die Einstellung des Autors gegenüber dem Mädchen aus? - In welchen direkten Aussagen und in welchen sprachlichen Formulierungen ? Ich habe einigen Deutschen die gleiche Frage gestellt. Hier sind einige Antworten, die Sie einmal mit den Ihren vergleichen können: 1. Eher negativ. 2. Sehr positiv, findet aber keinen Zugang zu ihr. Vielleicht ist es seine Tochter. 3. Mit Abstand und Sympathie. 4. Wohlwollend - steht darüber. Obwohl er die Mode nicht gut findet. 5. Liebevoll und humorvoll, glaubt sie einerseits zu kennen, hat aber auch seine Zweifel. 6. Er beschreibt sie mit einem Anteil von Distanz und versteckter Wertung. 7. Er kann sie nicht verstehen. 8. Interessiert, neugierig, betrachtend. Diese Antworten zeigen ganz deutlich, wie unterschiedlich Texte auf einen Leser wirken können und von ihm interpretiert werden. Zwar sind sich alle Leser darüber einig, daß Einstellungen des Autors mitschwingen, aber sie beantworten die Frage, welche Einstellungen, unterschiedlich: Die einen bewerten seine Haltung als eher negativ; die anderen positiv; die dritten wiederum stehen dazwischen. Das heißt, jeder Leser liest von seiner Position her: Alter, Geschlecht, hat selbst eine Tochter... etc. Person Äußerung Andrea: 31 Jahre alt, weiblich wiss. Mita rbeherin, ohne Kinder Kerstin: 25 Jahre alt, weiblich, wiss.Mitarbeiterin, ohne Kinder Michael: 40 Jahre alt, männlich, wiss. Mitarbeiter, ohne Kinder, unverheiratet Monika: 27 Jahre alt, weiblich, gerade das Germanistik-Studium beendet, ohne Kinder Peter: 50 Jahre alt, Professor, verheiratet, 1 Tochter, I Sohn Bärbel: 28 Jahre alt, weiblich, wiss. Mitarbeiterin, ohne Kinder Renate: 40 Jahre alt, weiblich, wiss. Mitarbeiterin, unverheiratet, ohne Kinder Sven: 36 Jahre alt, männlich, wiss. Mitarbeiter, verheiratet, 1 Sohn Aufgabe 7 Wie kommen unterschiedliche Deutungen bei Lesern zustande? R. Kunze verwendet bestimmte Stilmittel wie Übertreibung - z.B. „an dem mindestens drei Großmütter zweieinhalb Jahre gestrickt haben" - und Vergleiche wie z.B. „ähnelt einer Doppelschleppe" und erzeugt damit viele Nebenbedeutungen, die je nach Leser unterschiedlich interpretiert werden können. Dabei spielen Sprachgefühl und Sensibilität ebenso eine Rolle wie der persönliche Erfahrungshintergrund und das Kontextwissen (Kenntnisse über den Autor, seine Ansichten... etc.) eines Lesers. Wie der persönliche Erfahrungshintergrund eine Textdeutung beeinflussen kann, möchte ich kurz an der Reaktion einer Deutschen zeigen. Sie selbst wurde in ihrer 10 11 Aufgabe 8 Aufgabe 9 Jugendzeit ständig von ihren Ekern kritisiert. Was immer sie trug, es gefiel ihnen nicht und wurde nicht geduldet. Vor diesem Hintergrund empfand sie die Haltung des Autors als sehr positiv, da er die Mode zwar nicht gut findet, aber das Mädchen doch läßt. Ihre Antwort lautete dementsprechend: „Er sieht das Mädchen wohlwollend - obwohl er die Mode nicht gut findet." Wenn Sie möchten, vergleichen Sie Ihre Antworten aufdie Aufgabe 6 einmal mit denen von anderen Lesern. Vielleicht entdecken Sie, wie Ihre persönlichen Erfahrungen und Interessen Ihre Meinung beeinflußt haben. In literarischen Texten geht es also nicht nur darum, was aus welcher Perspektive dargestellt wird (Autoren- bzw.Erzählerperspektive), sondern auch darum, in welche Beziehung der Leser zu dem Dargestellten wie zu dem Autor/Erzähler gebracht wird (Leserperspektive). Texte bewirken etwas in einem Leser; sie sprechen seine Gefühle an und erzeugen Reaktionen auf bestimmte Figuren und Geschehnisse. Wie ist das bei Ihnen? 1. Wie finden Sie das Mädchen? - gefällt mir - gefällt mir nicht - ist nicht mein Typ - wirkt fröhlich - ist unkonventionell 2. Wer ist Ihnen sympathischer - der Autor oder das Mädchen ? 3. Oder sind Ihnen beidr gleichgültig bzw. fern/fremd? Falls Sie in einer Gruppe zusammenarbeiten, vergleichen Sie Ihre Antworten. Sprechen Sie über Ihre Leseerfahrungen. Je nachdem, wer Sie sind, wie dieser Text Sie anspricht, welche Gefühle, Assoziationen und Einstellungen bei Ihnen wachgerufen werden, werden Sie das Mädchen und den Autor einordnen und bewerten. Ihre Subjektivität* fließt fortwährend in die Zusammenhänge ein, die Sie in der Auseinandersetzung mit dem Text bilden. Damit haben wir auch die Antwort auf die Ausgangsfrage dieses Abschnittes: Die-Unterschiedlichkelt von Deutungen beruht einerseits darauf, a) daß literarische Texte ihre Zusammenhänge offenlassen und damit dem Leser den Spielraum lassen, sich selbst mit seinen Erfahrungen, Wertorientierungen und Neigungen einzubringen; b) zum anderen hängt sie davon ab, wer den Text liest und welche Erfahrungen und Vorkenntnisse (= Vorverständnisse) er heranträgt. Ein jugendlicher Leser wird diesen Text anders lesen als ein Erwachsener. Vielleicht kann er sich mit dem Mädchen identifizieren* und wird daher wenig Verständnis für den Autor aufbringen. Ein Erwachsener wiederum könnte sich eher in dem Autor und seiner Distanz gegenüber dem Mädchen wiederfinden. Die Art und Weise, wie literarische Texte den Leser ansprechen, ihn in ein Geschehen hineinziehen und ihn beeinflussen wollen, ist sehr unterschiedlich. Im 18Jahrhundert hat man dafür andere Mittel verwendet als in der Gegenwart. In Ihrer Kultur mag der Leser wiederum anders angesprochen werden als in meiner. Darin zeigen sieli jeweils gesellschaftliche und kulturelle Erfahrungsmuster. Die Leseerfahrung, die Sie selbst mit einem fremdsprachlichen Text machen, kann Ihnen einen Verstehenszugang zu fremden Erfahrungsmustern öffnen. Sie hat somit eine Verstehensfunktion, die vor allem für den Literaturunterricht eine wichtige Rolle spielt - wie wir noch sehen werden. 1. Verstehen heißt, einzelne Informationen eines Textes in Zusammenhänge einordnen. Dadurch erst entsteht Sinn. 2. Diese Zusammenhänge stehen nicht direkt im Text. Der Text gibt dem Leser nur Hinweise auf zugrundeliegende Zusammenhänge. 3. Eine Grundlage für den Leser, um Zusammenhänge zu bilden, ist folgendes: - was in einem Text worüber gesagt wird (= T e x t i n h a 11) - aus welcher Perspektive dargestellt/erzählt wird - mit welcher Absicht. Dabei gibt der Leser immer etwas von sich hinein. Er wird gleichsam zum Mitspieler des Textes. 4. In dem Text von R.Kunze entsteht a) ein inhaltlich-thematischer Zusammenhang durch die Typisierung des Mädchens, b) ein zweiter Zusammenhang durch die Perspektive des Autors, c) ein dritter durch den Bezug zum Leser. 5. In die Bildung dieser Zusammenhänge fließen fortlaufend subjektiv-emotionale Faktoren des Lesers ein. Wichtig ist nicht nur, wasein Leser versteht bzw. verstehen sollte, sondern auch wie er versteht. 6. Jeder Leser versteht einen Text nur vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen und seiner Weltsicht. Dieses Vorverständnis oder Vorurteil, wie es H.-G. Gadamer (1975, 250 ff.) nennt, kann allerdings zu Mißverständnissen führen. Vorurteile machen oft blind, Man projiziert* nur die eigene Welt in den fremden Text hinein. Das aber wäre kein Lernen, kein Sehen und kein Verstehen. 7. Um derartigen Verzerrungen vorzubeugen, sollte man immer wieder zu dem Text zurückkehren, genau lesen und prüfen, ob die eigenen Deutungen angemessen sind. 8. Doch bei aller Unterschiedlichkeit von Rezeptionen* und Leseerfahrungen beruhen diese Deutungen auf den unterschiedlichsten literarischen Spielregeln. In der Art, wie der Leser angesprochen und miteinbezogen wird, spiegeln sich Seh-und Erfahrungsmuster eines bestimmten kulturellen Raumes. 9. Die Reaktion des Lesers auf einen Text zeigt einmal, wie ein Leser versteht, zum anderen auch wie weit ein Leser einen Text und seine Wirkungen und Absichten versteht. Durch Selbstbeobachtung kann er sich die zugrundeliegenden Erfahrungsmuster des Textes erschließen. Zusammenfassung 12 13 2.2 Fragestrukturen für den Literaturunterricht Aufgabe 10 Aus den soeben getroffenen Überlegungen zu den Bedingungen und Voraussetzungen des Verstehens lassen sich F r a ge s t r ategien ableiten, mit denen Sie im Unterricht arbeiten können. Sie gWefTIhnen eine Entscheidungsgrundlage dafür, wie Sie ■fhTrScfiuler dazu befähigen können, sich einen fremdsprachlichen literarischen Text zu erschließen. 1. Welche Sinn- und Verstehensebenen enthält der Text? Verwenden Sie dabei die Fragen, die ich Ihnen bereits zur Texterschließung genannt habe: a) Wer spricht? 7 b) Worüber wird gesprochen? c) Was wird darüber gesagt? ) d) Wie wird es gesagt? J e) Welche Perspektive hat der Autor/Erzähler gegenüber dem, wovon er spricht? ■ f) Wefche Perspektive legt der Text dem Leser nahe - z.B. Identifikationen, Sympathien? g) Welche Perspektive hat möglicherweise der reale Leser (z.B. Ihre Lernergruppe)? 2. Was können Ihre Schüler spontan erfassen? Was könnte Schwierigkeiten bereiten? - Sprache, Inhalte, Konnotationen (Wertungen)? 3. Erfordert der Text ein Vorwissen, über das Ihre Schüler nicht verfügen? 4. Welche Textinhalte bieten Ihren Schülern wohl einen subjektiven* Einstieg? a) Worauf könnten sie emotional reagieren? b) Was könnte sie interessieren? c) Was könnte ihre Aufmerksamkeit erregen? Gibt es innerhalb des Textes Anknüpfungspunkte an die Erfahrungswelt Ihrer Schüler? - Bestehen Übereinstimmungen, Ähnlichkeiten und/oder Differenzen zwischen den beiden Welten? / 5. 1. Bitte lesen Sie den folgenden Textauszug aus dem Roman „Momo " von Michael Ende und 2. 'beantworten Sie die Fragen 1-5 in bezug auf diesen Text. Momo Aber eines Tages sprach es sich bei den Leuten herum, daß neuerdings j emand in der Ruine wohne. Es sei ein Kind, ein kleines Mädchen vermutlich. So genau könne man das allerdings nicht sagen, weil es ein bißchen merkwürdig angezogen sei. Es hieße Momo oder so ähnlich. Momos äußere Erscheinung war in der Tat ein wenig seltsam und konnte auf Menschen, die großen Wert auf Sauberkeit und Ordnung legen, möglicherweise etwas erschreckend wirken. Sie war klein und ziemlich mager, so daß man beim besten Willen nicht erkennen konnte, ob sie erst acht oder schon zwölf Jahre alt war, Sie hatte einen wilden, pechschwarzen Lockenkopf, der so aussah, als ob er noch nie mit einem Kamm oder einer Schere in Berührung gekommen wäre. Sie hatte sehr große, wunderschöne und ebenfalls pechschwarze Augen und Füße von der gleichen Farbe, denn sie lief fast immer barfuß. Nur im Winter trug sie manchmal Schuhe, aber es waren zwei verschiedene, die nicht zusammenpaßten und ihraußerdem viel zu groß waren. Das kam daher, daß Momo eben nichts besaß, als was sie irgendwo fand oder geschenkt bekam. Ihr Rock war aus allerlei Flicken zusammengenäht und reichte ihr bis auf die Fußknöchel. Darüber trug sie eine alte, viel zu weite Männerjacke, deren Ärmel an den Handgelenken umgekrempelt waren. Abschneiden wollte Momo sie nicht, weil sie vorsorglich daran dachte, daß sie ja noch wachsen würde. Und wer konnte wissen, ob sie jemals wieder eine so schöne und praktische Jacke mit so vielen Taschen finden würde. Endc /selhaft wie die Ereignisse. Aber vielleicht will der Text gar nicht, daß der Leser diese Geschichte enträtselt? Wie in einem Märchen, wo der Zauber zerfällt, sobald das Rätsel gelöst ist, würden auch die Antworten des Lesers den Text zum Schweigen bringen und ihn abschließen, wo er mit seinem Rätsel sich dem unabschlicßbaren Sinn- und Fragefluß öffnet. Wir hatten in dieser Studieneinheit immer wieder betont, daß das Verstehen darauf gerichtet ist, Deutungszusammenhänge zu finden, die Texte verständlicher machen. Doch in diesem Fall scheint sich diese Verstehensrichtung umzukehren: Es scheint, als wolle der Text seine Fragen gar nicht beantwortet haben. Als wolle er den Leser vielmehr auf die Frage selbst hinführen. Aber wenn das so ist, warum wohl? Welche Absicht steckt dahinter? Was glauben Sie? 1. Wenn der Text uns Rätsel aufgibt, die nicht zu lösen sind, was bezweckt er damit? 2. Wie wirkt das auf Sie? 3. Sagt Ihnen diese Geschichte, die Art des Erzählens und die Thematik etwas ? Überlegen Sie bitte weiter: 4. Warum werden überhaupt Geschichten in Ihrer wie auch in meiner Kultur erzählt? 5. Kennen Sie ähnlich geheimnisvolle und rätselhafte Geschichten wie diese? Für eine weitere Einordnung dieser Geschichte müßte man jetzt den Kontext der „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" miteinbeziehen und prüfen, war- um und unter welchen Umständen dort Geschichten erzählt werden. Man mußte auf das Vorbild des „Dekameron" eingehen und anderes mehr. Aber das wollen und können wir hier nicht im einzelnen besprechen. Wenn Sie diesen Zusammenhang weiter verfolgen möchten, so lesen Sie dazu die Ausführungen auf S. 86. Schließen wir stattdessen den Kreis, und kommen wir zurück auf die Ausgangsfrage, welchen Eindruck Sie von der Geschichte hatten. Vergleichen Sie einmal Ihren ersten Eindruck und Ihr erstes Bild von dieser Geschichte mit Ihrem jetzigen Bild bzw. Ihrem jetzigen Verständnis. Hat sich etwas geändert? Haben Sie jetzt ein anderes Bild/ein anderes Verständnis von der Geschichte? Oder bleiben Sie bei Ihrem ersten Eindruck und Ihrer ersten Reaktion ? Bevor wir didaktische Überlegungen anstellen, möchte ich kurz die wichtigsten Punkte dieses Kapitels zusammenfassen und dabei mein eigenes Vorgehen begründen: 1. Nach der Lektüre hat der Leser nicht nur den Hauptinhalt (das globale Thema) in seinem Kopf, sondern auch einen Gesamteindruck (ein Gesamtbild) von dem Gelesenen. Er ist das Ergebnis vielfältiger und zumeist unbewußt ablaufender Vorgänge in einem Leser. 2. Diesen ersten Gesamteindruck kann man im Gespräch schrittweise aufgliedern, um die Textbedeutungen, die ein Leser im ersten spontanen Zugang verwirklicht, genauer zu fassen. 3. In vielen literarischen Texten gibt es Schlüsselszenen wie hier den Schluß und die erste Nacht. Es handelt sich deshalb um Schlüsselszenen, weil sie zentral sind für das Verständnis des Ganzen. Sie ziehen zumeist die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich, machen neugierig und bieten Möglichkeiten, sich emotional zu beteiligen. Solche Sinn- und Verstehenszentren bieten einen guten Einstieg in die gemeinsame Textarbeit. Darum haben wir auch nach dem Ermitteln des ersten Eindrucks an der Schlußszene angesetzt. 4. Um Geschichten zu verstehen, muß ein Leser zunächst den konkreten Geschehnisablauf erfassen: - Ausgangssituation - Veränderungen dieser Situation - Folgen von Veränderungen - Ergebnis. 5. Alle Fakten einer Geschichte stehen wiederum in einem Zusammenhang von Motiven, Ursachen und Folgen, der nicht direkt im Text mitgeteilt wird, der aber erfaßt werden muß, um zu einem tieferen Verstehen zu gelangen. An verschiedenen Stellen des Textes treten Fragen auf: a) nach den Handlungsmotivcn der Figuren b) nach der Identität einer Figur c) nach den Beziehungen zwischen den Figuren d) nach den Veränderungen in dem Verhältnis der Figuren zueinander e) nach den inneren Vorgängen in den Figuren f) nach den Geschehnissen, die im Hintergrund stattfinden und zu dem unerwarteten Schluß führen. 6. Um diese Fragen lösen zu können, muß der Leser verschiedene Gesichtspunkte berücksichtigen, wie z.B. die gesellschaftliche Stellung der Figuren ... etc. 7. Im allgemeinen werden in der erzählenden Literatur Motive von Figuren, innere Vorgänge und Beziehungen zwischen Figuren wie auch erzählerische Wertungen Aufaabe 41 Zusammenfassung 33 nicht direkt ausgedrückt. Sie müssen vom Leser erschlossen und interpretiert werden. 8. Literarische Texte haben eigene Mittel, um die Wahrnehmung des Lesers zu lenken und insgesamt die Rezeption zu steuern. Dazu gehören: Fragen, die der Text aufwirft, Aufmerksamkeitslenkungen auf zentrale Ereignisse, Blickpunktverschiebung innerhalb der erzählten/dargestellten Welt und die Erzählperspektive. Mit diesen Mitteln gestalten Texte die Perspektive des Lesers, nach W. Iser (1972), des sogenannten impliziten Lesers. Der „implizite Leser" ergibt sich aus den Prozessen der Sinnbildung, die in einem Text vorgezeichnet sind. Er ist zu unterscheiden von dem realen Leser, der oft erst die Kompetenzen erwerben muß, um solche Textstrukturen wahrnehmen zu können, 9. Die Realisierung solcher Strukturen ist ein wesentlicher Bestandteil des Verstehens, wobei der r e a 1 e Leser wiederum seine eigene Perspektive an den Text heranträgt und somit den Text auf „seine" Weise umsetzt. 10. Verschiedene Standpunkte einzunehmen und von dort aus jeweils Frage und Antwortrichtungen zu entwickeln ist eine Verstehensfähigkeit. 11 .Im allgemeinen zielt das Verstehen auf eine Lösung, d.h. auf die Herstellung kohärenter Zusammenhänge. Hier jedoch liegt das Ziel nicht in der „Antwort", sondern in den „Fragen" selbst; in der Wahrnehmung des Rätsels, nicht in dessen Auflösung. 4.2 Didaktische Konsequenzen Kommen wir nun zu unserer didakt' ihen Fragestellung: Wie können Sie Ihre Schüler befähigen, ihren eigenen Dialog mit diesem Text von Goethe zu führen? Von welcher Grundlage können Sie ausgehen? Was können Ihre Schüler bereits, und was sollen sie lernen, um entsprechend ihrer Sichtweise Sinn bilden zu können? Um diese Vermittlungsfrage aufzugliedern, werden wir schrittweise den Prüfkatalog anwenden. 1. Rahmenbedingungen/Lernervoraussetzungen: Nach diesen Vorüberlegungen können Sie Ihre Unterrichtsziele näher bestimmen. 2. Lehr- und Lemziele: Überlegen Sie bitte folgendes: äußere Unterrichtsbedingungen: 1. Wie lange wollen und können Sie mit diesem Text arbeiten? 2. Auf welcher Unterrichtsstufe könnten Sie diesen Text einsetzen - im zweiten, dritten ... Studienjahr? Kenntnissland Ihrer Schüler: 3. Können Ihre Schüler diesen Text flüssig lesen? 4. Können Ihre Schüler allein - ohne Ihre Hilfe und ohne Lexikon - den Textinhalt erfassen ? 5. Erwarten Sie Verständnisschwierigkeiten? Wenn ja, welche? Erläuterung: Einige zu erwartende Verständnisschwierigkeiten kann man vor der Lektüre beseitigen. Wir kommen auf diesen Punkt noch zurück. Andere kann man gerade auch zum Gegenstand des Unterrichts machen. Wie gründlich und genau möchten Sie diese Geschichte lesen und erschließen? a) Sollen Ihre Schüler in erster Linie den konkreten Geschehnisablauf erfassen und wiedergeben können ? Ist das schon schwierig für Ihre Schüler, so daß diese erste Verstehensstufe bereits ein Unterrichtsziel sein könnte ? b) Oder erfassen Ihre Schüler den konkreten Textinhalt so mühelos, daß diese Verstehensstufe nur ein Zwischenschritt im Unterricht ist und das eigentlicheZieldarinbesteht,zu einemtieferen Verständnis zu kommen? c) Möchten Sie Uber das Verstehen konkreter Inhalte hinausgehen? Wenn ja, welche der zuvor besprochenen Deutungsbereiche dieser Geschichte: - die Handlungsmotive des Bassompierre und der Krämerin - die gesellschaftliche Stellung beider und die Folgeförderen Verhalten - die Rolle der Pest in der Geschichte - die Gründe für das Ende - die Funktion des Rätselhaften möchten Sie mit Ihren Schülern - nur kurz besprechen - ausfuhrlich besprechen und deuten - gar nicht thematisieren bzw. nur dann, wenn es sich im Gespräch ergibt? d) Möchten Sie noch einen Schritt weitergehen und Ihre Schüler auch zum Nachdenken bringen über - die Rätselhaftigkeit der Ereignisse und ihre Bedeutung - die Erzählperspektive und ihre Funktion - die Rolle, in die der Leser gebracht wird? Erläuterung: Das Erfassen der Hauptgeschehnisse (der wesentlichen Textinhalte) ist grundlegend für alle weiteren Verstehens- und Deutungsvorgänge. Insofern sollte diese erste Verstehensstufe bei Ihren Schülern stets gesichert sein. Wenn man nicht weiß, wovon der Text handelt, dann kann man auch nicht weiter darüber sprechen. Da es sich ja um einen fremdsprachlichen Text für Ihre Schüler handelt und wir davon ausgehen, daß die fremde Sprache und die fremde Welt des Textes das Verstehen beeinträchtigen, zielt der Literaturunterricht im allgemeinen darauf, mehr von diesem fremden Text zu verstehen. Das bedeutet, über den konkreten Geschehnisablauf hinaus verborgene und oft nur angedeutete Zusammenhänge zu erfassen und mögliche Verstehenshindernisse zu beseitigen. Aber wie viele der verborgenen Zusammenhänge eines literarischen Textes Sie im Unterricht herausholen möchten und wie genau Sie diese ausdeuten und besprechen wollen, ist eine Entscheidung, bei der Sie das Verhalten, die Interessen, kulturellen Vorprägungen und die Verstehensmöglichkeiten Ihrer Schüler mitberücksichtigen müßten, Vielleicht ist es gar nicht wichtig, schrittweise einzelne Textberciche auszudeuten, um Ihre Schüler zu einem tieferen Textverständnis zu führen. Und vielleicht haben Ihre Schüler auch gar keine Lust dazu. Vielleicht ist es gar nicht erstrebenswert, daß bestimmte Textverständnisse hergestellt werden und Ihre Schüler am Ende der Stunde mit fertigen Antworten nach Hause gehen. Der Goethe-Text selbst hat - wie wir gesehen haben - eine andere Absicht: Er widersetzt sich der abschließenden Antwort, er will gar nicht vom Leser fertig gedeutet und damit auch abgelegt werden, sondern er veranlaßt den Leser zu immer neuen Fragen und öffnet dadurch auch immer neue Sinnzusammenhänge. Statt alle möglichen Textbereiche auszudeuten, scheint es mir wichtiger zu sein, daß Ihre Schüler die Fragen des Textes aufgreifen und sie zu ihren eigenen machen können, um auf diese Weise in ein Gespräch mit dem Text zu treten. Und wenn dieses nur an einer Stelle erfolgt und damit nur eine Textebene (= Textdimension) erfaßt wird, dann ist das vielleicht schon sehr viel und auch genug. Selektives* Verstehen So wie wir beim Lesen nicht alles beachten und aufnehmen, sondern das auswählen, was für uns interessant und bedeutsam ist, so können auch Sie im Unterricht das Verstehen Ihrer Schüler selektiv (= auswählend) fördern und entfalten. Sie müßten dafür nicht nur entscheiden, welche Text- und Themenbereiche Sie mit Ihren Schülern erarbeiten und besprechen möchten, sondern vor allem auch, wie Ihre Schüler sich mit dem Text auseinandersetzen sollten. Wir hatten in den vorhergehenden Kapiteln bereits auf verschiedene Arten (= Modalitäten*) des Verstehens hingewiesen: Der eine versteht eine Geschichte eher emotional, der andere eher vom Verstände her, der dritte zieht einen Text völlig in seine eigene Welt hinein, und der vierte läßt sich lieber in diese fremde Welt des Textes hineinziehen. Das sind verschiedene Richtungen und Art und Weisen des Verstehens, die alle ihren Stellenwert haben und die Sie im Unterricht abwechselnd betonen oder vernachlässigen können. Welche Art und Weisen des Verstehens möchten Sie fördern? a) Möchten Sie, daß Ihre Schüler den Text eher gefühlsmäßig erfassen und es lernen, ihre Gefühle und subjektiven Reaktionen in der Fremdsprache auszudrücken (intuitives Erfassen, subjektiver Pol des Verstehens) ? b) Oder bevorzugen Sie den verstandesmäßigen Zugang, indem Sie vorrangig die sachlichen Zusammenhänge in einem Text behandeln — wie Handlungen, Situationen, Figuren... etc. - und indem Sie Wert darauf legen, daß Ihre Schüler einen ' }xt mit Abstand lesen und ihre Erfahrungen, Eindrücke, Reaktionen, Deutungen am Text überprüfen (objektiver Pol des Verstehens) ? c) Möchten Sie, daß Ihre Schüler den Text mehr in seinen gesellschaftlichen und kulturellen Bezugsrahmen einordnen können (kontextuali-sieren) ? d) Oder ist es Ihnen wichtiger, daß Ihre Schüler den Text — so wie sie ihn verstehen -aufsich und ihre Gegenwart beziehen können (Applikation)? Erläuterung: Wenn Ihre Schüler es z.B. nicht gewöhnt sind, sich persönlich-subjektiv zu äußern und über ihre Eindrücke zu sprechen, dann könnten Sie als Lehrer diese Subjekt- und leserorientierte Auseinandersetzung mit dem fremdsprachlichen Text betonen - auch um den Preis, daß Ihre Schüler den fremden Text zu stark in ihre eigene Welt hineinziehen und dadurch verzerren. Ihre Schüler könnten dadurch etwas lernen, was ein wichtiger Bestandteil des Verstehens ist: nämlich sich selbst - und zudem noch in der Fremdsprache - einzubringen und sich damit als Lesersubjekt zu erfahren. Wenn Ihre Schüler jedoch gerade dazu neigen, sich den fremden Text ganz persönlich und gefühlsmäßig anzueignen und ihn mit ihrer eigenen Welt überfluten, ohne genau zu lesen, was in dem Text steht, dann könnten Sie den Schwerpunkt auf den objektiven Pol und auf die Textseite legen. Sie könnten die Aufmerksamkeit Ihrer Schüler auf den Text und seine Signale lenken, Sie könnten sie dazu anregen, sich selbst und ihre Reaktionen zu beobachten und die eigenen Deutungen am Text zu überprüfen. Durch genaue Text- und Lesearbeit könnten Sie Ihre Schüler von der eigenen Welt fortführen und dem Verständnis der fremden Welt näherbringen. Je nach Schülerreaktion, Interesse, kulturell bedingter Lektüreeinstellung und auch Lese- und Lerntyp Ihrer Schüler empfiehlt es sich, im Unterricht einmal den subjektiven* und ein anderes Mal den objektiven* Pol zu betonen; mal die Textseite stärker zu gewichten und mal die Leserseite; mal den gefühlsmäßigen Zugang und mal den verstandesmäßigen zu wählen. Ihre Schüler könnten dadurch verschiedene Art und Weisen des Verstehens und verschiedene Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit einem fremdsprachlichen Text kennenlernen und dadurch insgesamt ihre fremdsprachlichen Verstehensfähigkeiten weiterentwickeln. Verfahrensweisen Wenn Sie nun entschieden haben, welche Schwerpunkte Sie im Unterricht setzen möchten und welche Ziele Sie anstreben, dann können Sie sich nun der Frage zuwenden: Wie gehe ich im Unterricht vor? 1. Phase: Schaffen eines Vorverständnisses Sie könnten vor der Lektüre Ihre Schüler auf den Text vorbereiten, um damit die Lektüre und das Verständnis zu erleichtern. Es bieten sich dafür verschiedene Möglichkeiten an: Prüfen Sie bitte im Hinblick auf Ihre Schüler folgendes: 1. Kennen Ihre Schüler Goethe? Möchten Sie vorher etwas über Goethe erzählen bzw. Ihre Schüler fragen, was sie bereits von Goethe wissen/ kennen? 2. Gibt es andere Informationen, die Sie Ihren Schülern vor der Lektüre mitteilen möchten, weil der Text sonst zu schwierig wäre - unbekannte Wörter, Hintergrundwissen? 3. Möchten Sie Ihre Schüler vorher über diese Geschickte und/oder die „ Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten " informieren? (Gattung, Entstehungszeit, historische Vortage... etc.)? 4. Oder sind solche Informationen uninteressant für Ihre Schüler und spielen auch für Ihre Ziele keine Rolle? 5. Möchten Sie Ihre Schüler allgemein auf den Text einstimmen, indem Sie z.B. danach fragen, was für Geschichten Ihre Schüler gerne lesen oder, warum überhaupt Geschichten erzählt werden ? Dieser Einstieg könnte die Frage vorbereiten, warum diese Geschichte überhaupt erzählt wird (erzählerische Motivation). 6. Möchten Sie Ihre Schüler gezielt auf die inhaltliche Thematik der Geschichte vorbereiten, indem Sie allgemein Uber Mann-Frau-Beziehungen in Ihrer Gesellschaft sprechen? Dabei könnten bereits gesellschaftliche Normen/Konventionen zur Sprache kommen, die später mit denen des Textes verglichen werden könnten. Was Sie in dieser Vorphase machen, hängt davon ab, wie Sie später mit dem Text arbeiten möchten und was Sie bei Ihren Schülern erreichen möchten. Lerntheoretischer Aspekt Diese Phase vor der Lektüre hat lerntheoretisch gesehen die Aufgabe, bei dem Leser/ Lemer eine Wissens- und Verstehensgrundlage zu schaffen, die ihm das Textverstehen erleichtert. Wir hatten ja bereits in Kapitel 2 gesagt, daß wir besser lernen und verstehen, wenn wir das Neue mit dem Bekannten/V ertrauten verknüpfen können. So eine Grundlage des Vertrauten können Sie im Unterricht aufbauen, indem Sie neue Informationen geben und/oder vorhandenes Wissen Ihrer Schüler aktivieren (= beleben). Ein Vorwissen zu aktivieren oder neu aufzubauen schafft ein Vorverständnis bei Ihren Schülern. Mit Hilfe dieses Vorverständnisses können Ihre Schüler Textinhalte leichter erfassen und einordnen. Dieser lerntheoretische Gedanke wurde von D.P. Ausubel (1974) ausführlich beschrieben und begründet. Allerdings möchte ich auch einen Einwand gegen dieses Vorgehen formulieren. Ein Einwand, der gerade das Lesen literarisch-ästhetischer Texte betrifft und nicht so sehr Sachtexte. Es besteht die Gefahr, daß ein solches zuvor erzeugtes Vorverständnis den Verstehensprozeß Ihrer Schüler von vornherein steuert und damit das Verstehen festlegt. Diese Steuerung steht im Widerspruch zu der Auffassung, daß jeder Leser/ Lerner seine eigene Deutung und seine Lesart gewinnen sollte und der Lehrer ihm möglichst dazu verhelfen sollte. Die Entscheidung, ob Sie vor der Lektüre eine Phase vorschalten und was Sie in dieser Phase machen, muß wohl jeweils neu geprüft werden. Auf jeden Fall sollte diese Vorphase kurz sein, denn sie soll ja nur auf das Eigentliche hinführen. Aber sie muß so lang sein, daß Verstehen zustande kommen kann. 2. Phase: Einstieg in die Textarbeit Ganz entscheidend ist, wie Sie die Textarbeit und das Gespräch im Unterricht eröffnen möchten. Gerade der Einstieg ist ein Angelpunkt, von dem aus sich alles weitere entwickelt. Für Ihre weitere Planung nach der Lektüre überprüfen Sie zunächst den Text auf folgendes: /. Welche Einstiegsmöglichkeiten bietet der Text? Offene Fragen, zentrale Schlüsselszenen, Figuren, Geschehnisse? 2. Worauf sprechen Ihre Schüler am besten an: spontane Reaktionen, Interessen, Aufmerksamkeiten, Identifikationen? 3. Welche Möglichkeiten, an die Erfahrungswelt Ihrer Schüler anzuknüpfen, bietet der Text: Themen, Inhalte, Problemstellungen? Sie haben nun verschiedene Möglic.ikeiten, die Textarbeit zu eröffnen. Ihre Entscheidung hängt von Ihren Zielen und Schwerpunkten ab (s. Aufgabe 44 und 45). Womit möchten Sie beginnen ? 1. Bestimmung des globalen Themas durch eine knappe Zusammenfassung ? 2. Gezielte Verständnisfragen zum Hauptinhalt? 3. Gliederung des Textes in Absätze und Titelzuordnung? 4. Thematisieren einer Schlüsselszene a) indem an den offenen Fragen angesetzt wird b) indem Sie die subjektiven Reaktionen auf diese Szene ansprechen? 5. Beschreiben des ersten Gesamteindrucks ? 6. Fragen, was Ihre Schüler besonders interessiert, was besonders auffällig und überraschend ist? 7. Fragen nach den gefühlsmäßigen Einstellungen gegenüber Figuren und ihrem Verhalten? 8. Anknüpfen an der Erfahrungswelt Ihrer Schüler; möglicherweise vergleichen? 9. Fragen nach Verständnisschwierigkeiten ? man nicht so machen. Es kann sein, daß Ihre Schüler auf eine so offene Frage nach dem ersten Eindruck und der ersten Reaktion gar nicht viel sagen können, z.B. deshalb nicht, weil sie noch viel zu sehr damit beschäftigt sind, sich den Geschichtenablauf klarzumachen. Oft ist es hilfreicher, wenn Sie am konkreten Textgeschehen ansetzen und den Weg entweder vom Globalthema zum feineren und tieferen Verständnis gehen oder auch von einer Schlüsselszene und den Reaktionen darauf zu einem Gesamtverständnis des Textes. Ihre vorherigen Überlegungen über die Art und Weise des Verstehens und über die Text- und Verstehensstufen fließen an dieser Stelle zusammen. - Wenn Sie den verstandesmäßigen Einstieg bevorzugen, dann können Sie am Globalthema und der Beantwortung von Inhaltsfragen ansetzen. - Wenn Sie den gefühlsmäßigen und stärker subjektiven Einstieg wählen möchten, können Sie vom ersten Eindruck, den ersten Reaktionen und den Interessen und spontanen Fragen Ihrer Schüler ausgehen. Wie wichtig Gefühle und Wertungen beim Lesen und Verstehen literarischer Texte sind, habe ich immer wieder betont. Manche Texte mögen es Ihren Schülern leicht machen, sich persönlich zu engagieren: Sie können sich in Figuren hineinversetzen, haben eine Meinung zu bestimmten Handlungsweisen und nehmen Partei für die eine oder andere Figur. Aber oftmals ist diese persönliche und gefühlsmäßige Aneignung eines Textes nicht von vornherein möglich, sondern muß erst gelernt werden, z.B. dann, wenn die Gefühle und Werthaltungen Ihrer Schüler an kulturell anderen Konventionen und Normen geschult sind als die, die dem Text zugrunde liegen. In dem Fall bilden Gefühle und wertende Einstellungen Ihrer Schüler nicht unbedingt den Startpunkt für den Unterricht, sondern ein Ziel. Ein Ziel, das den kulturellen Abstand überwinden möchte, indem Ihre Schüler dazu befähigt werden, den fremdsprachlichen Text und seine Inhalte in ihren persönlichen Gefühls- und Erfahrungshaushalt einzubinden. Wie erreicht man aber dieses Ziel? Die Gefühle Ihrer Schüler können Sie schrittweise entfalten, indem Sie über die Handlungen, die Figuren, deren Verhalten und Beziehungen untereinander sprechen. Indem Sie zunächst von solchen konkreten Inhalten ausgehen, können Gefühle und Wertungen Ihrer Schüler in bezug auf Figuren und ihre Handlungen geweckt werden und lassen sich dann auch im Unterricht thematisieren. Sollte sich im Gespräch zeigen, daß Ihre Schüler z.B. den Bassompierre mit einem Maßstab bewerten, der aus ihrer Welt stammt und dem Bassompierre nicht gerecht wird, dann könnten Sie jetzt auf den Text zurückgehen und die darin geltenden Normen und Werte herausarbeiten (vgl. Aufgabe 34). Auf diese Weise ließe sich Uber den emotionalen Bereich ein Lernprozeß einleiten. 3. Phase: Erfassen des konkreten Geschehens Angenommen, Sie möchten nach dem ersten Einstieg - ob global oder im Detail, ob subjektiv-emotional oder sachlich-di stanzten - das erste Textverständnis sichern, wie möchten Sie vorgehen? 1. Freies Nacherzählen der Geschichte von Anfang bis Ende? 2. Ausfüllen des folgenden Rasters: Zeit (wann ?) Ort (wo?) Geschehen (was ?) Erläuterung: Ich war beim Goethe-Text von Ihrem ersten Eindruck ausgegangen. Aber das muß Ihre Schüler hätten damit die zeitliche, räumliche und inhaltliche Gliederung der Geschichte erfaßt. Sie erinnern sich, wie grundlegend die Wahrnehmung solcher Gliederungen für das Verstehen ist? (s. Kap. 3} Zu Ihrer eigenen Übung formulieren Sie bitte Fragen, die sich auf die wichtigsten Geschehnisse und Situationen des Textes beziehen. Bei diesen Fragen handelt es sich um Fakten- oder Inhaltsfragen. das sind Fragen, die sich auf das beziehen, was der Text direkt mitteilt. 4. Phase: Vertiefung des Textverständnisses durch Erschließen von Motiv- und Handlungszusammenhängen Nehmen wir weiterhin an, Sie möchten das erste Textverständnis Ihrer Schüler vertiefen und die einzelnen Geschehnisse und Situationen der Geschichte ausdeuten. Vielleicht stellen Ihre Schüler von sich aus Fragen, die weiterführen, aber vielleicht müssen Sie selbst Fragen stellen, um das Gespräch und die Deutung anzuregen. Was möchten Sie tun? a) Bestätigung und Korrektur der ersten Deutungshypothese (globales Thema)? b) Den offenen Fragen zu Anfang ein jetzt hergestelltes Verständnis gegenüberstellen? c) Dem ersten Eindruck das abschließende Verständnis gegenüberstellen, vergleichen? d) Bilden einerzusammenfassenden Globalhypothese über Sinn undZweckJ Intention des gesamten Textes? e) Abschließendes Werturteil? f) EinallgemeinesGesprächübereinThema, einProblem... etc. desTextes führen? Aufgabe 50 Aufgabe 49 Formulieren Sie Fragen zu den Deutungsbereichen des Goethe-Textes, die Sie gerne im Unterricht behandeln möchten. Zu Ihrer Hilfe blättern Sie noch einmal zu der Zusammenfassung auf S. 33 zurück, und bedenken Sie, welche Fragen wichtig sind für das Textverständnis. Im Unterschied zu den Faktenfragen handelt es sich bei Fragen, die sich auf Deutungsbereiche eines Textes wie Motive, Wertungen ... etc. beziehen, um Interpretationsfragen. Sie stellen höhere Anforderungen an einen Leser als Faktenfragen. Da der Text diese Fragen selbst aufwirft, könnten Sie solche Fragen stellen oder besser noch Ihre Schüler auffordern, ihre eigenen Fragen zu formulieren. Wenn Sie sich vorher solche Interpretationsfragen überlegen, dann hat das den Vorteil, daß Sie im Unterricht einen Vorrat haben, aus dem Sie nach Bedarf schöpfen können. Auf keinen Fall sollten Sie jedoch alle diese Fragen mechanisch durchgehen. Durch die Fragen von Ihnen und Ihren Schülern öffnen sich möglicherweise weitere Wege für den Unterrichtsverlauf. Wege, die ich nicht vorhersagen kann; denn sicherlich haben Sie und Ihre Schuler Fragen, die sich mir als muttersprachlichem Leser gar nicht stellen. Vieles, was für mich klar und selbstverständlich ist, ist möglicherweise unklar für Sie. Außerdem könnten Sie als fremdsprachiger Leser noch Fragen haben, die im Text gar nicht enthalten sind, Fragen, die dadurch zustande kommen, daß Sie in einer anderen kulturellen und gesellschaftlichen Wirklichkeit stehen, als sie im Text vorkommt. 5. Phase: Abschluß Wie immer Sie das Gespräch führen, wie tief Sie in den Text eindringen, wie Ihre Schüler den Text für sich beleben und wie Sie deren Aufmerksamkeit lenken, um mehr von dieser fremden Welt zu verstehen, wichtig scheint es mir zu sein, daß Sie am Ende die vielen verschiedenen Gesichtspunkte wieder zu einer Ganzheit zusammenbinden. Das würde Ihren Schülern eine Orientierung geben und das Gefühl hinterlassen, „etwas in der Hand zu haben", Wie macht man das? Ein beliebtes Verfahren besteht darin, an den Ausgangspunkt zurückzukehren. 40 41 dem Fremden des Textes eine Einstellungs-und Wahrnehmungsänderung herbeiführen, um im fortlaufenden Wechsel zwischen Text und Leser, zwischen Eigenem und Fremdem, die fremde Perspektive des Textes zu erschließen. Schrittweise wird die Wahrnehmung Ihrer Schüler für Fremdes geöffnet und rücken Ihre Schüler dem Verständnis des fremdsprachlichen Textes näher, indem sie sich dessen Kategorien/ Schemata aneignen. Die sich dabei herausschälende Differenz zwischen der eigenen Welt und der fremden Welt des Textes kann auf einer höheren Deutungsebene wiederum eine Reflexion auf das Eigene in Gang setzen und denProzeß der Anwendung des Textes auf die eigene Gegenwart einleiten. Als allgemeine Strategie im Unterricht empfehle ich Ihnen die genannten Impulse und Fragetypen, die alle darauf zielen, bei Ihren Schülern die Fähigkeit zu entwickeln: Standorte zu wechseln, fixierte Einstellungen zu ändern, neue Aspekte zu berücksichtigen, zu bewerten und zu integrieren* und bereits bewertete Aspekte in einem neuen Licht zu sehen, Abschließend können wir eine Antwort auf eine der Ausgangsfragen dieser Studien-einhett festhalten: „Was heißt Verstehen?" Nach hier vertretener Auffassung ist Verstehen eine Wahrnehmungsfähigkeit, die darin besteht, daß ein Leser von der eigenen Perspektive absehen kann, um sich die Perspektive eines fremdsprachlichen Textes und dessen Welt zu erschließen. 62 7.1 Erwartungen des Lesers Wir haben in den vorangegangenen Kapiteln immer wieder darauf hingeführt, daß das Verstehen eine Tätigkeit des Lesers ist. Diese Tätigkeit ist durch dreierlei gekennzeichnet: 1.Sie ist zielgerichtet: Wir lesen, um etwas mehr zu wissen, um Neues zu erfahren, um zu leinen, um uns zu bilden, um uns zu unterhalten ...etc. 2. Sie ist selektiv: Wir wählen das aus, was uns interessiert, was uns gefällt, was uns anspricht, was wir wissen wollen und was uns wichtig erscheint. Darüber hinaus gibt es eine dritte Komponente des Lesens, die ich nun zum Thema dieses Kapitels machen möchte: 3. Lesen istantizipatorisch*: Das bedeutet, daß wir während des Lesens immer schon Vorhersagen treffen über künftige Mitteilungen und Ereignisse in einem Text. Wir haben Erwartungen, die unseren weiteren Leseprozeß lenken.Die Leitfrage für dieses Kapitel lautet: - Welche Rolle spielen Erwartungen beim Lesen und Verstehen? - Wodurch entstehen Erwartungen? - Woraus leiten sich Erwartungen des Lesers ab? Zu diesem Zweck habe ich einen Text von Barbara Frischmuth, einer österreichischen Schriftstellerin, ausgewählt und möchte als erstes mit Ihnen ein weiteres Verfahren ausprobieren, das geeignet ist, Ihre Erwartungen sichtbar zu machen. Auf den Leseprozeß und seine spezifischen Eigenschaften wird in der Studieneinheit „Arbeit mit literarischen Texten" von S. Ehlers/B. Kast näher eingegangen. Verfahren der Bildung und Korrektur von Hypothesen Das Verfahren besteht darin, daß ich Ihnen nun nacheinander kleine Einheiten eines Textes dieser Autorin präsentiere und Sie bitte, sich nur auf diese Einheiten zu konzentrieren, noch nicht weiterzulesen und sich ganz auf die Fragen, die ich Ihnen jeweils gebe, zu konzentrieren. Um den Leseprozeß zu verkürzen und zu vereinfachen und dennoch einen Text zu haben, der dem Leser genügend Anreize bietet für sein Hypothesenspiel, habe ich mit einem Auszug aus einer Erzählung von B.Frischmuth gearbeitet. Den vollständigen Text finden Sie auf S. 93-97. Der Titel von B. Frischmuths Erzählung lautet: „Am hellen Tag" 1 Frischmuth (1989), 80-90 Fragen: 1. Was konnte der Titel bedeuten? 2. Worum könnte es in der Geschichte gehen ? Ziel Text 63 Lesen Sie nun bitte den ersten Abschnitt des Textes: Text ... Es mußte sein. Sich opfern. Sich und ihr Leben hingeben. Sie saß da, bewegungslos, noch immer gefangen. Nichts regte sich, nicht einmal ein Insekt vermochte abzulenken. Die mittägliche Windstille. Gleich, gleich mußte das Kind kommen. Fragen: 1. Was für eine Situation stellen Sie sich vor? Schildern Sie sie bitte. 2. Welche Fragen.haben Sie zu diesen ersten Zeilen ? 3. Was glauben Sie, wie geht es weiter? 64 Lesen Sie bitte weiter den zweiten Textabschnitt: Jetzt, dachte sie, und dann ging auch dieser Augenblick vorüber. Der Puma schob seinen Kopf immer weiter auf den Pfoten vor, ohne die Augen zuzumachen ... Jetzt! Vorsichtig befeuchtete sie die Lippen, indem sie die untere etwas vorschob und die obere einzog. Jetzt! ] Text Fragen: 1. Haben sich Ihre Hypothesen bestätigt? - Welche? - Welche nicht? - Welche mußten Sie modifizieren ? 2. Hat dieser zweite Abschnitt Fragen, die Sie vorher hatten, geklärt, oder bleiben diese weiterhin offen ? 3. Sind neue Fragen aufgetreten ? 4. Haben Sie eine genauere Vorstellung, in welcher Situation sich die Frau befindet? - Was ist das für eine Frau ? - Wo befindet sie sich ? 5. Fühlen Sie sich verunsichert durch den Text? Gibt es gewisse Unstimmigkeiten? 6. Was erwarten Sie, was nun passiert/passieren könnte? Lesen Sie bitte weiter den dritten Textabschnitt: Sie erschrak so heftig, als es vom Garten her schellte, daß sie nicht sicher war, ob sie nicht etwa geschrieen hatte und das eigene Schrillen für die Gartenglocke hielt. Der Puma war fort, hatte seinen Schatten mit über die Hecke genommen, und sie bildete sich ein, noch das mehrmalige Aufprallen seiner Tatzen zu hören. Wer konnte geläutet haben? Sie sah auf die Uhr, Für das Kind war es ein wenig zu früh, und das Kind klingelte nicht. Vielleicht die Leute, denen das Tier gehörte. Die waren gut. Gingen von Haus zu Haus fragen, ob jemandem ein Puma zugelaufen war. Sie trat hinaus. Ihre Gelenke knackten leise, wie sie so bis zur Treppe ging, von wo aus sie freie Sicht auf die Gartentür hatte. Niemand, Da war niemand. Wer in aller Welt mochte geläutet haben? Oder hatte doch sie den Puma mit ihrem Schrei verjagt? Nicht immer griffen diese Tiere an. (Anmerkung; Schrillen = Schreien) Fragen: 1. Sind Sie überrascht? Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt, oder ist etwas völlig Unerwartetes geschehen ? 2. Welche Ihrer vorhergehenden Fragen hat dieser Abschnitt beantwortet? Welche sind weiterhin offen geblieben? 3. Haben Sie jetzt neue Fragen? 4. Können Sie die Situation dieser Frau besser verstehen ? 5. Haben Sie eine Vermutung, worum es hier geht? 6. Wie geht es wohl weiter? Lesen Sie bitte den vierten Textabschnitt: Sie mußte es sofort der Polizei melden, verhindern, daß Schlimmeres geschah. Ein Tier in Panik, wer konnte wissen, was... Sie rannte ans Telefon. Bitte, rief sie, hierbei Neurat, Landhausstraße acht, soeben... Sie erzählte, so kurz sie sich fassen konnte, was geschehen war. Ein Puma? fragte der Beamte. Es klang, als kratze er an seinem Bart. Ein kräftiges, ausgewachsenes Exemplar. So unternehmen Sie doch etwas! Sind Sie die Haushälterin? Sie richtete sich ein wenig auf. Ich bin Greta G. Ich helfe manchmal aus, sozusagen aus Gefälligkeit. Was ging es diesen Kerl an, daß sie mit Hanna Neurat verwandt war. Fragen: 1. Welche Ihrer Hypothesen - haben sich bestätigt? - haben sich nicht bestätigt? 2. Sind alte Fragen beantwortet? 3. Tauchen neue Fragen auf? 4. Was wird der Polizist tun? Lesen Sie bitte den letzten Textabschnitt: Text Diesmal ist es also ein Puma? Was heißt diesmal? Sie spürte, wie Verzweiflung sie befiel. Sie haben doch neulich schon einmal angerufen, wegen einer Sandviper, wenn ich mich recht erinnere, stimmt's? Sie war nahe am Schluchzen. Ja, sie hatte schon einmal angerufen. 1 Fragerv 1. Sind Sie über das Ende überrascht? Haben Sie jetzt eine befriedigende Antwort auf die Probleme, die der Text Ihnen zuvor aufgegeben hat? 2. Sind alle Fragen beantwortet, oder bleibt nach wie vor etwas offen ? 3. Worum geht es eigentlich in diesem Text? Können Sie eine abschließende Deutungshypothese formulieren ? 4. Wie erklären Sie die Reaktion des Polizisten ? Warum sagt er:„Diesmal ist es also ein Puma ? ", und warum heißt es „ als kratze er an seinem Bart"? 5. Und was bedeutet seine Aussage „ Sie haben doch neulich schon einmal angerufen, wegen einer Sandviper..."? 6. Warum fragt die Frau zurück: „ Was heißt diesmal? ", und warum ist sie „ nahe am Schluchzen " ? Sie haben sicherlich gemerkt, daß Sie fortlaufend Erwartungen haben und daß sich Ihre Erwartungen beim Weiterlesen verändern. Teils werden sie bestätigt, teils werden sie gebrochen, und es werden neue Erwartungen erzeugt, wie die Geschichte wohl weitergehen könnte. Fortlaufend haben Sie Vermutungen angestellt, wie die einzelnen Textinformationen zu bewerten und die Vorgänge in der Geschichte aufzufassen sind. Beim Weiterlesen haben Sie dann Ihre Vermutungen bestätigen und/oder verbessern können oder auch ganz fallenlassen müssen, um neue zu bilden. Ich habe mit Studenten in meinem Seminar denselben Text abschnittsweise gelesen und möchte Ihnen kurz schildern, welche Erwartungen bzw. Hypothesen die Studenten jeweils hatten. Es haben sich zwei Gruppen herausgebildet, die zwei unterschiedliche Deutungshypothesen (= Perspektiven) vertraten; 1. Die eine Gruppe, die nur aus ausländischen Studenten bestand, vorwiegend aus dem asiatischen Raum, war bis zum Schluß der Meinung, daß der Puma wirklich existierte, bzw. sie hatten nicht das griffige Konzept „Der Puma ist Fiktion*." zur Verfügung, um das zuvor ins Spiel gebrachte Konzept „Der Puma ist real." zu entkräften. 2. Die andere Gruppe, die aus ausländischen und deutschen Studenten bestand, vertrat vom dritten Textabschnitt an die Hypothese, daß es sich wohl nicht um einen realen Puma handeln würde, sondern um „Tagträume" und „Phantasien" der Frau. Gemeinsam war beiden Gruppen, daß der Anfang (1 .Zeile, 1, Abschnitt) so unbestimmt und offen ist, daß sie sich keine genaue Situation vorstellen konnten. Die räumliche Lokalisierung fiel manchen schwer; das Auftreten des Pumas wurde teils mit der Möglichkeit eines Zirkus in Verbindung gebracht, aber auch dieses geschah mit einem Fragezeichen. Erläuterung: Die Informationen des ersten Abschnitts sind so bruchstückhaft, daß sich der Leser noch kein Bild machen kann, in welcher Lage sich diese Frau befindet, und worum es eigentlich geht. Was heißt „Sich opfern."? - Worauf könnte diese Aussage bezogen sein? Einige Studenten haben sie mit dem Kind in Verbindung gebracht, das die Frau vor dem Puma vielleicht retten möchte. Aber das sind lediglich vage Hypothesen, die der Leser aufgrund seiner Kenntnisse über Situationen und Geschehnisse in der Welt- sein Weltwissen -aufstellenkann, wie z.B. sein Wissen, wo Pumas vorkommen, wo und unter welchen Bedingungen sie im europäischen Raum denkbar wären ... etc. Zu Anfang sind die Erwartungen zunächst nur darauf gerichtet, daß der Text mehr von der Situation dieser Frau mitteilen wird. Diese Erwartungen leiten sich jedoch nicht aus unserem Weltwissen ab, sondern aus unserem T e x t w i s s e n, dem Wissen, daß Texte im allgemeinen ein anfangs gegebenes Thema im folgenden näher ausführen werden und dem Leser somit mehr Informationen geben, um eine Situation verständlicher zu machen. Teils werden diese Erwartungen eingelöst, teils bleibt weiterhin offen, wie die Mitteilungen im einzelnen zu interpretieren sind. Der Leser hat nach den ersten Abschnitten noch keinen Einordnungsrahmen, d.h., er hat noch kein „Schema", um die Situation zu deuten. Mit dem zweiten und dritten Abschnitt werden die Einordnungsmöglichkeiten des Lesers immer mehr eingegrenzt, und es bilden sich zwei konkurrierende* Deutungshypothesen heraus: a) Der Puma ist real. b) Der Puma ist nur eine Einbildung der Frau. Welche Informationen und Hinweise in den ersten drei Textabschnitten unterstützen die Hypothese a) und welche die Hypothese b)? Aufgabe 79 68 69 AufaabB 60 Die erste Gruppe legte also das Interpretationsschema an: „Der Puma existiert tatsächlich." Sie hielt an diesem Schema auch bis zum Schluß fest. Allerdings konnte sie mit Hilfe dieses Schemas nicht die Reaktion des Polizisten {skeptisches Kratzen am Bart und Rückfragen) und die der Frau (verzweifeltes Schluchzen) erklären. Wenn man die Reaktion des Polizisten und die der Frau in dem Deutungsrahmen „Der Puma ist real." interpretieren wollte, dann wäre auch die Viper real. Diese Annahme, daß Viper und Puma im Hier und Heute eines deutschsprachigen Alltags eine Frau bedrohen könnten, ist aus meiner Sicht jedenfalls sehr unwahrscheinlich, so daß dieser Deutungsrahmen eigentlich nicht aufrechtzuerhalten ist. Es gibt noch ein Argument, daß gegen diese Auffassung spricht: Wenn alles real wäre, was der Frau passiert, worin läge dann der Witz dieser Geschichte? Würde da nicht etwas fehlen, was diese Geschichte erst interessant und mitteilenswert macht? Wäre dann nicht fraglich, warum diese Geschichte überhaupt erzählt wird? Die zweite Gruppe hat auf die oben genannten Fragen eine Antwort: Nämlich, die Frau hat vorher schon einmal bei der Polizei angerufen. Die Reaktion des Polizisten entblößt sie, indem er ihr durch seine skeptische Rückfrage die Verschiebung von Realität und Einbildung bewußtmacht. Das erklärt auch die Verzweiflung der Frau. Die Gruppe hat also mit ihrem Interpretationsschema „Der Puma existiert nur in der Einbildung der Frau." auch eine Erklärung für die zentralen Fragen in diesem letzten Textabschnitt. Sie kann damit die Lücken des Textes schließen und einen kohärenten Zusammenhang herstellen. Sie hat überdies auch eine Antwort auf die Frage, warum diese Geschichte erzählt wird (globales Thema, erzählerische Absicht); denn das Schema „Der Puma ist Fiktion." läßt sich noch verallgemeinern, indem man sagt; „Bei der Frau verschieben sich die Wirklichkeitsbezüge, indem Fiktion und Realität ineinander übergehen." Damit hat man eine allgemeine Aussage gewonnen, die der Geschichte eine erzählerische Motivation gibt und die sich nun über den Text hinausgehend an reale Erfahrungen und Lebenszusammenhänge des realen Lesers anknüpfen läßt. Jeder Leser mag diesen Deutungsrahmen „Verschiebung von Realitätsbereichen" sprachlich unterschiedlich formulieren und damit wiederum mit unterschiedlichen Konnotationen besetzen, aber dennoch ist dieses ein nachvollziehbarer Deutungsrahmen, der bis zu einem gewissen Grade vom Text her festgelegt ist. Von hier aus öffnen sich wieder erneute Deutungsspielräume für den Leser. Wenn er nämlich nach einer Erklärung für die Frau und ihr Problem sucht. Was meinen Sie, warum hat die Frau das Problem, daß sich Fiktion und Realität ineinanderschieben ? Mit dieser Frage gehen wir über den Text hinaus und verallgemeinern ihn. Was immer Sie jetzt für eine Erklärung haben - sei es, daß die Frau einsam ist; daß sie krank ist, weil sie einsam ist; daß ihr Problem damit zusammenhängt, daß sie Haushälterin ist und unzufrieden ist ... etc. - all diese möglichen Erklärungen sind letztlich aus Ihren Weltvorstellungen und Wertungen abgeleitet. Der Text öffnet sich hier dem Leser, der ihn durch Verallgemeinerungen in seinen Lebenszusammenhang einbinden kann/ wird. Auf der Grundlage eines Deutungsschemas, das der Text in gewisser Hinsicht festlegt, wird der Leser in seiner weiteren Ausdeutung dieses Schemas den Text mit „seinen" Weltinhalten aufladen und darin eben auch seine Eigenperspektive herantragen. Wie Sie sehen, inszeniert der Text ein fortlaufendes Wechselspiel von Öffnen und Schließen von Sinnzusammenhängen, von Erzeugung und Bestätigung oder Brechung von Erwartungen, von Deutungsspielräumen und Festlegen von Deutungen. Die Aufgabe des Lesers besteht darin, seine jeweiligen Hypothesen beim Weiterlesen zu überprüfen. Dazu muß er die verschiedenen Signale im Text interpretieren können, wie z.B. 70 a) sprachliche Signale: „Gleich, gleich mußte das Kind kommen." Dieser Satz verweist auf etwas Regelmäßiges und Planmäßiges. Sein Verständnis erfordert also einmal sprachliche Kenntnisse, aber auch ein allgemeines Wissen, wann ein Kind regelmäßig zurückkommt und wohin es regelmäßig zurückkommt. Eine mögliche Antwort wäre: nach der Schule, nach Hause. Ein weiteres Signal ist: „hatte seinen Schatten mit über die Hecke genommen". Es handelt sich um einen metaphorischen Sprachgebrauch, der weniger eine reale Gefahrensituation anzeigt als andere Kontexte. b) Kontextsignale wie z.B.: Barbara Frischmuth ist eine österreichische Schriftstellerin; Haushälterin; Landhausstraße. Diese Signale grenzen den Ort ein, in dem diese Geschichte spielen könnte und enthalten somit schon versteckte Hinweise auf eine „nicht normale" Situation, c) Textsignale/Gattungssignale: Der Verweis auf das „Kind" zu Anfang löst die berechtigte Erwartung aus, daß das Kind im folgenden noch eine Rolle spielen könnte. Jedoch wird diese Möglichkeit mit dem dritten Abschnitt eingegrenzt, wo der Text seinen thematischen Hauptgedanken allmählich zu erkennen gibt: daß der Puma Fiktion ist. Für diesen Rahmen spielt das Kind weiter keine Rolle. Ein weiteres Signal ist die Innenperspektive. Sie zeigt mir zumindest an, daß es sich wohl kaum um eine abenteuerliche Situation handeln könnte, sondern der „Puma" noch in einem anderen Zusammenhang zu sehen sein könnte. d) literarische und erzählerische Signale: Alle Hinweise im Text, die darauf zielen, die Situation mit dem Puma als real vorzugeben, könnten zugleich auch Signale auf die „Fiktivität"* der Situation sein. Diese Bewertung leitet sich aus dem Wissen und der Erwartung des Lesers ab, daß Erzählungen und allgemein literarische Texte aus bestimmten Motiven heraus geschrieben werden und auf bestimmte Ziele hinsteuern. Die Suche nach der erzählerischen Motivation und Zielsetzung steuert ganz wesentlich den Leser. Er kann aufgrund seiner Annahme, daß Geschichten einen Sinn, d.h. eine Absicht und ein Ziel haben müssen, Hypothesen bilden, die sich über eine größere Textmenge nach vorne erstrecken. Der Leser kann sich in seiner Erwartungshaltung offen halten, wo der Text ihm zugleich feste Schemata (z.B. die Wirklichkeit des Pumas) anbietet. Diese längerfristigen Erwartungen des Lesers leiten sich hierbei aus seinem Wissen über literarisch-ästhetische wie erzählerische Spielregeln ab. Die verschiedenen Hinweise im Text sprechen jeweils sehr unterschiedliche Wissensbereiche in einem Leser an und veranlassen ihn abzuwägen, welche Interpretationen wahrscheinlich sind. Der Leser muß also unter Einschluß seines jeweiligen Wissens (Sprach-, Text-, Gattungs- und Weltwissen) Textsignale im Hinblick auf mögliche Deutungen bewerten. Der Leser durchläuft fortlaufend ein inneres, stillschweigendes und zumeist unbewußtes Entscheidungsverfahren, bei dem er in der Auseinandersetzung mit dem Text jeweils sein Wissen anwendet, um Deutungs- und Erwartungsspielräume einzugrenzen. Dieses innere Entscheidungsverfahren - in der Fachliteratur auch „Heuristik"* genannt — erfordert somit von einem Leser nicht nur, daß er die Sprache beherrscht, mit kommunikativen Spielregeln des Textaufbaus und der Themenführung sowie mit der beschriebenen Wirklichkeit vertraut ist, sondern es erfordert auch ein Können, nämlich sein Wissen so anzuwenden, daß er Erwartungen einnehmen, Hypothesen bilden und abändern kann, bis er am Ende eine Ganzheit/ein Gesamtverständnis gefunden hat. Das sind Deutungsfähigkeiten, die grundlegend für das Verstehen literarischer Texte sind. Da das Deuten selbst eine Kulturtechnik ist, können auch hier beim Lesen fremdsprachlicher Texte Verstehenshindernisse auftreten, wenn nämlich ein fremdsprachiger Leser mit diesen Deutungstechniken nicht vertraut ist. Wenn die erste Gruppe an dem Schema „Der Puma ist real." festhält, dann hat sie den Text mißverstanden. Das heißt, sie hat bestimmte Textsignale, die dieses Schema in Frage stellen und Erwartungen bezüglich eines anderen Schemas erzeugen, entweder nicht wahrgenommen oder aber nicht bewerten können. Die Grunde dafür mögen vielfältig sein. Vielleicht sind bestimmte Interpretationstechniken nicht einsetzbar, weil sie aufgrund ihrer literarischen Ausbildung in ihren Heimat- 71 Aufgabe ai ländem darüber nicht verfügen, vielleicht haben sie kein Interpretationsschema wie „Verschiebung von Realität und Fiktion", vielleicht ist dieses ein Begriffspaar und ein Denken, das ihnen fremd ist, so daß sie in dieser Hinsicht auch keine Erwartungen einnehmen können. Was die Vertreter der zweiten Gruppe betrifft, so läßt sich festhalten, daß sie offenbar über das Schema des Textes „Verschiebung von Realität und Fiktion" verfügen und von irgendeinem Punkt an dieses Schema bei ihnen aktiviert wird. Vor diesem Hintergrund konnten Sie auch weitere Textinformationen angemessen deuten und eine Kohärenz* herstellen. Erwartungshorizonte Literarische Texte setzen einen bestimmten Leser voraus, einen Leser, der mit den Kategorien und Sinnzusammenhängen, die ihnen zugrunde liegen, vertraut ist, so daß er die notwendigen Ergänzungen in einem Text vornehmen kann. Sie setzen auch die Fähigkeit bei einem Leser voraus, sein Wissen einbringen zu können und Hinweise auf versteckte Zusammenhänge aufnehmen und deuten zu können, damit er Sinn bilden kann {= Deutungsfähigkeiten). Texte spielen mit den Erwartungen des Lesers, indem sie bestimmte Deutungsschemata aktivieren, im weiteren Verlauf des Lesens wieder zurücknehmen, bestätigen, umwandeln u.a.m. Hier gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, die Erwartungen des Lesers zu steuern. Damit wird insgesamt die Leseerfahrung organisiert, um auf diese Weise Erfahrungs- und Sehweisen eines gesellschaftlich-geschichtlichen Raumes zu vermitteln. Ein realer Leser, der aufgrund einer anderen kulturellen Verwurzelung in einem anderen Horizont von Erwartungen (H.-R.-Jauß, 1970), Erfahrungen und Wissen steht als der fremdsprachliche literarische Text, muß sich die dem Text zugrunde liegenden Schemata erst erarbeiten, und d.h., er muß neue Erwartungen erwerben. Unter diesem Aspekt ist das Lesen eines literarischen Textes ein Lernprozeß: Der Leser kann in der Auseinandersetzungmit dem Text schrittweise neue Erwartungen erwerben, alte modifizieren und sich im steten Wechsel von Texterwartungen und eigenen Erwartungen Fremdes aneignen. Um einen solchen Lernprozeß der schöpferischen Auseinandersetzung mit einem literarischen Text auszulösen und zu steuern, werden in der Literatur besondere Stilmittel verwendet. Ein zentrales Stilmittel ist die Gestaltung der Perspektive, die wir uns nun bei dem Text von B.Frischmuth noch genauer ansehen sollten. B.Frischmuth wählt eine bestimmte Perspektive, aus der heraus die Geschichte entwickelt wird und die in besonderer Weise die Erwartungen des Lesers lenkt. Um die Perspektive eines Textes zu ermitteln, können Sie einmal die Fragen stellen: a) Wer erzählt? (Erzähler) b) Wer handelt, erfährt, beobachtet, denkt? (Figur in der erzählten Welt) Sie erinnern sich, der Erzähler in „Momo" steht außerhalb der erzählten Welt, während der Erzähler im „Bassompierre" identisch ist mit der Handlungsfigur. Neben diesem Unterscheidungsmerkmal gibt es noch ein zweites: a) Wird aus der I n n e n p e r s p e k t i v e einer Figur heraus erzählt/dargestellt? b) Werden Figuren und Vorgänge von einer Außenperspektive her dargestellt wie bei M. Ende und auch bei Goethe, wo der Ich-Erzähler seine eigenen Erlebnisse von außen schildert? Wenden Sie diese Unterscheidungsmerkmale einmal auf den Text von B.Frischmuth an: 1. Aus welcher Perspektive heraus wird die Geschichte entwickelt? 2. Wo liegt die Perspektive am Anfang? 3. Ändert sich die Perspektive im Verlaufe des Textes? Wenn Sie die Perspektive beschrieben haben, können wir weiterfragen: Wie wir an früherer Stelle bereits gesagt haben, besitzen alle Stilmittel eine Funktion im Hinblick auf die Absichten eines Erzählers/Autors. Die Aufgabe des Lesers besteht nicht nur darin, Stilmittel zu erkennen, sondern er muß sie auch bewerten und mit den Textinhalten integrieren können, um eine Gesamtheit zu finden. Warum wählt B. Frischmuth diese Perspektive? Welche Funktion hat die Perspektive für die Entwicklung des Themas dieses Textes? 1. Literarische Texte erzeugen Erwartungen bei einem Leser, die wiederum seinen Lese- und Verstehensprozeß steuern. 2. Diese Erwartungen leiten sich ab aus jenen Deutungsschemata, die bei einem Leser wachgerufen werden. 3. Allgemein leiten sich Erwartungen ab aus dem Wissen des Lesers über a) die Sprache und ihre Konventionen b) über Texte und ihren Aufbau c) über Gattungen d) über literarische Stilmittel und Strategien e) über die Welt und bestimmte Zusammenhänge in der Welt wie z.B. das Wissen, wo Pumas normalerweise vorkommen. 4. Darüber hinaus braucht ein Leser auch Deutungstechniken, um Sinn bilden zu können. Er muß Signale eines Textes wahrnehmen können, um Erwartungen einnehmen und Hypothesen bilden zu können. Er muß sein vorhandenes Wissen auf Texte anwenden können, und er muß zugrundeliegende Schemata ableiten können. 5. Wenn ein Leser aber nicht über die dem Text zugrunde liegenden Schemata und Begriffe verfügt, z.B. aufgrund kulturräumlicher Distanzen oder auch aufgrund einer zeitlichen Distanz innerhalb eines Kulturraumes, dann kann es geschehen, daß er die Textsignale nicht sieht oder nicht richtig bewerten kann und daß er falsche Erwartungen an einen Text heranträgt und somit insgesamt den Text mißversteht und verzerrt. 6. Erzeugung, Aufrechterhaltung, Erfüllung und Brechung von Erwartungen des Lesers sind literarische Stilmittel, um die Erfahrung des Lesers zu strukturieren und mit ihm und seinem Wissen zu spielen. Diese Erfahrungen eröffnen dem Leser den Zugang zu versteckten Sinnzusammenhängen und den jeweiligen Sehweisen eines gesellschaftlich-geschichtlichen Raumes. 7. Die Erfahrung des Lesers erhältunter diesem Vorzeichen eine Vermittlungsfunktion. Sie ist wie die Sprache ein Medium. 8. Nicht zuletzt liegt darin auch die schöpferische Seite des Lesens und Deutens und auch die Chance für das Verstehen fremdsprachlicher Texte: Der Leser kann aus seiner Text- und Leseerfahrung heraus Neues erwerben. Aufgabe 82 Aufgabe 83 Zusammenfassung 72 73 7.2 Lesen als Lernprozeß Aus den vorhergehenden Betrachtungen und Analysen können wir für den fremdsprachlichen Literaturunterricht folgendes ableiten: Zum methodischen Verfahren: Durch das abschnittsweise Lesen eines Textes wird der Lesevorgang insgesamt verlangsamt und unterbrochen. Damit können Leseerfahrungen, insbesondere die Erwartungen und Hypothesen des Lesers, und deren schrittweise Weiterentwicklung sichtbar gemacht werden. Das hat für den Unterricht mehrere Funktionen: a) eine motivationale Funktion: Meiner Erfahrung nach macht es den Schülern Spaß, zu antizipieren, wie es weitergehen könnte. Sie werden neugierig und sind selbst gespannt, ob ihre Erwartungen nun zutreffen oder nicht. b) eine kommunikative Funktion: Insbesondere unter dem Aspekt fremdsprachlichen Lesens und Verstehens bilden Erwartungen eine Schnittfläche (oder auch eine Prüffläche), wo der fremdsprachige Leser in Übereinstimmung mit dem Text Erwartungen einnimmt, wo er abweicht, wo er sich mit dem Text und auch mit anderen fremdsprachigen wie muttersprachigen Lesern trifft und somit eine gemeinsame Verständigungsbasis gegeben ist und wo sich seine individuelle Lesart, seine Eigenperspektive herausdifferenziert. c) eine didaktisch-hermcneutische Funktion: Durch Bildung und Überprüfung von eigenen Hypothesen am Text wird der Schüler fortlaufend mit seinen eigenen Vorverständnissen konfrontiert, so daß das Lesen selbst und das Gespräch Uber die jeweiligen Erwartungen einen Lernprozeß auslösen, in dem der Schüler eine fixierte Einstellung abändern kann, seinen Blickpunkt zwischen sich und dem Text - wie auch zwischen sich und anderen Lesern - hin und her wandern lassen kann. Damit wird aus der Leseerfahrung heraus der Prozeß eines fortlaufenden Perspektivenwechsels in Gang gesetzt, von dem wir im vorhergehenden Kapitel gesagt hatten, daß er eine grundlegende Verstehens- und Wahrnehmungsfähigkeit ist. Zudem wird dieser Prozeß sichtbar gemacht und kann somit zum Gegenstand des Unterrichtsgespräches werden. d) eine ästhetische Funktion: Das Verfahren des Textes, nämlich Leseerwartungen in besonderer Weise zu steuern, wird damit aufgedeckt und erlaubt wiederum Rückschlüsse auf übergeordnete Absichten. Zugleich wird die Besonderheit des Literarisch-Ästhetischen, nämlich Leseerfahrungen zu organisieren, um damit bestimmte Inhalte (Weltbilder, Sehweisen) zu vermitteln, zur Grundlage des Unterrichts gemacht. Somit wird der Text selbst zum Lehrmeister des Schülers, der sich in der Auseinandersetzung mit ihm dessen zugrundeliegende Schemata erschließen kann. Darin liegt nicht zuletzt auch der schöpferische Charakter des Lesens und Deutens literarischer Texte. Dieses Verfahren, den Leseprozeß zu verlangsamen, zwingt Ihre Schüler dazu, genau zu lesen und möglichst alle Aspekte des Textes aufzunehmen und daraufhin zu prüfen, wie weit sie mit den herangetragenen Schemata verträglich sind oder nicht. Damit würden Sie ihre Deutungsfähigkeiten schulen, wie z.B. Bewerten von Textsignalen, Integrieren von Form und Inhalt, Anwenden von Wissen und Aufbau von Deutungszusammenhängen. Sie würden auch die Fähigkeit schulen, eigene Erfahrungen zu objektivieren und herangetragene eigenkulturelle Vorverständnisse zu hinterfragen. Zugleich würden sich Ihre Schüler ganz persönlich einbringen können, sie wären immer in ihrem „Eigenen" angesprochen - seien es ihre Gefühle und Interessen, seien es ihre Erfahrungen und allgemeinen Weltorientierungen. Insgesamt würde die Fähigkeit, sich fremdsprachliche Texte selbständig anzueignen, gefördert werden, so daß sie selbst Hypothesen bilden und am Text überprüfen können, daß sie Erwartungen einnehmen und diese im Verlaufe des Lesens modifizieren können, daß sie Standorte wechseln können und insgesamt in der Lage sind, schöpferisch mit einem Text umzugehen und Sinnzusammenhänge zu bilden, die sowohl textangemessen sind als auch ihre eigene Sichtweise ausdrücken. Da Erwartungen sich aus verschiedenen Wissensbereichen des Lesers ableiten, könnten Sie im Unterricht gezielt das Wissen aufbauen, das für ein angemessenes Textverständnis jeweils notwendig ist. Wenn beispielsweise Ihre Schuler bei dem Wort „Puma" an Länder denken, wo Pumas leben, und es deshalb gar nicht für unwahrscheinlich halten, daß der Puma wirklich ist, dann müßten Sie denKontext aktualisieren, in den dieser Text einzuordnen ist. „Haushälterin",,.Landhausstraße", eventuell auch das Wissen, daß B.Frischmuth eine österreichische Schriftstellerin ist (Das ist nicht unbedingt zwingend, denn sie kann natürlich durchaus über ein exotisches Land schreiben; aber es könnte als stutzendes Signal wirken, das mit den anderen zusammen den möglichen Kontext eingrenzt.), sind Hinweise darauf, daß diese Geschichte nicht in einem exotischen Land spielt, sondern in einem deutschsprachigen Land, wo es normalerweise keine Pumas gibt. Damit würde sich die Frage nach der Wahrscheinlichkeit und/oder Unwahrscheinlichkeit des Auftretens des Pumas hier stellen. Auf diese Weise wird der Leseprozeß zu einem Lernprozeß, wo schrittweise vorhandenes Hintergrundwissen Ihrer Schüler aktualisiert und vor allem auf den Text angewandt wird, um verständliche und überzeugende Zusammenhänge zu bilden, und wo fehlendes Hintergrundwissen so vermittelt und aufgebaut werden kann, daß es mit der Texterfahrung in eins geht. Der Erwerb neuen Wissens und die Integration vorhandenen Wissens laufen hier mit dem Lese- und Erfahrungsprozeß einher. Damit würden Sie einer lernpsychologischen Einsicht folgen, derzufolge neue Begriffe (neues Wissen) aus der Erfahrung heraus entwickelt werden sollten, damit sie wirklich verstanden und verarbeitet sind. An diesem Punkt verbindet sich Lernen mit der spezifisch literarisch-ästhetischen Erfahrung und der schöpferischen Kraft des Lesers, Sinn zu bilden.