494 Wendeliteratur – Literatur der Wende? Der Mauerfall in ausgewählten Werken der deutschen Literatur Nicole Leier Zusammenfassung Das historische Ereignis der Wende gehört zu einem der bedeutendsten Stoffe der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur. Der Zeitpunkt der Entstehung hat dabei einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Form und Stil des literarischen Werkes: Von einer zunächst eher ironisch geprägten Herangehensweise über einen nostalgisch-verklärenden Ansatz bis zu den jetzigen Tendenzen klassischen Erzählens wird in dem vorliegenden Aufsatz beispielhaft dargelegt, wie sich der Blickwinkel der Autoren auf die Wendeereignisse verändert und wie diese unterschiedlichen literarischen Zeugnisse im Deutschunterricht eingesetzt werden können. 1. Einleitung: Zum Thema Wende und Deutsche Einheit existieren unzählige literarische Verarbeitungsversuche und zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen. Es ist von daher kaum möglich, einen umfassenden Überblick über die Thematik zu geben, zumal die Definition der sogenannten Wendeliteratur keineswegs eindeutig ist: Handelt es sich um Texte, die in den Jahren 1989/90 geschrieben wurden? Oder geht es vorwiegend um Texte, die erst nach dem Ende der DDR erscheinen konnten? Sind es vor allem ostdeutsche Autoren, die sich dieser Thematik annehmen? Welcher inhaltliche Bezug zu den historischen Ereignissen – vor, um und nach 1989 – lässt sich in den Texten finden? Eine klare Definition ist schwierig, wenngleich thematische Aspekte bei der Begriffsbestimmung eine wesentliche Rolle spielen: Die Darstellung von Missständen, die zur Wende geführt haben, die Behandlung der Wendeereignisse selbst sowie die Schilderung des Lebens nach der Wende dienen in der Regel als Klassifikationsmerkmale. Ein weiteres Merkmal der Klassifikation sind selbstverständlich auch die literarischen Gattungen: So finden sich die ersten literarischen Reaktionen auf den Mauerfall vor allem im Bereich der Lyrik – Volker Braun oder Durs Grünbein sind namhafte Vertreter. Mittlerweile ist jedoch die Prosa – vor allem quantitativ betrachtet – die wichtigste Gattung. Und auch die Herkunft und das Alter der Autoren sind bei den unterschiedlichen literarischen Verarbeitungsansätzen nicht ganz uner- heblich. Diese Kriterien haben auch bei der Auswahl der Texte, die ich vorstellen möchte, eine Rolle gespielt: Es werden vor allem Prosatexte ostdeutscher Autoren der mittleren und jüngeren Generation betrachtet, die exemplarisch für bestimmte Charakteristika und Entwicklungen der sogenannten Wendeliteratur stehen, die ich im Folgenden aufzeigen möchte. Info DaF 37, 5 (2010), 494–515 495 Jeder Roman wird zunächst literarischwissenschaftlich analysiert, bevor hinterfragt wird, ob und wie sich die Texte im Fremdsprachenunterricht einsetzen lassen. Nach dieser für jeden Text einzeln vorgenommenen Analyse wird am Ende des Aufsatzes eine Unterrichtsreihe dargelegt, die auf der Grundlage der hier behandelten Texte in einer französischen Oberstufenklasse mit Sprachniveau B2 durchgeführt wurde. 2. Der ironische Ansatz: Thomas Brussig: Helden wie wir Der 1965 in Ostberlin geborene Thomas Brussig gehört der Generation an, welche die Umbruchsituation als junge Erwachsene erlebten. Sein 1995 erschienener Roman Helden wie wir (Brussig 1995) avancierte recht schnell in Ost und West zu einem Kultbuch, das – wie das Buchcover schon vermuten lässt – eine außergewöhnliche Version des Mauerfalls prä- sentiert: Der Ich-Erzähler Klaus Uhltzscht ist ein Antiheld, der seine Kindheit in einem alle Sextriebe unterdrückenden Elternhaus – die Mutter ist Hygieneinspektorin, der Vater bei der Stasi – als Außenseiter erlebt. Beim frühen Spiel mit Gleichaltrigen leidet er unter einem zu klein geratenen Penis. Diese Komplexe ziehen sich bis in die Militärzeit fort, in der er von der Stasi angeworben wird. In Allmachtsphantasien träumt er schon vom Einsatz als Retter des Sozialismus und Spitzenagent, besonders als seine spezielle Blutgruppe ihn aus dem Alltag sinnloser Personenüberwachungen befreit, weil er Blut für das Staatsoberhaupt Honecker spenden soll. Die Montagsmärsche sind schon in vollem Gang, als er sich am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz einfindet. Dort hört er Christa Wolf sprechen, verwechselt sie aber mit der Eislauftrainerin Jutta Müller (vgl. Wehdeking 2000: 34). Um dieser Rede, oder wie der Erzähler selbst sagt, »diesem abschreckenden Beispiel für Sozialismustümelei« (288) ein Ende zu machen, will Klaus Uhltzscht durch einen Fußgängertunnel zur Bühne gelangen, verletzt sich aber durch einen ihm zwischen die Beine geratenen Besenstil eines Demonstrationsplakates. Die anschließende Operation lässt seinen zu klein geratenen Penis überdimensionale Formen annehmen. Der so zu neuer IchStärke gekommene Uhltzscht avanciert schließlich zum Helden des 9. Novembers 1989: Während die abwartenden Mitbürger an einem geschlossenen Grenzübergang auf die im Fernsehen angedeutete Grenzöffnung warten, stürmt Uhltzscht zum Tor, öffnet demonstrativ den Mantel und die vom Anblick des gigantischen Glieds schockierten Grenzpolizisten lassen ihn wie hypnotisiert hindurch. Hinter ihm stürmt das Volk in die Freiheit. Die Mauer ist gefallen. Diese ironisch-satirische Version des Mauerfalls ist eingebettet in eine Rahmenhandlung: ein Interview mit Mister Kitzelstein von der New York Times, der herausfinden möchte, wie Uhltzscht die Maueröffnung erreicht hat. Diese Ausgangssituation erzeugt eine gewisse Spannung beim Leser, der schon zu Beginn des Romans mit der zurückgewiesenen »DasVolk-sprengt-die-Mauer-Legende« konfrontiert wird (6). Das Ende des Romans in seiner bewusst ahistorischen Darstellung des Mauerfalls widerlegt erneut die aktive Rolle der Bevölkerung der DDR: »Sehen Sie sich die Ostdeutschen an, vor und nach dem Fall der Mauer. Vorher passiv, nachher passiv – wie sollen die je die Mauer umgeschmissen haben?« (319f.) Das Ende des Romans scheint somit die zu Beginn schon deutlich werdenden größenwahnsinnigen Visionen des Ich-Erzählers zu bestätigen, bricht sie jedoch zugleich durch Übertreibung und Ironie. Brussig bedient sich der Stilmittel der Hyperbel und der Ironie, um die Rhetorik der 496 Wende zu persiflieren. Er zieht somit die Geschichte vom Ende der DDR ins Lächer- liche. Hohn und Spott ergießen sich in dem Roman auch über Christa Wolf, deren Rede vom 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz im Roman in voller Länge zitiert und vom Ich-Erzähler entsprechend kommentiert wird. Sie gäben sich den Anschein, gegen das überkommene System der DDR zu rebellieren, seien tatsächlich aber dessen Vertreter: »Jede Revolution hat die Reden, die sie verdient, und ich habe Ihnen diese Rede in voller Länge präsentiert, weil sie noch heute als Kristallisationspunkt des 89er Herbstes gehandelt wird – was mir, ob Sie’s glauben oder nicht, sofort klar war. Eine echte Eiskunstlauftrainerinnen-Rede, finden Sie nicht? Diese angestrengte Eleganz, dieses Schwelgen in Passagen, die garantiert eine hohe B-Note abwerfen – und gleichzeitig diese kurzatmige politische Programmatik mit einigen verstolperten, verpatzten oder ausgelassenen Sprüngen, die vom betörten Laienpublikum glatt übersehen werden.« (Brussig 1995: 285 f.) Diese und andere Kommentare zielen auf die Konstruktion eines Autorbildes: Wolf steht pars pro toto für eine Generation von Schriftstellern, welche die DDR aus der Perspektive ihrer Kriegs- bzw. Nachkriegserfahrungen beurteilte und als antifaschistische Alternative zur Bundesrepublik bis zuletzt verteidigte. Dieser Haltung kann die Generation von Thomas Brussig, wie Helden wie wir vor Augen führt, nur mehr mit Unverständnis begegnen (vgl. Geier 2009: 118). Der Roman Helden wie wir ist somit ein gutes Beispiel für den ironischen Ansatz, der sich – zeitlich gesehen – sehr früh in der Wendeliteratur findet. Der Umgang mit der Vergangenheit der DDR ist zunächst nur in der Form der Satire möglich, in der die wichtigsten Mythen der Wende ironisiert werden und mit dem Literatursystem des DDR-Staates abgerechnet wird. Die ironisch-distanzierte Perspektive, mit der Brussig sich der Vergangenheit nähert, erlaubt es, schonungslos auf die Missstände in der ehemaligen DDR zu verweisen. (Vgl. Britta Lange: Literatur und Wende. http:// www.goethe.de/kue/lit/prj/lwe/hin/ de4278641.htm) Diese ironische Perspektive erschwert jedoch den Einsatz des Textes im Unterricht. Damit es zu keinerlei Missverständnissen bei den Lernenden kommt, erscheint es mir notwendig, von Anfang an zu verdeutlichen, dass der Roman keineswegs der Realität entspricht. Dem von mir für den Unterricht ausgewählten Auszug habe ich von daher eine kurze Erläuterung vorangestellt, die verdeutlichen soll, dass ostdeutsche Autoren wenige Jahre nach der Wiedervereinigung häufig einen ironischen Ansatz gewählt haben, um gewisse Mythen der Wende ins Lächerliche zu ziehen. Der von mir im Unterricht behandelte Auszug bezieht sich auf die Kernthematik des Romans. Bewusst habe ich die Problematik um Christa Wolf und die Abrechnung mit dem Literatursystem der DDR außen vor gelassen, da dies zu große Vorkenntnisse erfordert hätte. Die zwei Textpassagen, die ich letztendlich ausgewählt habe, ergänzen sich: Es handelt sich um eine Textstelle des Romananfangs, die einerseits den Größenwahn des Erzählers und seine überzogenen Vorstellungen verdeutlicht und andererseits zugleich die Geschichtsfälschung thematisiert, die der Roman schildert. Die zweite von mir ausgewählte Passage ist die Szene der Maueröffnung, auf die die Handlung zuläuft.1 1 Der im Unterricht eingesetzte Text ist eine Zusammenstellung mit sprachlich leicht angepassten Auszügen: Brussig 1995: 5 f. und 318 f. 497 3. Der nostalgische Ansatz: Jana Hensel: Zonenkinder Während der zur Zeit der deutsch-deutschen Vereinigung fünfundzwanzigjährige Thomas Brussig sein Abitur schon längst hinter sich hatte, zudem eine Ausbildung zum Baufacharbeiter abgeschlossen, unter anderem als Museumspförtner, Tellerwäscher und Hotelportier gejobbt und seinen Wehrdienst abgeleistet hatte, war die 1976 in Leipzig geborene Jana Hensel gerade 13 Jahre alt, als die Mauer fiel. Sie gehört der ersten Nachwendegeneration an, für die die angestammten Erziehungsautoritäten – vor allem Lehrer und Eltern – weitestgehend ausfallen und die aufgrund der noch fehlenden politischen Sozialisation die DDR eher als Heimat denn als restriktives politisches System begriffen. Die Rekonstruktion der verschwundenen Heimat und der damit verbundenen Kindheitserinnerungen ist auch der Gegenstand des 2002 erschienenen, sehr erfolgreichen, aber durchaus umstrittenen Buches Zonenkinder (Hensel 2002), das als Bericht, Essay oder auch als Roman bezeichnet wurde (vgl. Thomas 2009). Es geht der Autorin, wie sie im ersten Kapitel mit dem Titel »Das schöne warme Wir-Gefühl« explizit sagt, um folgendes Anliegen: »Ich möchte wieder wissen, wo wir herkommen, und so werde ich mich auf die Suche nach den verlorenen Erinnerungen und unerkannten Erfahrungen machen, auch wenn ich fürchte, den Weg zurück nicht mehr zu finden«, denn »ganz so, wie es unser ganzes Land gewünscht hatte, ist nichts übrig geblieben von unserer Kindheit«. (Hensel 2002: 14) Diesen verloren geglaubten Erinnerungen entgegengesetzt sind die unterschiedlichen, im Buch beschriebenen Aspekte über das Leben in der DDR (u. a. über Erziehung, Sport, Kleidung, Ostprodukte). Die idealisiert-verklärende Darstellung der Kindheit in der DDR ist gleichsam Ursprung eines das Buch charakterisierenden (n)ostalgischen Tons. Es wird immer wieder auf Dinge verwiesen, die nicht mehr existieren, die plötzlich anders heißen: »Statt Otto & Alwin-Bildchen sammelten wir Überraschungseier, statt Puffreis aßen wir Popcorn, die Bravo ersetzte die Trommel.« (Hensel 2002: 20) »Die Dinge hießen einfach nicht mehr danach, was sie waren. Vielleicht waren sie auchnichtmehr dieselben.« (Hensel 2002: 22) Es scheint, als ob diesen Dingen nachgetrauert wird, als ob die als notwendig empfundene Anpassung im vereinigten Deutschland als problematisch empfunden wird: »Unser Blick ging nur nach vorn, nie zurück. Unablässig das Ziel vor Augen, taten wir gut daran, unsere Wurzeln so schnell wie möglich zu vergessen, geschmeidig, anpassungsfähig und ein bisschen gesichtslos zu werden.« (Hensel 2009: 72) Die dargestellten kollektiven Erinnerungsspuren zeichnen aber nicht nur das Bild einer idealtypischen Kindheit in der DDR, sondern sind gleichsam eine Antwort auf das Gefühl der individuellen Isolation und Andersartigkeit in der neudeutschen Gegenwart. Diese Alterität wird jedoch keineswegs als positiv empfunden. Es wird vielmehr der enorme Druck einer Anpassungsleistung an den Westen geschildert, der darin gipfelt, dass nicht nur die Heimat fremd wird, sondern auch das Ich (vgl. Brüns 2009: 96). Auffällig ist jedoch, dass diese Feststellung nicht auf die Erzählinstanz beschränkt bleibt, sondern vielmehr durch die Verwendung der Wir-Form auf eine ganze Generation übertragen wird: »Wie ich waren auch sie bemüht, sich dauerhaft, in einer Fremdheit einzurichten, die sich auf dem Boden des Heimatlandes ausbreitete und von uns verlangte, permanent alte gegen neue Bilder auszutauschen.« (Hensel 2002: 45) 498 Durch diese Erzählperspektive wird von Anfang an ein kollektives Gefühl zwischen den Altersgenossen gleicher Herkunft geschaffen. Ausgegrenzt werden zugleich die gleichaltrigen Westdeutschen, da für sie eine Identifizierung mit den geschilderten Erinnerungen nicht möglich ist. An diesem konstruierten Wir-Gefühl entzündete sich auch die Kritik in den Feuilletons und bei den Lesern, denn es fühlten sich keineswegs alle in gleichem Maße angesprochen, viele empfanden das ›Wir‹ als aufgezwungene Identifikation. Tom Kraushaar bemerkt in diesem Zusammenhang zu Recht, dass Jana Hensel »scharf an einer Altersgrenze entlanggeschrieben hat«: Ostdeutsche, die 1989 nur wenige Jahre älter waren als die Autorin, haben in der Wende stärker einen politischen Wandel gesehen; für sie ist Zonenkinder eine naive, unhistorische Verharmlosung ihrer Erlebnisse oder ein Dokument unreflektierter Anpassung an den Westen. Ganz anders die Nachwendegeneration von Jana Hensel, die noch kein kritisch-politisches Bewusstsein ausgebildet hatte und die den historischen Zusammenbruch der DDR als Teil des pubertären Verlustes von Kindheit verstehen konnte. Die DDR wurde für sie vollständig in die Welt der Erinnerungen, in eine »Märchenzeit« (Hensel 2002: 13), wie Jana Hensel sagt, überführt. Diese unterschiedlichen Erfahrungen und Interpretationen gilt es meiner Meinung nach auch bei der Verwendung des Textes im Unterricht herauszustellen. Es muss deutlichwerden,dasssichdernostalgischverklärende Blick auf den Verlust der Kindheit einer Generation beschränkt und dieOstdeutschennicht allgemeindemUntergang der DDR hinterhertrauern. Bei dem im französischen Lehrbuch für die gymnasiale Oberstufe Alternative Allemand 1re (Audibert/Chatenet/Frènes/Halberstadt/Dalmas 2005: 73) zu findenden Textauszug, in dem es um die verschiedenen Kindheitshelden in Ost und West geht, werden die unterschiedlichen Kindheitserinnerungen gut veranschaulicht. Es wird deutlich, dass sich westeuropäische Studierende problemlos über ihre Kindheitshelden wie die Schlümpfe, Pippi Langstrumpf oder Asterix und Obelix austauschen können, niemand jedoch Alfons Zitterbacke oder den braven Schüler Ottokar kennt. Die Lernenden begreifen recht schnell, dass sich die Erzählerin ausgeschlossen fühlt, ziehen jedoch auch den Schluss, dass die Erzählerin die DDR wiederhaben möchte. Von daher wäre es meiner Meinung nach angemessen gewesen, wenn die Lehrbuchautoren hier eine weiterführende Aufgabe angeboten hätten, die einer solchen Verallgemeinerung entgegenwirken könnte. Eine Passage, die sich meines Erachtens auch für den Unterricht eignet, ist der Anfang des Buches.1 Dort beschreibt Jana Hensel, wie sie gemeinsam mit ihrer Mutter an einer der Montagsdemonstrationen in Leipzig teilgenommen hat und welche Intentionen sie mit diesem Buch verfolgt. Hier wird eher deutlich, dass es der Autorin zwar darum geht, sich an verloren gegangene Kindheitserfahrungen zu erinnern, sie aber nicht die politischen Umwälzungen des Herbstes 1989 bereut. 4. Der parabolische Ansatz: Ingo Schulze: Adam und Evelyn Der 1962 in Dresden geborene Ingo Schulze gehört – wie Thomas Brussig und im Gegensatz zu Jana Hensel – der Generation an, die bereits zum Zeitpunkt des 1 Der im Unterricht eingesetzte Text ist ein sprachlich leicht angepasster Textauszug; vgl. Hensel (2002: 11–14). 499 Mauerfalls politisch sozialisiert war. Er gilt als einer der zuverlässigsten Chronisten der deutschen Wiedervereinigung. Im Mittelpunkt seiner Werke stehen die Hoffnungen und Erwartungen, aber auch die Bedenken, Ängste und Sorgen der ehemaligen DDR-Bürger. Seine literarischen Formen reichen vom Episoden- (Simple Storys, 1998) zum Briefroman (Neue Leben, 2005) über Erzählungen (Handy, 2007) bis zur 2008 erschienenen Tragikomödie Adam und Evelyn (Schulze 2008). Während Ingo Schulze in dem über 700 Seiten umfassenden Briefroman Neue Leben mit intertextuellen Verweisen (insbesondere auf die Faust-Tradition) ope- riert1 , verknüpft der Roman Adam und Evelyn drei unterschiedliche Themenstränge: den der biblischen Schöpfungsgeschichte, den der Maueröffnung und den der Liebeshändel (vgl. Winkels 2008). Er erzählt die Geschichte des 33jährigen Damenschneiders Adam, der zusammen mit seiner 21jährigen Freundin Evelyn im Haus seiner verstorbenen Eltern in der DDR lebt. Als Evelyn den von seinen Kundinnen begehrten Schneider im Sommer 1989 in flagranti erwischt, beschließt sie gemeinsam mit ihrer Freundin Simone und deren Westcousin Michael nach Ungarn an den Plattensee zu fahren. Sie will, wie sie selbst sagt, diesem verlogenen Leben, aber auch diesem verlogenen Staat entfliehen. Adam will sie jedoch nicht verlieren und fährt ihr hinterher. Die Ereignisse – sowohl die politischen als auch die privaten – überschlagen sich und das Schicksal von Adam und Evelyn gerät in den Sog der sozialistischen Endzeit, die im Spätsommer 1989 in Ungarn ihren Ausgangspunkt hatte. Neben dem seit dem Bestseller Simple Storys immer wieder von Ingo Schulze unter Beweis gestellten Erzählrezept, private Lebens- und politische Weltgeschichte ineinander fließen zu lassen (vgl. Mangold 2008), steckt in diesem Stoff eine weitere Dimension, eine Parabel, über die sich der Autor selbst folgendermaßen äußert: »Adam und Evelyn ist […] der Versuch, den Weltumbruch mit einem unterlegten Mythos zu erzählen. Und irgendwann verband sich für mich diese Idee dann mit Adam und Eva. Also dieser Sündenfall, auch diese Erkenntnis von Gute und Böse, und heraus aus dem Paradies. Beziehungsweise die Sehnsucht nach dem Paradies, hinein ins Paradies. Also überhaupt die Frage: Was [und wo] ist das, das Paradies?« (vgl. Lesezeichen, Sendung vom 21.9.2008) Geht man diesen Fragen nach, ergeben sich unterschiedliche Antworten, die von der Perspektive der jeweiligen Figur abhängen: Als Damenschneider im Osten hat Adam alles: Geld, einen Garten, Frauen. Dieses östliche Paradies, in dem er im Marxschen Sinne ein unentfremdetes Leben führt, verlässt er nur widerwillig. Nur seine Liebe zu Evelyn lässt ihn schließlich in den Westen gehen, wo er einen erschütternden Deprivationsprozess durchmacht und als Hilfskraft bei einem Änderungsschneider anfängt (vgl. Hillgruber 2008). Evelyn (vgl. Hum- mitzsch2 ), der in der DDR das Kunststu- 1 So begegnet Enrico Türmer, wie Heinrich Faust, auch dem Teufel höchstpersönlich; vgl. Achim Geisenhanslüke 2009, Entre (N)Ostalgie et ironie. Le discours de la Wende dans la littérature allemande contemporaine. Vortrag am 20.11.2009 im Goethe-Institut Bordeaux. 2 Der Name Evelyn – so vermutet Thomas Hummitzsch – ist keineswegs eine willkürliche Abwandlung der biblischen Eva, sondern vielmehr eine Persiflage auf die besondere Namensgebung in ostdeutsch sozialisierten Familien. In die unzähligen, von amerikanischen Serien inspirierten Kevins, Owens und Justins, Samanthas, Cindys oder Pamelas reihe sich auch der Name Evelyn. 500 dium verweigert wird und die sich als Kellnerin durchschlägt, lockt das westliche Paradies der unbeschränkten Konsummöglichkeiten sowie die große Freiheit der weiten Welt. Sie redet immer wieder davon, dass sie endlich leben wolle, meint damit aber letztendlich konsumieren und reisen. Der Westen ist somit – wie Hubert Winkels zutreffend bemerkt: »das Alles-ist-zu-haben-Paradies für die Fluchtwilligen. Der Osten ist das Paradies für die Liebhaber der Langsamkeit und einfacher Genüsse. Und dazwischen findet sich noch eine dritte Version des Paradieses: der Aufenthalt der jungen Lustund Liebesbande aus der DDR in Ungarn am Plattensee während der Grenzöffnung – ein Moratorium, eine Zwischenzeit, der Himmel auf Erden, wie hier Essen, Trinken, Rauchen, Liebe, sich streiten und sich versöhnen genossen werden« (Winkels 2008). Alles ist offen in dieser Zeit, die Entscheidungen sind noch nicht getroffen. Es ist wie der Zustand im Paradies vor dem Sündenfall, doch die politischen Veränderungen fordern letztendlich Entscheidungen und lösen somit diesen paradiesischen Schwebezustand auf. Zu bemerken ist dabei auch, dass Adam analog zur biblischen Erzählung den von der Frau getriebenen und verführten Part einnimmt. Während die ostdeutsche Eva alle Entscheidungen trifft, läuft ihr Adam die ganze Zeit nur hinterher, wird hineingerissen in ein Schicksal, das er selbst so nicht gewählt hat (vgl. Hummitzsch). Die Rolle der Schlange – so eine mögliche Interpretation – übernimmt der Westcousin Michael, der sich in Evelyn verliebt und versucht, die anfangs noch zögernde junge Ostdeutsche in den Westen zu lo- cken: – Michael: Hm. Zuerst machen wir ein paar Reisen, spätestens zu Weihnachten fliegen wir nach New York, in den Big Apple. Oder, wenn dir das lieber ist, nach Rio, der Strand von Ipanema, dort kannst du Weihnachten baden, und Wellen, wie du sie noch nie gesehen hast! Oder Mexiko. In Mexiko hab ich Freunde. – Evelyn: Schneit es manchmal in Ham- burg? – Michael: Warum nicht? Nicht so wie im Gebirge, aber manchmal ist alles weiß. – Evelyn: Weihnachtseinkäufe im Schnee sind das Schönste. – Michael: Was du willst. – Evelyn: Mir reicht schon, sich das vorzustellen. Ich will es mir nur vorstellen können. – Michael: Es ist alles viel schöner, als du es dir überhaupt vorstellen kannst. – Evelyn: Weißt du doch gar nicht, was ich mir vorstelle. – Michael: Aber du weißt nicht, wie schön es ist, wie schön! Bei uns lebst du einfach besser und länger. (Schulze 2008: 150 f.) Neben der Funktion der Schlange, die man dem Westler zuschreiben kann, zeigen sich an diesem Dialog auch diverse Pauschaleindrücke und -urteile Ostund Westdeutscher: Die hier erkennbare Bewertung des Westens lässt eine gewisse westdeutsche Überheblichkeit einerseits und eine leichte ostdeutsche Naivität andererseits erkennen. Doch es geht Ingo Schulze keineswegs um pauschalisierende Einschätzungen, sondern um die mit dem zeitlichen Abstand möglich gewordene Hinterfragung dieser ost- und westdeutschen Stereotype. Dabei hebt Ingo Schulze keinesfalls mahnend den Zeigefinger, sondern bringt den Leser vielmehr zum Schmun- zeln. Diese multiperspektivische Sicht wird vor allem durch den dialogischen Stil des Buches erreicht. Die Dialogsequenzen, aus denen der Roman zum größten Teil besteht, tragen zu dem authentischen, lebensnahen Ton bei. Der Leser wird förmlich fortgerissen von den schnellen Dialogen, den knappen Sätzen und den kurzen Kapiteln. Dabei werden die großen historischen Themen gestreift, ohne 501 wirklich von den Figuren ausdiskutiert zu werden. Dies kann – abhängig vom Leser – als eine der Stärken oder Schwächen des Romans gewertet werden. Das ästhetische Programm Ingo Schulzes – »die kunstvolle Kunstlosigkeit, die Orientierung an der mündlichen Form, dem alltäglichen Sprechen« (vgl. Schröder 2008) – kommt jedenfalls auch in diesem Werk erneut zum Tragen. Der Adam-und-Eva-Mythos, der den Text durchzieht, wird auf die spezifische Situation der Wendezeit übertragen. Er verleiht dem Werk eine parabolische Dimension, da die Umwälzungen des Jahres 1989 gleichsam als »Nullpunkt der Geschichte« begriffen werden. Analog zu der neu beginnenden Menschheitsgeschichte nach der Vertreibung aus dem Paradies, verändert sich das Leben der Menschen nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs. Für den Unterricht eignet sich der Text meiner Meinung nach sehr gut, da er aufgrund der zahlreichen Dialoge sprachlich gut zu bewältigen ist. Die beiden von mir gewählten Textauszüge geben jeweils ein Gespräch von Adam und Evelyn vor und ein Gespräch nach ihrer Flucht in den Westen wieder.1 Beide Dialoge ergänzen sich und zeigen die verschiedenen Beweggründe für bzw. gegen eine Ausreise: Einerseits werden die Möglichkeit, den Beruf bzw. das Studium seines Interesses wählen zu können, die uneingeschränkten Reisemöglichkeiten und die Freiheit als solche angesprochen; andererseits wird auch verdeutlicht, dass man Familie, Arbeitsstelle und Wohnung zurücklässt und wieder völlig von vorne in einem Land, dessen Spielregeln man nicht beherrscht, anfangen muss. Dies scheint mir thematisch interessant, zeigt es doch den Lernenden, wie sehr die ausreisewilligen Menschen mit ihrem Staat unzufrieden waren, um alles hinter sich zu lassen. 5. Der klassische, sich auf die literarische Tradition berufende Ansatz: Uwe Tellkamp: Der Turm Der 2008 erschienene Roman Der Turm (Tellkamp 2008) ist sicher eines der Bücher, das zu den meistbeachteten Werken der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahre gehört. Es fand enorme Resonanz bei Lesern und Literaturkritik und wurde mit zwei bedeutenden Literaturpreisen ausgezeichnet: dem Uwe-Johnson-Preis und dem Deutschen Buchpreis 2008. Uwe Tellkamp, der 1968 in Dresden geboren ist und der Generation von Thomas Brussig und Ingo Schulze angehört, machte bereits 2004 mit dem Gewinn des Klagenfurter Bachmann-Preises auf sich aufmerksam. Sein 2005 erschienener Roman Der Eisvogel enttäuschte jedoch die hohen Erwartungen, die er letztendlich erst mit dem Buch Der Turm erfüllen konnte. Während Tellkamp in Der Eisvogel aktuelle Strömungen im Osten be- schreibt2 , geht es in Der Turm chronologisch einige Jahre zurück: Es werden in dem Roman mit dem Untertitel Geschichte aus einem versunkenen Land die letzten sieben Jahre der DDR dokumentiert. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen Familie Hoffmann und ihre nächsten Verwandten. Sie gehören einem akade- 1 Der im Unterricht eingesetzte Text ist eine Zusammenstellung mit sprachlich leicht angepassten Auszügen, s. Schulze (2008: 212–214, 252, 256). 2 Der Roman schildere »die Sogwirkung rechter, elitärer Intellektuellenzirkel, die mit Ernst Jüngerschem Waldgängerpathos die Pöbelherrschaft der DDR wie die kapitalistische Massendemokratie« verachten (vgl. Böttiger 2008). 502 misch-bildungsbürgerlichen Milieu an, das als oppositionelle Geste gegen den Arbeiter- und Bauernstaat in Stellung gebracht wird (vgl. Bartmann 2008), wohnen in einem alten Villenviertel am Rande Dresdens, das von seinen Bewohnern liebevoll »der Turm« genannt wird1 , und interessieren sich für Musik, Literatur und Kunst. Die Bedeutung der Künste spiegelt sich auch im Aufbau des knapp 1000seitigen Monumentalwerks, das in Anlehnung an ein Musikstück in zwei Bücher mit Ouvertüre, Interludium und Finale unterteilt ist und eine kaum fassbare Vielzahl an Figuren umfasst. Drei Protagonisten, die sich in unterschiedlichen Lebenssituationen befinden, werden jedoch hervorgehoben und bilden die Haupterzählstränge des Buches: Der Kunstliebhaber und Sammler Richard Hoffmann ist ein angesehener Chirurg am Dresdner Universitätsklinikum, der sich regelmäßig über die Zustände in seinem Land und an seiner Klinik in Rage redet. Wegen seiner großen chirurgischen Begabung zunächst nicht belangt, gerät er jedoch zusehends unter Druck: Seine Stasi-Vergangenheit2 und seine außerehelichen Aktivitäten mit der Chefsekretärin des Klinikrektorats, von der er ein Kind hat, machen ihn erpressbar. Er kann letztendlich dem Druck der Staatssicherheit nicht standhalten und resigniert, zerrieben zwischen Aufbegehren und Anpassen, verliert seine Frau und den Anschluss an die neue Zeit. Sein vierzigjähriger Schwager Meno Rohde, als Kind hochrangiger Genossen in Moskau geboren, ist Zoologe, arbeitet jedoch als Lektor eines Dresdner Ver- lages3 , wodurch er in den Kreisen der Nomenklatur und der DDR-Schriftstellerelite verkehrt. Er bezieht weder als Lektor noch im Privaten gesellschaftlich Stellung, sondern widmet sich mehr und mehr seiner zoologisch-biologischen Leidenschaft: der Erforschung der Zelle. Er führt gewissermaßen dem Autor das poetische Wort (vgl. Langner 2008), denn durch seine Augen repräsentiert Uwe Tellkamp eine ganze Bandbreite privilegierter Intellektueller und Autoren der DDR, wodurch er gleichzeitig die verschiedenen Wirkungsmöglichkeiten der Literatur in totalitären Regimen auslotet. Es entstehen »Porträts von Möglichkeiten der DDR-Autorschaft, die nichts auslassen zwischen dummdreister Systembekräftigung, arrogantem Opportunismus, ausweglosem Lavieren und Verzweiflung« (Böttiger 2008). Und schlussendlich ist da noch Christian, der siebzehnjährige Sohn von Richard und Anne Hoffmann, ein Alter ego des Autors, der sich selbst mit Thomas Manns Tonio Kröger identifiziert: »Wenn Christian durch die spärlich beleuchteten, nach Schnee und Braunkohleasche riechenden Straßen ging, war ihm, als wäre er selbst Tonio Kröger, nicht ganz stilrein freilich, denn er war nicht der Sohn von steifleinenen Lübecker Patriziern.« Als Außenseiter unter seinen Klassenkameraden gilt aber auch er, der sich gegen alle wendet, die seinen hohen Kanon aus schöner Literatur und klassischer Musik nicht teilen. Nach dem Abitur muss er allerdings die schöngeis- 1 In der Realität entspricht es dem Dresdner Stadtteil Weißer Hirsch, in dem Tellkamp selbst aufgewachsen ist. 2 Er hat in jugendlichem Idealismus, wie ihm jetzt scheint, seinen besten Freund bespitzelt. 3 Wegen politischer Vergehen in der DDR wurde ihm eine Karriere als Naturwissenschaftler verwehrt. 503 tige Welt der Turmgesellschaft verlassen, um seinen Wehrdienst anzutreten, an dessen Ende ihm ein Studienplatz in Medizin in Aussicht gestellt wird. Bei der Volksarmee erfährt er schließlich die volle Härte des Regimes: Als Christian nach dem Unfalltod eines Kameraden seine Vorgesetzten angreift, wird er vor ein Militärgericht gestellt und zu Zwangsarbeit am Karbid-Ofen eines Chemiewerkes verurteilt. Er wird, wie er selbst sagt, vom System zum Niemand gemacht: »Jetzt, dachte Christian, bin ich wirklich Nemo. Niemand.« (Tellkamp 2008: 827) Gerettet wird er nur durch den Untergang der DDR. Ein ähnliches Schicksal widerfuhr auch dem Autor Uwe Tellkamp, der als NVAPanzerkommandant im Oktober 1989 den Befehl verweigerte, gegen Dresdner Demonstranten auszurücken, unter denen er seinen jüngeren Bruder wusste. Das brachte ihm einige Wochen Gefängnishaft ein. Aber nicht nur am Ende der Romanhandlung, sondern auch bei den zahlreichen Beschreibungen des Turmviertels greift Uwe Tellkamp, der selbst in einem Dresdner Bürgermilieu aufgewachsen ist, auf Erlebtes zurück, was diesem Roman große Authentizität und Glaubwürdigkeit verschafft. Dabei beschränkt sich Tellkamp jedoch nicht auf die ihm aus seiner Jugend bekannte Nischengesellschaft der Turmbewohner, sondern nimmt die ganze DDR-Wirklichkeit in den Blick: Arbeitswelt und Versorgungsengpässe, Staatssicherheit und Volksarmee werden mit der gleichen Klarheit und Schärfe beschrieben wie die im alten Glanz bürgerlicher Villen Lebenden. »Es gibt bei Tellkamp neben der liebenswürdig untergehenden Bürgerwelt auch das brüllende Chaos einer heroisch-sinnlosen sozialistischen Arbeitswelt« (vgl. Bartmann 2008). Aber in dem Roman stecken nicht nur ein Leben (Tellkamps eigenes) und ein Land (die DDR), sondern zahlreiche Verweise und Anspielungen auf die deutsche Literatur: Der Romantitel spielt nicht nur auf das Leben der Türmer im Elfenbeinturm inmitten der DDR an, sondern ist auch eine Referenz an die Turmgesellschaft aus Goethes Wilhelm Meister, jener in der Tradition des Geheimbundes stehenden Gesellschaft, die bestimmte Bildungsideale vertritt. Auch der Titel des ersten Buches – »Pädagogische Provinz« – ist ein intertextueller Verweis auf Wilhelm Meisters Wanderjahre (vgl. Platthaus 2008). Und nicht zuletzt ist die Struktur des Werkes selbst eine Reminiszenz an Goethe: Ähnlich wie in den Lehrjahren, die den Entwicklungsgang Wilhelm Meisters darstellen, sind auch in die Beschreibung des Werdegangs von Christian eine Vielzahl komplexer Zusammenhänge, die der sozial- und kulturgeschichtlichen Situation der Zeit Rechnung tragen, eingewebt. Neben Goethe – und vielen anderen klassischen deutschen Autoren und zahlreichen Anspielungen auf verschiedene DDR-Schriftsteller, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehen möchte – hat eine weitere Größe der deutschen Literatur mit verschiedenen Texten Pate gestanden: Thomas Mann. Sein Tonio Kröger wird – wie bereits erwähnt – explizit im Text genannt. Außerdem erinnern die letzten sieben Jahre der DDR an die sieben Jahre, die Hans Castorp auf dem Zauberberg verbringt (vgl. Platthaus 2008). Und natürlich denkt man zwangsläufig auch an die Buddenbrooks. Während Thomas Mann am Beispiel der Familie Buddenbrook den Verfall des patrizischen Bürgertums darstellt, beschreibt Uwe Tellkamp anhand der Familie Hoffmann den Untergang eines Staates. Der Turm steht somit in der Tradition einer klassischen deutschen Romankon- 504 zeption, die sich auf Geschlossenheit und Zielstrebigkeit der Handlungsführung beruft. Aber nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch orientiert sich Uwe Tellkamp am klassischen Erzählen. Ein lexikalischer Reichtum, eine ausgefeilte, mit Adjektiven und Partizipialkonstruktionen reich versehene Syntax und eine den Text durchziehende auktoriale Erzählhaltung lassen ein klassisches Formprinzip erkennen. Aber auch die Vielzahl der Stilebenen und Schreibformen – Dialoge, Tagebuchnotizen, Briefe, Meditationen, lyrische Passagen, Essayistisches, Monologe – zeugen von einem literarisch anspruchsvollen Text. Der Turm kann somit zu Recht als ein »klassischer Bildungsroman über die DDR« bezeichnet werden (vgl. Böttinger 2008). Diese Komplexität macht aus ihm jedoch einen für den Unterricht eher schwer einsetzbaren Text, da er aufgrund seiner intertextuellen Verweise und sprachlichen Schwierigkeiten die Lernenden leicht überfordern kann. Dennoch gibt es bestimmte Passagen, vor allem Dialogszenen, dir mir durchaus geeignet scheinen. Ich selbst habe mit einem Auszug gearbeitet, in dem sich Richard und seine Frau Anne über die verschiedenen Handlungsoptionen angesichts der Erpressungsversuche der Stasi unterhal- ten1 . Es geht darum, ob man sich kompromittieren und mit der Stasi zusammenarbeiten soll, um die Zukunft der eigenen Kinder nicht zu gefährden, oder ob man integer bleiben soll, um die eigenen Wertvorstellungen aufrechterhalten zu können. Optionen wie Ausreiseantrag und Flucht werden auch thematisiert, aber als nicht realistisch eingestuft. Der von mir im Unterricht behandelte Textauszug zeigt somit die kaum vorhandenen Wahlmöglichkeiten des Individuums in einem totalitären System. Er greift damit einen der zentralen Aspekte des Romans auf, nämlich die Darstellung, wie weit und tief die totalitäre Herrschaft in der DDR reichte. 6. Schlussbemerkungen zur Analyse der Texte Die ausgewählten Werke zeigen, dass sich die thematische Bandbreite der Wendeliteratur von der Zeit vor dem Mauerfall über die Wendeereignisse selbst bis zu den veränderten Lebensverhältnissen nach der Deutschen Einheit erstreckt. Viele Romane, deren Handlung vor dem Mauerfall situiert ist, enden – wie beispielsweise Helden wie wir von Thomas Brussig oder Der Turm von Uwe Tellkamp – mit dem 9. November 1989. Dabei spielt das Motiv der ablaufenden Zeit häufig eine große Rolle; die Handlung des Romans strebt förmlich auf den Tag des Mauerfalls zu. Was danach kommt, wird oft nicht mehr erzählt. Es gibt vielmehr eine Aufforderung an den Leser, die Handlung weiterzudenken. So endet auch der Roman von Uwe Tellkamp mit einem Doppelpunkt: »schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, ›Deutschland einig Vaterland‹, schlugen ans Brandenburger Tor« (Tellkamp 2008: 973). Andere Texte, wie beispielsweise Jana Hensel in ihrem Buch Zonenkinder, nehmen die Montagsdemonstrationen und den darauf folgenden Fall der Mauer als Ausgangspunkt für ihre Geschichte. Die Wende ist sozusagen das Ereignis, das die Handlung in Gang setzt oder – wie bei Ingo Schulzes Adam und Evelyn – der zentrale Punkt, um den die Geschichte kreist. 1 Der im Unterricht eingesetzte Text ist eine Zusammenstellung mit sprachlich leicht angepassten Auszügen (vgl. Tellkamp 2008: 284–292). 505 Ein weiteres Kriterium der Klassifikation, das eingangs bereits erwähnt wurde, ist die Herkunft und das Alter der Autoren. Wenngleich es einige westdeutsche Autoren gibt, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen, überwiegen – wie auch die ausgewählten Texte zeigen – die Autoren ostdeutscher Herkunft. Viele bekannte Autoren der Wendeliteratur sind – wie dargelegt wurde – in den sechziger Jahren geboren. Sie gehören der sogenannten »distanzierten Generation« (Lindner 1990: 109) an, die der DDR kritisch-distanziert bis ablehnend gegenü- berstanden1 . Sie können sich, wie es bei Thomas Brussig und seiner Kritik an Christa Wolf, aber auch bei der von Uwe Tellkamp beschriebenen oppositionellen Haltung in weiten Teilen des Bürgertums deutlich wird, nicht mehr mit der sozialistischen Gesellschaft und ihren ›hehren‹ Werten identifizieren. Erst die historischen Umbrüche lassen sie letztendlich Position ergreifen und bringen sie zum Schreiben. Die Art der literarischen Auseinandersetzung mit diesen Ereignissen ist aber – wie oben aufzuzeigen war – nicht unabhängig vom Zeitpunkt des Entstehens: Es lässt sich vielmehr anhand der ausgewählten Texte, die zwischen 1995 und 2008 erschienen sind, eine zeitliche Entwicklung innerhalb der Wendeliteratur ablesen. Waren die ersten literarischen Versuche, die historischen Umwälzungen zu fassen, wie etwa bei Thomas Brussig von Ironie gekennzeichnet, folgten anschließend Texte mit (n)ostalgischem Unterton. Sie stammen häufig, wie bei Jana Hensel der Fall, von jüngeren Autoren, die zum Zeitpunkt des Mauerfalls noch nicht politisiert waren. Die Texte hingegen, die mit einem größeren zeitlichen Abstand geschrieben wurden, zeugen ihrerseits eher von einem Rückgriff auf klassische Erzähltraditionen. Während Ingo Schulze den Adam-und-Eva-Mythos parabelhaft verwendet, lässt sich Uwe Tellkamp thematisch und stilistisch von den literarischen Größen der deutschen Literatur inspirieren, um einen mit autobiographischen Anklängen geprägten Wenderoman zu schreiben. Nach Thomas Brussigs aus Wut und Enttäuschung über die nicht stattgefundene Vergangenheitsbewältigung geschriebene Satire, so Britta Lange, kommt die Verarbeitung des Lebens in der ehemaligen DDR mit Der Turm zu einem erzählerischen Abschluss (vgl. Lange). Offen und überaus spannend bleibt hingegen die Frage, welche Sujets und Perspektiven in der Wendeliteratur noch folgen werden. 7. Anmerkungen zur methodisch-didaktischen Umsetzung Die Wendeliteratur bietet somit umfangreiches Material für den Einsatz im DaFUnterricht. Die vorgestellten Romane und die daraus gewählten Textauszüge erlauben es, unterschiedliche Aspekte des Lebens in der DDR vor, um und nach der Wende zu veranschaulichen: vom persönlichen Druck, dem man in einem totalitären Staat ausgesetzt ist, über die Gründe, die für bzw. gegen eine Ausreise sprechen, bis hin zum nostalgischen Blick auf verloren gegangene Lebenswelten. Von daher eignet sich eine Unterrichtsreihe zum Thema Wendeliteratur, um anhand von konkreten Beispielen zu- 1 Die »distanzierte Generation«, so der Leipziger Soziologe Bernd Lindner, umfasst die zwischen 1961 und 1975 geborenen und von Mitte der 1970er Jahre bis zum Ende der DDR ins Jugendalter hineingewachsenen Jahrgänge (vgl. Bernd Lindner: Die Generation der Unberatenen, S. 96–97, zitiert nach Ilse Nagelschmidt 2009). 506 nächst vielleicht eher abstrakt erscheinende geschichtliche Fakten zu illustrieren. Die Lernenden sollen verstehen, dass die Wendeereignisse literarisch unterschiedlich be- und verarbeitet wurden und dass dabei verschiedene Faktoren wie Entstehungszeitpunkt des Werkes, Alter und Herkunft der Autoren etc. eine entscheidende Rolle spielen. Von daher schien es mir angemessen, mich für verschiedene Textauszüge und gegen eine Ganzschrift zu entscheiden.1 Neben diesen inhaltlichen Lernzielen legt die von mir gewählte Vorgehensweise einen zusätzlichen Schwerpunkt auf methodische Fertigkeiten, die dazu beitragen sollen, die Autonomie der Lernenden zu fördern: Es geht um die selbständige Erarbeitung eines authentischen Textes, seine Aufbereitung für die Mitschüler und die mündliche Vorstellung der Arbeitsergebnisse vor der Lerngruppe. Da im französischen Schulalltag das autonome Lernen häufig vernachlässigt wird, schienen mir diese Aspekte von besonderem Interesse. Der Einstieg in die Unterrichtsreihe2 geschieht mit Hilfe eines Infotextes (Arbeitsblatt 1–1), der die Lernenden mit wichtigen Aspekten der Wendeliteratur vertraut macht und ihnen eine erste Orientierungshilfe für die sich anschließende, den Hauptbestandteil der Unterrichtsreihe ausmachende arbeitsteilige Gruppenarbeit bietet. Die Texterarbeitung und das Textverständnis werden mit Hilfe einer in Frankreich sehr verbreiteten und im Abitur immer vorkommenden Richtig-Falsch-Aufgabe gesichert, welche die Schüler in Partnerarbeit lösen (Arbeitsblatt 1–2). Nach dieser ersten Annäherung an die Wendeliteratur beginnt die arbeitsteilige Gruppenarbeit. Die Lerngruppe wird in vier Gruppen aufgeteilt, jede Gruppe erhält einen Textauszug aus einem der vier beschriebenen Werke zur selbständigen Erarbeitung (Arbeitsblätter 3–1 bis 3–4).3 Damit eine gewisse Einheitlichkeit in der Bearbeitung der Texte gewährleistet ist, bekommen alle Lernenden ein Arbeitsblatt mit Anweisungen für die Gruppenarbeitsphase (Arbeitsblatt 2). Bei der inhaltlichen Erschließung der Texte sollen die für jeden Text speziell formulierten Lesetipps helfen. Für diese Gruppenarbeitsphase, in der die Texterschließung und die Referatsvorbereitung zu erledigen sind, sollte ausreichend Zeit eingeplant werden (sechs bis acht Unterrichtsstunden), denn die Qualität der sich anschließenden Referate hängt entscheidend von der Vorbereitung in der Gruppe ab. Dazu gehören neben der Texterarbeitung auch die Erstellung eines Vokabelblattes für die Mitschüler, um deren Verständnis bei den verschiedenen Vorträgen zu gewährleisten, sowie das gemeinsame Einüben des Referates, bei dem jedes Gruppenmitglied einen Teil übernehmen sollte. 1 Ganzschriften werden zudem in der französischen Oberstufe in der Regel nicht gelesen. Dies hängt sicher mit der geringen Stundenzahl, aber auch mit den Abituranforderungen zusammen. 2 Die im Folgenden beschriebene Unterrichtsreihe wurde im Anschluss an eine eher geschichtlich orientierte Unterrichtsreihe über die Wendeereignisse durchgeführt, so dass auf eine spezielle Heranführung an die Thematik verzichtet werden konnte; um eine Übernahme des Modells zu erleichtern, sind im Anhang einige der im Unterricht verwendeten Materialien wiedergegeben. 3 Die Gruppenzusammensetzung kann dabei binnendifferenziert vorgenommen werden; leistungsstärkere Schüler sollten sich mit den sprachlich und inhaltlich eher schwierigen Texten von Thomas Brussig und Uwe Tellkamp beschäftigen. 507 Die Abfolge der verschiedenen Referate sollte sich am Publikationsdatum der Werke orientieren, damit die Lernenden die stilistischen Veränderungen und verschiedenen Blickwinkel verfolgen können. Um die Aufmerksamkeit der Mitschüler zu gewährleisten und ihr Hörverstehen zu trainieren, sollten sie angehalten werden, bei jedem Referat Stichpunkte nach dem Schema der für die Gruppenarbeit vorgesehenen Tabelle anzufertigen. Diese Stichpunkte sind zugleich Ergebnissicherung und dienen der anschließenden Vertiefung, denn jeder Lernende sollte im Anschluss an die Referate eine schriftliche Interpretation eines der drei von ihm in der Gruppe noch nicht behandelten Textauszüge abgeben. Für diese schriftliche Arbeit konnte zudem das eingangs behandelte Arbeitsblatt als Hilfe herangezogen wer- den. Die Erfahrungen, die ich mit dieser Unterrichtsreihe gemacht habe, waren sehr positiv. Dies wurde auch durch die Evaluation bestätigt, die ich im Anschluss in der Lerngruppe durchgeführt habe. Fast allen Lernenden hat die Arbeit Spaß gemacht. Dabei wurde immer wieder positiv hervorgehoben, dass sie ihr kulturelles Wissen erweitert und sprachlichmethodische Fortschritte gemacht hätten. Besonders die Schulung des mündlichen Ausdrucks und des Hörverstehens während der Referatsphase war für die Lernenden bereichernd. Ihr Interesse an den Referaten wurde sicher auch dadurch gewährleistet, dass jede Gruppe einen neuen, thematisch und stilistisch anderen Textauszug vorgestellt hat. Die inhaltliche Erarbeitung der Texte durch die Lernenden war aus meiner Sicht ebenso äußerst zufriedenstellend. Anfängliche Bedenken, insbesondere bezüglich des Romans Helden wie wir, haben sich nicht bestätigt. Die Lernenden haben es durchaus verstanden, die im Roman geschilderte Version der Maueröffnung richtig einzuordnen. Sie haben erfasst, dass die aktive Rolle des Volkes vom Autor ins Lächerliche gezogen wird und er den MaueröffnungsDiskurs durch seinen Text persifliert. Dennoch muss ich sagen, dass dieser Auszug aufgrund der vom Autor gewählten Herangehensweise sicher der im Unterricht am schwierigsten einzusetzende Text ist und von daher einer leistungsstarken Gruppe zugeteilt werden sollte, da die Lernenden bereits große Vorkenntnisse benötigen, um die zahlreichen Anspielungen und die vorhandene Ironie zu erfassen. Erstaunt war ich auch bei Adam und Evelyn, dass die Lernenden eigenständig den den Roman charakterisierenden Adam-und-Eva-Mythos erkannt und sich die Frage gestellt haben, ob Westoder Ostdeutschland mit dem Paradies gleichzusetzen ist. Hier hat sich sogar im Anschluss an das Referat eine Diskussion untern den Schülern ergeben, bei der die unterschiedlichen Dimensionen des Paradieses für die einzelnen Figuren herausgearbeitet werden konn- ten. Die individuellen, schriftlichen Auseinandersetzungen mit einem Romanauszug haben diesen positiven Eindruck bestätigt: Die Arbeiten der Lernenden waren insgesamt sehr zufriedenstellend. Insgesamt hat sich diese im französischen Schulsystem eher ungewöhnliche Projektarbeit als durchaus gewinnbringend herausgestellt; die eher persönliche Auseinandersetzung mit verschiedenen literarischen Zeugnissen war insofern motivierend, als sich die Lernenden ein konkreteres Bild über die verschiedenen Dimensionen der Umbruchjahre 1989/90 und ihre Auswirkungen bis in die heutige Zeit machen konnten. 508 Literatur 8.1 Primärliteratur Brussig, Thomas: Helden wie wir. Berlin: Volk und Welt, 1995. Hensel, Jana: Zonenkinder. Hamburg: Rowohlt, 2002. Schulze, Ingo: Adam und Evelyn. Berlin: Berlin Verlag, 2008 Tellkamp, Uwe: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008. 8.2 Sekundärliteratur Audibert, Mireille; Chatenet, Claudine; Frènes, Christian sous la direction de Wolf Halberstadt et Martine Dalmas: Alternative Allemand 1re. Paris: Didier, 2005. Bartmann, Christoph: »Das Land einfrieren«. In: Die Presse, 19.08.2008: http:// diepresse.com/home/spectrum/literatur/ 415876/index.do. Böttiger, Helmut: »Uwe Tellkamp. Weißer Hirsch, schwarzer Schimmel. Tellkamps klassischer Bildungsroman über die DDR erzählt meisterlich aus einer stillgelegten Zeit«, Die Zeit, 22.09.2008. Brüns, Elke: »Generation DDR? Kindheit und Jugend bei Thomas Brussig, Jakob Hein und Jana Hensel«. In: Geier, Andrea; Süsselbeck, Jan (Hrsg.): Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generationenfragen in der Literatur seit 1990. Göttingen: Wallstein, 2009, 83–101. Geier, Andrea: »Engagierte Befragungen der Tradition. Intertextualität in literarischen Zeitdiagnosen des Transformationsprozesses«. In: Geier, Andrea; Süsselbeck, Jan (Hrsg.): Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generationenfragen in der Literatur seit 1990. Göttingen: Wallstein, 2009, 117–134. Geisenhanslüke, Achim: Entre (N)Ostalgie et ironie. Le discours de la Wende dans la littérature allemande contemporaine. 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Die DDR-Schriftsteller der älteren Generation, darunter Christoph Hein, Volker Braun und Christa Wolf, verlieren mit dem Mauerfall ihre gesellschaftliche Position als Personen, die in ihren Werken dokumentierten, was nicht in der Zeitung stand. Sie reagieren oft mit einer literarischen Pause auf die veränderte Situation. Neben dieser Generation der Schriftsteller, die schon in der DDR tätig waren, entwickelt sich nach der Wende eine jüngere, noch weitgehend unbekannte Generation von Autoren, die noch nicht in das ostdeutsche Literatursystem involviert war. Im Gegensatz zu den Werken der älteren Generation ist in vielen dieser Texte der Verlust (la perte) einer Utopie zu spüren. So ist Thomas Brussigs bereits fünf Jahre nach der Wende erschienener Roman Helden wie wir eine bittere Satire auf die DDR, in der er die wichtigsten Mythen der Wende ironisiert. Auch Ingo Schulze bevorzugt in seinen Werken einen unpathetischen Ton. Er ist ein wichtiger Chronist der deutschen Wiedervereinigung. Im Mittelpunkt seiner Werke stehen die Ängste, Sorgen, Hoffnungen und Verluste (perte) der ehemaligen (ancien) DDR-Bürger. Der Verlust ist auch eine zentrale Thematik bei Jana Hensel. Ihr Buch Zonenkinder handelt vom Verlust der Kindheit: Sie beschreibt, wie mit der Wiedervereinigung die vertrauten Dinge über Nacht verschwanden und ein neues Abenteuer begann. Uwe Tellkamps Buch Der Turm ist seinerseits weder ironisch noch nostalgisch. Er beruft sich (s’appuyer) vielmehr auf die klassisch deutsche Literaturtradition und schildert in seinem Gesellschaftsroman anhand einer Dresdner Bürgerfamilie die letzten sieben Jahre in der DDR. Insgesamt kann man also sagen, dass die deutsche Literatur zur Wende viele unterschiedliche poetische Konzepte entwickelt hat: Es gibt ironische, nostalgische und eher klassisch erzählerische Texte. (nach: http:// www.goethe.de/kue/lit/prj/lwe/hin/ de4278641.htm) Arbeitsblatt 1–2 Richtig oder falsch? Begründen Sie Ihre Antwort jeweils mit einem Zitat aus dem Text! 1. Die Wende ist ein wichtiges Thema in der deutschen Literatur. 2. Das Erscheinungsdatum der Texte ist unwichtig. 3. Zu den DDR-Schriftstellern der älteren Generation gehören Thomas Brussig, Jana Hensel, Ingo Schulze und Uwe Tellkamp. 4. Die DDR-Schriftsteller der älteren Generation haben im Allgemeinen nach der Wende kaum publiziert. 5. Viele jüngere Autoren haben die Utopie einer sozialistischen Gesellschaft verlo- ren. 6. Thomas Brussig macht sich in seinem Roman Helden wie wir über die Mythen der Wende lustig. 7. Ingo Schulze spricht in seinen Büchern nie über die Gefühle der ehemaligen DDR-Bürger. 8. Jana Hensels Buch Zonenkinder zeigt, dass für viele mit der Wiedervereinigung die Kindheit plötzlich beendet war. 9. Uwe Tellkamps Buch Der Turm ist ironisch und nostalgisch. 10. Die Wendeliteratur orientiert sich vor allem an der klassischen deutschen Li- teraturtradition. Arbeitsblatt 2 Wendeliteratur Arbeitsanweisung für die Gruppenarbeit 1. Lesen Sie Ihren Text zunächst einmal durch und versuchen Sie die Hauptaspekte des Textes zu verstehen. 2. Beim zweiten Lesedurchgang überlegen Sie anhand des Kontextes, welche unbekannten Wörter für das Verständnis notwendig sind. Suchen Sie diese Wörter im Wörterbuch. 3. Legen Sie für Ihren Text eine Tabelle nach folgendem Schema an! 510 4. Bereiten Sie mit Hilfe dieser Tabelle ein Referat vor, das Sie vor der Lerngruppe vortragen! Jedes Gruppenmitglied soll einen Teil des Referates übernehmen. Die Leitfragen zum Text helfen Ihnen für das Verständnis und die Interpreta- tion. Notieren Sie zum Verständnis wichtige Vokabeln, die Sie vor Ihrem Referat der Lerngruppe mitteilen. Arbeitsblatt 3–1 Thomas Brussig: Helden wie wir Klaus Uhltzscht, der Ich-Erzähler, erzählt dem amerikanischen Journalisten Mr. Kitzelstein, wie er die Mauer am 9. November 1989 zu Fall gebracht habe. Thomas Brussigs Roman Helden wie wir ist eine ironische Geschichte über den Mauerfall, die nicht der Realität ent- spricht. Mr. Kitzelstein, wie Sie sehen, habe ich […] schon damit begonnen, die Geschichte meines Lebens aufzuschreiben, auch wenn ich gestehen1 muss, dass ich in zwei Jahren nicht über den ersten Absatz hinausgekommen bin. Ich dachte an eine Autobiographie, in der ich mir voller Ehrfurcht2 begegne und die auch sonst so à la europäischer Zeitzeuge3 angelegt ist — und die mich sowohl für den Literatur- als auch den Friedensnobelpreis ins Gespräch bringt (um Sie sofort mit einer meiner charakteristischen Eigenschaften, meinem Größen- wahn4 , vertraut zu machen). Wer weiß, wie lange ich noch an meiner Autobiographie gesessen hätte, wenn Sie nicht angerufen und mich für Ihre New York Times um ein Interview gebeten hätten. Wie ich das mit der Berliner Mauer hingekriegt5 habe. Das ist eine lange Geschichte. Aber es ist wahr. Ich war’s. Ich habe die Berliner Mauer um- geschmissen6 . […] Ich werde Ihnen erzählen, wie es dazu kam. […] Der Erzähler befindet sich mit vielen anderen Menschen am Abend des 9. Novembers in Ostberlin vor einem noch geschlossenen Grenzüber- gang. Und als ein Mann namens Aram Radomski anfing, den Verantwortlichen7 davon zu überzeugen, dass der jetzt das Tor aufmachen müsse, hatte ich eine Idee, eine Art Eingebung. […] Ich öffnete langsam den Mantel, dann den Gürtel und schließlich die Hosen und sah den Grenzern8 fest in die Augen. […] Mit einem Grinsen9 zog ich meine Unterhose herunter — dass Grinsen dazugehört, wusste ich seit diesem Exhibitionisten, der mir mal in der S-Bahn begegnet war. Und während Aram Radomski mit klaren und engagierten Worten auf den Verantwortlichen einredete, ohne zu bemerken, was ich neben ihm tat, starrten10 die Grenzer auf das, was ich ihnen zeigte. Als alle Grenzer wie gelähmt am Tor stan- Autor Buchtitel Erscheinungs- datum Personen Zeit der Handlung Ort der Handlung Thema Inhaltsangabe Stil / Erzähl- perspektive Interpretation des Textes Meinung zum Text 1 etw. (A) gestehen: avouer qc 2 die Ehrfurcht = der Respekt 3 der Zeitzeuge (n): témoin de l’histoire 4 der Größenwahn: mégalomanie 5 etw. (A) hinkriegen (ugs.) = etw. (A) schaffen 6 umschmeißen (ugs.) = zu Fall bringen = renverser 7 der Verantwortliche (n): le responsable 8 der Grenzer (-): le garde-frontière 9 das Grinsen: le ricanement 10 auf etw. (A) starren: regarder fixement 511 den, wandte1 ich mich an den Verantwortlichen, worauf seine Widerrede abrupt endete. »Dann können Sie uns doch rüber lassen!« sagte der immer noch ahnungslose Aram Radomski, und der Verantwortliche fand keine Kraft zum Widerspruch. Er war auch nicht mehr fähig, sich auf eine Vor- schrift2 zu berufen. Er starrte mich nur an, mit Augen, die immer größer wurden. Es passierte so viel in diesen Tagen, was einfach nicht zu glauben war, und ich war mir sicher, dass ihm und den übrigen Grenzern das den Rest geben würde. So was hatten sie noch nie gesehen! So was hatten sie nie für möglich gehalten! Was sich ihnen darbot, war so unglaublich, dass sie mit niemandem darüber sprechen konnten, weil ihnen niemand glauben wird. Ich ließ mir Zeit, viel Zeit, ich sah nacheinander allen in die Augen, und schließlich entriegelte3 einer von ihnen wie hypnotisiert das Tor. Ehe sie es sich wieder anders überlegten — Radomski hörte gar nicht mehr auf zu argumentieren, vernünftig zu reden –, hatte ich die Gitterstäbe gepackt und das Tor aufgestoßen. »So«, schrie ich, laut genug, dass mich das hinter mir versammelte Volk hören konnte, dem ich mich aber nicht mit dem Gesicht zuwenden wollte, solange ich meine Hosen nicht wieder geschlossen hatte, »loslaufen müsst ihr selber!« Aber wie miesepetrig4 ich auch bilanziere — der Weg war frei für einen der glücklichsten Augenblicke deutscher Geschichte. (Auszüge aus: Thomas Brussig: Helden wie wir. Berlin: Volk und Welt, 1996, 5/6, 318/ 319). Tipps: – Welche Erzählperspektive gibt es? – Wie kann man diese Erzählperspektive begründen? – Was erfährt man über den Erzähler? Versucht ihn zu charakterisieren! – Wie wird der Mauerfall im Text erklärt? – Warum könnte sich der Autor entschieden haben, den Mauerfall so darzustel- len? Arbeitsblatt 3–2 Jana Hensel: Zonenkinder Der folgende Auszug beschreibt rückblickend Erlebnisse der Ich-Erzählerin einige Wochen vor dem Mauerfall in Leipzig. Am letzten Tag meiner Kindheit, ich war dreizehn Jahre und drei Monate alt, verließ ich gemeinsam mit meiner Mutter am frühen Abend das Haus. […] Ich musste hohe Schuhe, Strumpfhosen und zwei Pullover unter meinen blauen Thermoanorak ziehen und niemand wollte mir so richtig sagen, wo es hingehen sollte. Auf dem Weg zur Straßenbahn, den wir immer liefen, um in die Leipziger Innenstadt zu kommen, mussten wir über ein Bahngelände, und ich weiß nicht mehr, ob ich es mir heute ein- bilde5 oder ob wir tatsächlich keinen Menschen getroffen haben. […] In der alten Straßenbahn […] waren alle Leute so komisch dick angezogen, als gäbe es an diesem Abend ein Fußballspiel oder ein Feuerwerk […] und seltsamerweise hatte niemand eine Tasche bei sich. Als nach einigen Stationen der Fahrer die vorderste Tür des Wagens aufzog und rief, dass die Bahn jetzt hier halten und nicht mehr weiterfahren würde, stiegen alle aus und liefen, ohne dass jemand ein Wort gesagt hätte, weiter in die Innenstadt, so als hätten heute Abend alle dasselbe Ziel6 . Später, am Ziel, das mir immer noch niemand wirklich nennen konnte, waren viele Leute dicht zusammengedrängt und strebten7 zur Nikolaikirche und vor die Oper, auf den Karl-Marx-Platz. Dass man hier vereinzelt Transparente und Plakate sehen konnte und dass sich alle, als gäbe es einen unsichtbaren Regisseur, zu einem Zug formierten und den Ring entlanggingen und dass das der Anfang vom Ende war, das kennt man aus dem Fernsehen. Ich 1 sich an jmd. (A) wenden (wandte, gewandt): s’adresser à 2 die Vorschrift (en): l’instruction, l’ordre 3 entriegeln = öffnen 4 miesepetrig = schlecht 5 sich etw. (A) einbilden: s’imaginer qc 6 das Ziel: ici: la destination, le point d’arrivée 7 zu etw. (A) streben: s’efforcer d’atteindre 512 weiß selbst auch nicht mehr genau, was ich mit eigenen Augen und was ich, an diesem Abend zum ersten und dann unzählige Male später, in den Tagesthemen sah. […] Ich lief brav zwischen einem Studenten und meiner Mutter den Ring entlang und dachte wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben, dass mit dem Land, das immer meine Heimat gewesen war, gerade etwas geschah, von dem ich gar nicht wusste, was es war, und dass gewiss kein Erwachsener mir erklären konnte, wohin es führen würde. Hätte der Student neben mir gesagt: Dies hier sei erst der Anfang, künftig würden von Montag zu Montag mehr Leute auf den Straßen zu finden sein, und all das würde dazu führen, dass die Mauer fallen und unser Land bald verschwinden und alles mitnehmen werde, sodass nichts mehr von ihm übrig bliebe, dann hätte ich ihn bestimmt verwundert angeschaut und im Stillen bei mir gedacht, unser Land könne das ruhig versuchen. Doch nie im Leben werde es das schaffen. Heute sind diese letzten Tage unserer Kindheit, von denen ich damals natürlich noch nicht wusste, dass sie die letzten sein würden, für uns Türen in eine andere Zeit, die den Geruch1 eines Märchens hat und für die wir die richtigen Worte nicht mehr finden. Eine Zeit, die sehr lange vergangen scheint, in der die Uhren anders gingen, der Winter anders roch und die Schleifen im Haar anders gebunden wurden. Es fällt uns nicht leicht2 , uns an diese Märchenzeit zu erinnern, denn lange wollten wir sie vergessen, wünschten uns nichts mehr, als dass sie so schnell wie möglich verschwinden würde. Es war, als durfte sie nie existiert haben und als schmerzte3 es nicht, sich von Ver- trautem4 zu trennen. Eines Tages schlossen sich die Türen dann tatsächlich. Plötzlich war sie weg, die alte Zeit. Heute, mehr als zehn Jahre später und nach unserem zweiten halben Leben, ist unser erstes lange her, und wir erinnern uns, selbst wenn wir uns anstrengen, nur noch an wenig. Ganz so, wie unser ganzes Land es sich gewünscht hatte, ist nichts übrig geblieben von unserer Kindheit, und auf einmal, wo wir erwachsen sind und es beinahe zu spät scheint, bemerke ich all die verlorenen Erinnerungen. Mich ängstigt, den Boden unter meinen Füßen nur wenig zu kennen, selten nach hinten und stets nur nach vorn geschaut zu haben. Ich möchte wieder wissen, wo wir herkommen, und so werde ich mich auf die Suche nach den verlorenen Erinnerungen und unerkannten Erfahrungen machen, auch wenn ich fürchte, den Weg zurück nicht mehr zu finden. (Auszug aus: Jana Hensel: Zonenkinder. Hamburg: Rowohlt, 2002, 11–14). Tipps: – Von welchem historischen Ereignis wird am Anfang erzählt? – Von was wird anschließend erzählt? (Schlüsselwort: heute, Zeile 30) – Was ist die Idee / das Ziel des Buches? – Warum? – Welche Erzählperspektive gibt es? Achtet auch auf einen möglichen Wechsel (changement) der Erzählperspektive! – Wie könnte man den Stil charakterisieren (ironisch, nostalgisch, dokumentarisch, subjektiv, …)? Arbeitsblatt 3–3 Ingo Schulze: Adam und Evelyn Der Damenschneider Adam ist mit seiner Freundin Evelyn im Spätsommer 1989 in Ungarn. Unerwartet öffnet Ungarn die Grenze, der Eiserne Vorhang bekommt ein Loch. Während die Entwicklungen von den Politikern in der DDR ignoriert werden, stellen sich Adam und Evelyn die Frage, ob sie die Chance nutzen und in den Westen gehen sollen. »Willst du wirklich in den Westen?« »Ich hatte gehofft, du auch.« Evelyn klopfte ihr Kopfkissen5 auf, umfing es mit beiden Armen und legte sich darauf. »Denkst du denn, ich lass das alles im Stich6 , das Haus, den Garten, die Gräber, alles? Wie stellst du dir das vor?« 1 der Geruch (¨e): l’odeur 2 es fällt uns nicht leicht: on a du mal 3 schmerzen = weh tun 4 das Vertraute = Dinge, die man kennt 5 das Kopfkissen: l’oreiller 6 alles im Stich lassen = alles zurücklassen, alles aufgeben (abandonner) 513 »Auf dich wartet doch niemand, für dich ist es doch viel leichter!«1 Evelyn stand auf und schloss das Fenster. »Ich hab immer gesagt, dass ich zurückfahre, was soll ich denn im Westen?« »Du hast dich aber anders verhalten. […] Du findest doch überall Arbeit. Und wirst hundertmal besser bezahlt. […] Ich dachte, du überlegst dir das ernsthaft!« Evelyn lehnte im Nachthemd am Fensterbrett und verschränkte die Arme. […] »Und seit wann weißt du, dass du weg- willst?« »Wirklich sicher bin ich mir erst seit heute früh.« Sie sah an die Decke. »Ist das dein Ernst? […]« »Ich weiß nur, dass ich nicht zurückgehe.« »Und warum?« »Warum ich das erst seit heute weiß?« »Warum du rüber willst?« »Weil ich nicht zurück will. Ich will nicht wieder kellnern2 , mich wieder um einen Studienplatz bewerben, wieder abge- lehnt3 werden, wieder all die Visagen sehen, die einen fragen, warum man nicht für den Frieden ist, und der ganze Scheiß.« »Das wird sich ändern […]«. »Nein, das war hier schon zu viel Freiheit, ich habe mich zu sehr daran gewöhnt«. »Gewöhnt, woran?« Adam setzte sich auf die Bettkante. »An den Gedanken weiterzufahren. Ich will weiterfahren.« »Was ist das denn für eine Begründung?« »Ich weiß auch nicht, ob es mir drüben gefällt, aber ausprobieren will ich es.« »Ausprobieren, na wunderbar, und wenn es schief geht4 ? Wir haben nur ein Leben.« »Ja, ebendeshalb.« […] Adam und Evelyn entscheiden sich schließlich, gemeinsam in den Westen zu gehen. Kurz nach ihrer Ankunft im Westen fahren sie mit dem Zug von Rosenheim nach Eichenau, wo das folgende Gespräch stattfindet. Dort wollen sie Verwandte besuchen. »Die haben wirklich auch die schönere Landschaft,« sagte Evelyn. Der Nagel ihres Zeigefingers berührte mehrmals das Zugfenster. Sie hatte die Schuhe ausgezogen, die Beine auf den gegenüberliegenden Sitz ausgestreckt und den Karton mit der Schildkröte geöffnet. […] »Elfriede vermisst bestimmt ihre schöne Kiste.« »Wer hätte die denn tragen sollen? Außerdem können wir dort nicht mit so ’ner Kiste aufkreuzen5 .« »Sieh doch mal, da sind wieder die Alpen, dahinter liegt Italien…« »Dahinter liegt Österreich…« »Die Alpen sind Österreich, aber hinter den Alpen liegt Italien, Elfriede, da fahren wir bald hin.« »Aber ohne Elfi.« Er faltete die Zeitung zusammen. »Kann sein, Elfriede, da musst du zu Hause bleiben.« Evelyn legte den Deckel auf den Karton. »Du tust, als würdest du schon alles kennen!« »Mach’ ich wieder ’was falsch?«, fragte er ohne aufzusehen. »Bist du denn gar nicht aufgeregt6 ?« »Klar bin ich aufgeregt, vor allem wenn ich mich wieder falsch benehme oder ’was Falsches sage.« […] »Irgendwas ist doch los mit dir.« »Du bist gut. Wir lassen alles stehen und liegen7 und ich weiß nicht, wie ich meine Brötchen verdienen8 soll, und du fragst, was los ist.« »Willst du zurück?« »Ich stelle mir nur vor, wie es ist, wenn Mona in unser Haus geht und deine Mutter und die anderen, und sie holen sich raus, 1 Die Eltern von Adam sind schon tot. 2 kellnern = als Kellnerin (serveuse) in einer Bar arbeiten 3 jdn. (A) ablehnen: refuser qn 4 Wenn es schief geht? (ugs.) = Wenn es nicht funktioniert? 5 aufkreuzen (ugs.) = bei jdm. ankommen 6 aufgeregt sein: être excité, ému 7 alles stehen und liegen lassen = alles zurücklassen, alles aufgeben 8 seine Brötchen verdienen = sein Geld verdienen (gagner) 514 was sie brauchen – da denkt man halt dran, ich kann nicht einfach abschalten1 .« »Wir brauchen es eben nicht mehr.« »Am Montag waren es zehntausend in Leipzig. Stell dir das mal vor, zehntausend!« »Adam, wir haben’s geschafft, wir sind im Westen, wir haben alle Papiere, wir bekommen Pässe, wir haben dreitausend Westmark, ich kann studieren, was ich will, wir dürfen umsonst wohnen, und du ziehst so ein Zitronengesicht.« »Besonders lustig war das alles bisher nicht.« (Auszüge aus: Ingo Schulze: Adam und Evelyn, Berlin: Berlin Verlag, 2008, 212–214, 252, 256) Tipps: – Was erfährt man über Evelyn? – Was erfährt man über Adam? – Welche unterschiedlichen Meinungen haben sie über die Ausreise in den Westen? Warum? – Welche Schlussfolgerungen (conclusions) kann man daraus ziehen? Arbeitsblatt 3–4 Uwe Tellkamp: Der Turm Der Autor Uwe Tellkamp beschreibt in seinem Roman Der Turm die letzten sieben Jahre in der DDR. Der folgende Auszug ist ein Gespräch zwischen dem Arzt Richard und seiner Frau Anne, die mit ihren beiden Kindern Robert und Christian in Dresden leben. Sie hatten es sich zur Regel gemacht, ernsthafte Probleme nicht in den eigenen vier Wänden2 , sondern auf einem Spaziergang zu besprechen. Diese Spaziergänge waren ein im Viertel allgemein üblicher Brauch3 . Man sah oft Ehepaare schweigend mit gesenkten Köpfen gehen oder in hastig gestikulierendem Gespräch – man konnte nur vermuten, dass es im Flüsterton4 geführt wurde, da es sofort abbrach, sobald Passanten in Hörweite5 kamen. […] Er begann von dem Gespräch zu erzählen, zuerst stockend, abgerissen, unzusammenhängend, dann immer drängender. »Aber was für einen Grund haben sie… […] Sie versuchen also, uns zu erpressen6 ,« sagte Anne; dieses »uns« registrierte er dankbar; aber sie suchte nicht seine Hand. »Wir müssen überlegen, was wir tun können.« Ihre Stimme klang jetzt wieder fest. Das gab auch ihm die nüchterne Überlegung zurück. »Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ich spiele mit oder ich spiele nicht mit.« »Von spielen kann keine Rede sein«, erwiderte sie rasch und knapp, »Ausreiseantrag. Wir müssen hier raus. […]« »Es wird nicht gehen. Die haben mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie mich nicht rauslassen werden. Ärzte werden hierzulande gebraucht … Es wäre Verrat7 an den Patienten, die Ihnen anvertraut sind …« »Die können uns doch nicht einfach festhal- ten!« »Doch, das können sie! Und dann sitzen wir hier, ich fliege aus der Klinik8 , was mir ja noch egal wäre, aber Robert und Christian… Wir hätten nichts erreicht!« »Wir müssten nicht denunzieren!« »Um den Preis, dass wir die Zukunft der Kinder aufs Spiel setzen9 ?« »Aber Menschen zu bespitzeln10 , ist das kein Preis?« Richard antwortete nicht. […] Schließlich sagte er: »Ich muss annehmen.« »Das willst du tatsächlich tun? Du willst für diese Lumpen11 arbeiten?« »Anne – doch nur zum Schein! Ich liefere ihnen belangloses Zeug12 ab, stell’ mich 1 abschalten = an etw. anderes denken 2 in den eigenen vier Wänden = zu Hause 3 der Brauch (¨e): la coutume 4 im Flüsterton sprechen: parler à voix basse, en chuchotant 5 in Hörweite: à portée d’ouïe 6 jdn. (A) erpressen: faire chanter qn 7 der Verrat: trahison 8 Ich fliege aus der Klinik. = Ich verliere meine Arbeit als Arzt im Krankenhaus. 9 etw. (A) aufs Spiel setzen: mettre en péril 10 jdn. (A) bespitzeln: moucharder, espionner 11 die Lumpen = les salauds (das Wort bezieht sich auf die Stasi) 12 belangloses Zeug = unwichtige Informationen 515 dumm – und das solange, bis sie von selber merken, dass sie mit mir keinen guten Fang gemacht haben. Ich muss für sie völlig unbrauchbar sein, vielleicht habe ich damit eine Chance.« »Glaubst du nicht, dass sie das merken werden?« »Sicher werden sie das merken. Aber was wollen sie machen? Auch ein Oberarzt bekommt nicht alles mit, was in einer Klinik passiert. Und ist es nicht logisch, dass die Assistenten vor mir den Mund halten?« »Und wenn sie dich provozieren? Was, wenn eine OP-Schwester etwas Verfängliches sagt, du tust so, als hättest du es nicht gehört, aber diese OP-Schwester gehört zu denen, und beim nächsten Treffen sprechen sie dich auf deine Unterschlagung1 an?« »Das wäre doch unklug, meinst du nicht? Ich wüsste doch dann, dass diese Schwester dazugehört.« »Und wenn sie dich nicht darauf ansprechen? Sondern still schweigend ihre Schlüsse ziehen und dir dann irgendwann die Rechnung präsentieren –« »Wenn, wenn, wenn! Siehst du eine andere Möglichkeit?« »Flucht.« »Anne, sei doch nicht albern! Das ist doch nicht dein Ernst? Schon der Versuch ist strafbar2 , die hätten uns im Handumdrehen am Schlaffittchen3 , und dann landen wir hinter Gittern4 … Flucht! Wie stellst du dir das vor? Mit den Jungs? Oder sollen sie etwa hierbleiben? Sollen wir einen Tunnel graben, über die Ostsee schwimmen –« »Dein Kommilitone hat es geschafft.« »Der war Leistungsschwimmer, Anne! Hat allein gelebt und genau gewusst, worauf er sich einlässt5 ! Wenn er gefasst worden wäre, hätte er nur für sich einzustehen gehabt. Weißt du, dass sie die Karten fälschen6 ? Hat mir neulich ein Patient verraten. Nach unseren Karten denkst du, du bist in der Bundesrepublik – in Wahrheit aber bist du immer noch in der DDR. Flüsse verlaufen nicht dort, wo sie den Karten nach verlaufen müssten, im Grenzgebiet sind Wege nicht eingezeichnet –« »Jugoslawien –« »Anne.« Sie lachte schrill auf. Richard sah sie an. »Lass uns nach Hause gehen.« Sie lagen wach nebeneinander, in ihren Betten, die sie am Beginn ihrer Ehe zusammengestellt hatten; einer lauschte den Atemzügen des anderen. (Auszug aus: Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008, 284– 292) Tipps: – Wer ist mit sie gemeint (z. B. Zeile 8)? – Worüber unterhalten sich Anne und Richard? – Warum können sie dieses Gespräch nicht zu Hause führen? – Welche verschiedenen Handlungsoptionen diskutieren sie? Wie ist die Meinung von Richard? Wie ist die Meinung von Anne? – Finden sie eine Lösung am Ende? Warum? / Warum nicht? Was bedeutet dies? Nicole Leier Studium der Romanistik, Politologie und Germanistik an der Universität Gießen; nach dem Referendariat DAAD-Lektorin an der Universität Montpellier III, Frankreich; zur Zeit Tätigkeit als Deutschlehrerin (Agrégée d’allemand) an einem französischen Gymnasium und Programmreferentin im Heidelberg-Haus in Montpellier, deutsches Kulturinstitut und Sitz der Projektleitung der Sprach- und Kulturwerbeaktion DeutschMobil. 1 die Unterschlagung = etw. nicht sagen (le recel) 2 strafbar: passible d’une peine 3 jdn. (A) im Handumdrehen am Schlaffittchen haben = jdn. (A) schnell finden und festnehmen (arrêter) 4 hinter Gittern landen = ins Gefängnis kommen 5 sich auf etw. (A) einlassen: s’embarquer dans qc 6 etw. (A) fälschen: falsifier