Hermann Ungar: Die Brüder Die Brüder trafen einander, wie sie schriftlich verabredet hatten, im D-Zug. Der Jüngere stieg in der Kreuzungsstation in das Abteil des Älteren. Sie kamen aus verschiedenen Weltgegenden. Sie hatten einander zwei Jahre nicht gesehen. Nun schüttelten sie einander wortlos die Hand, dann warteten sie, den Bruchteil einer Sekunde jeder, daß der andere den Anfang mache zur brüderlichen Umarmung. Da nichts geschah, löste sich die Erwartung, die die Gesichter gespannt hatte, das Lächeln des Wiedersehens wich von den Wangen. Sie setzten sich einander gegenüber in das leere Abteil. Der Zug fuhr weiter. Das Gespräch verstummte nach wenigen Worten. Der Ältere blickte durch das Fenster in die Nacht. Das ist schon die Heimat, dachte er, diese Wälder. Diese Lichter verraten ein Dorf, dessen Namen ich einmal gehört habe in meiner Jugend. Wenn man diesen Namen nennt, werde ich mich erinnern. In zwei Stunden werde ich daheim sein. Ich hätte den Bruder umarmen wollen. Warum •habe ich es nicht getan? Der Jüngere hatte eine Zeitung in die Hand genommen. Aber er las nicht. Wir fahren zusammen nach Hause, dachte er. In zwei Stunden werden wir da sein. Ich habe mich auf dieses Wiedersehen gefreut. Warum schämte ich mich, ihn zu küssen? Die fremde Kälte wäre gewichen, und wir wären einander in die Arme gesunken wie als Knaben. Sie verließen den Zug um Mitternacht an einer Station, wo ein Wagen sie erwarten sollte. Sie hatten noch eine Stunde Wagenfahrt vor sich. Der Platz vor dem kleinen Stationsgebäude war leer. Sie beschlossen zu warten. Der Kutscher hatte sich wohl verspätet. Der enge Wartesaal war erfüllt von Pfeifenrauch und der Ausdünstung schlafender Bauern und Soldaten. Die Brüder beschlossen, vor dem Gebäude zu warten. Sie gingen leicht fröstelnd nebeneinander. Der Jüngere machte den Vorschlag, das Gepäck am nächsten Morgen von der Station holen zu lassen und sich zu Fuß auf den Weg zu machen. Wenn der Wagen noch käme, müßten sie ihm begegnen. Der Ältere stimmte zu. Dieses schweigende Aufundabgehen mit dem Bruder, das unvermeidliche Gleichmaß der Schritte war unerträglich. Es schien lange geregnet zu haben. Die Straße war aufgeweicht und stand voll Wasserlachen. Ein schmaler Steg seitwärts war von Fußgängern trocken getreten. Sie gingen hintereinander. Nach wenigen Minuten waren sie im ersten Dorf. Ein Hund begann zu bellen, ein zweiter und dritter. Links lag ein großes Haus mit matt erleuchteten Fenstern. Die Mühle von Wirnitz, dachten beide. Nun wußten sie, mußte der Hohlweg kommen. Er führte zur Höhe, hinter der ihr Geburtsort lag. Bis hierher hatten die Spaziergänge mit dem Vater gereicht, der 439 abends auf dem Heimweg den Fragenden die Sternbilder mit ihren geheimnisvollen Namen genannt hatte. Welch rätselhafte Welt lag hier über dem Hohlweg. Anderswo war der Himmel nicht so voll von Grauen, nirgends sonst hatten sie so bebend zu Waage und Kassiopeia geschaut. Ob es sie diese Nacht wieder ergreifen würde wie einst? Zu beiden Seiten lagen die Wälder, in denen sie als Knaben gespielt hatten. Links der Kamm der Rovna. Würden sie noch beben, wenn sie den Wald betraten, jeden Augenblick gewärtig, daß ein Tier sie anspringe, ein Wolf, jetzt, wo sie wußten, daß es keine Wölfe in diesem Lande gab? Von links bellte ein Hund: 0, das ist ein Hund aus Vintavka, dachten sie. Und sie lächelten voll Freude, daß sie ihn nach vielen Jahren erkannten. Der Ältere schritt hinter dem Jüngeren. Hinter dem Hohlweg, dachte er, begann die Welt. Vor dem Hohlweg war Zuhause. Oh, warum haben wir Zuhause verlassen? - Was haben wir gesucht, daß wir hinausgingen? Wir hatten doch Eltern und Bruder. Wo sonst war ich geboren, wenn nicht da? Ich liebe eine Frau, aber ist sie nicht fremd, undurchdringlich, unberührt von mir? Und ist der, der vor mir geht, schweigend und in seinen Mantel fest gehüllt, mir nicht bekannter und näher als irgend jemand in der Welt? Was trieb uns, auseinander zu gehen, den Ort zu verlassen, an dem wir geboren worden sind? Der Ältere erinnerte sich, daß sie einst durch den Hohlweg gefahren waren, in anderer Richtung als heute. Damals war der Jüngere noch zu Hause. Dem Älteren drückte die Wehmut des Abschieds die Kehle zu. Als sie den Hohlweg hinter sich hatten, sagte der Jüngere: „Du fährst jetzt in die Welt." Ein feindliches Gefühl flackerte hinter diesen Worten. Er begriff, daß auch der Jüngere nicht bleiben würde. Sollte er ihm sagen, daß er nichts gefunden habe hinter dem Hohlweg, als Wirrnis des Herzens und Sehnsucht nach Hause? Und daß er nun nichts suche, als den Weg zurück? Aber es gibt keinen Weg zurück, mein Bruder, hätte er damals sagen sollen, statt zu schweigen. Der Jüngere aber hätte gelacht. Er ist mein Feind, hätte er gedacht. Ein Wagen ratterte auf der Landstraße ihnen entgegen. War es ihr Wagen, der verspätete? Der Jüngere wandte sich um. Der Mond leuchtete in sein Gesicht. Es war grau und alt, aber es lächelte. „Unser Hohlweg", sagte er und nickte. „Unser Hohlweg", sagte der Ältere und sonst nichts. Er hätte etwas hinzufügen können, ein Wort der Liebe oder bloß: mein Bruder. Aber wie sollte er die Scham überwinden? 440