2.6.1 Marie von Ebner-Eschenbach Wie viele Realisten begann auch die aus Mähren stammende Gräfin Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916) als Dramatikerin. Erst der ausbleibende Erfolg bzw. die entschiedene Zurückweisung ihrer Werke durch die Theaterkritik veranlasste sie, sich der Erzählprosa zuzuwenden, ohne freilich ihre Vorliebe für dramatische Strukturen, d.h. für eine um Konflikte zentrierte Dramaturgie des Erzählens aufzugeben. Als Erzählerin war sie fast von Anfang an erfolgreich. Die renommierte Deutsche Rundschau, in der auch Keller, Fontane und Meyer präsent waren, brachte ihre Werke im Vorabdruck, Paul Heyse nahm eine ihrer ersten Erzählungen (Die Freiherren von Gemperlein) in seinem Neuen deutschen Novellenschatz auf. Ebner-Eschenbach gehört am Jahrhundertende zu den ausgezeichneten Persönlichkeiten (Ehrenkreuz für Kunst und Literatur, erste Ehrendoktorin der Wiener Universität; vgl. Pfeiffer 2001). Die Vermeidung der Gattungsbezeichnung ›Roman‹ hat sie mit Stifter gemeinsam. Ob sie damit gleichfalls das markant Epische ihrer Erzählkunst hervorheben oder nur eingestehen wollte, dass es sich um ›kleine Romane‹ handelt (Ein kleiner Roman heißt eine Erzählung aus dem Jahr 1887) und im Grunde »Schloß- und Dorfgeschichten« gemeint sind, mag unentschieden bleiben. Zweifelsohne aber hat sie Romane geschrieben: Das gilt schon von Božena (1876, ²1895), weiterhin von Das Gemeindekind (1887) und auch von Unsühnbar (1890, 91911). Die ersten beiden Romane sind ›Lebensgeschichten‹, dargeboten in sozialer Perspektive ›von unten‹, der dritte, nicht minder lebensgeschichtlich angelegt, rückt an die Seite der großen Eheromane in europäischer Tradition. Zum ›Markenzeichen‹ von Ebner-Eschenbachs Erzählkunst wurden freilich die »Dorf- und Schloßgeschichten«, die in der mährischen oder galizischen Welt spielen und hier die ebenso politischen wie sozialen und mentalen Spannungen zwischen Schloss und Dorf in den Mittelpunkt rücken. Ebner-Eschenbach gehört zu den engagierten Realisten, die Geschichten erzählen, um auf soziale Missstände im Umfeld einer auf Expansion bedachten Umwelt aufmerksam zu machen; sie erzählt von ›Fällen‹ und – darin spiegelt sich das realistische Verklärungskonzept – legt Perspektiven aus, die zu erkennen geben, durch welche Reformmaßnahmen die jeweiligen Konflikte zu vermeiden oder zu lösen wären. Božena, »der erste Dienstmädchenroman dt. Sprache« (Sagarra 1989, 161), kann mit guten Gründen »als Beispiel für literarischen Avantgardismus innerhalb des Bürgerlichen Realismus« gelten (H. Beutin 1980, 247). Das zeigt sich in Figurenwahl, Handlungsführung und Konfliktlösung, weniger aber in der Erzähltechnik. Die Magd Božena steht in der Tradition der starken ›Volksfiguren‹. Zeitgeschichtlich bedeutsam wird sie im Kontext des aufbrechenden Nationalitätenkonflikts und der sich konsolidierenden Klassengesellschaft unter dem Diktat des Geldes. Als realistisch konzipierte Figur birgt sie einen idealen Kern und realisiert somit die Forderung nach Verklärung in einer unwirtlichen, aber reformierbaren Welt. Sie verkörpert die Hoffnung, dass sich trotz des herrschenden patriarchalischen Gesellschaftszustands wieder matriarchalische Verhältnisse einführen lassen; ausdrücklich wird sie mit der Städtegründerin Libussa assoziiert, deren dramatische Gestaltung durch Grillparzer der Autorin wahrscheinlich vertraut war (H. Beutin 1980, 252). In seiner didaktischen, vorbildstiftenden Wirkungsabsicht steht der Roman dem frühen Realismus noch nahe; doch deutet sich in der Entscheidung für eine Figur, die im bürgerlichen Gefüge sozial unten und national am Rande steht, ein Akzentwechsel an, der den älteren nationalpädagogischen Rahmen des 116 Erzählliteratur – Der Gesellschaftsroman Realismus sprengt und seine subversive Darstellungskraft, die in der Hinwendung zum Alltag liegt, erst recht freisetzt. Das heißt aber nicht, dass Božena schon zum faszinierend resoluten Frauentypus der Jahrhundertwende gehört (vgl. etwa die Helene in Anzengrubers Sternsteinhof). Zwar ist sie klug und tüchtig, auch heißt sie von Anfang an »die schöne Božena« (6); wenn aber ihre Schönheit nicht nur in den roten Wangen und weißen Zähnen, sondern auch in »Größe und Stärke« zum Ausdruck kommt – wiederholt ist von einer »Riesin« die Rede –, dann zeichnet sich doch ein eigentümliches Schönheitskonzept ab, das selbst im »mutigste[n] Mann« ein »leises Grauen« hervorruft. Im Grunde geht es nicht um den modernen Karriereweg einer durch ihr traditionelles Schönheitskapital aufsteigenden Häuslerin (so im Fall der Anzengruberschen Helene), sondern um eine alternative Biographie über die Bewährung und Beständigkeit der altruistischen ›guten‹ Božena. Die Konzentration auf eine ideale Mittelpunktsfigur steht der erzählerischen Ausweitung zum Gesellschaftsroman nicht im Wege. Als »Fürstin Libussa« (108) bildet die Magd die wahrhaft souveräne Spitze einer neuen Kommunität im Nachfeld der Märzrevolution von 1848. Es ist insbesondere das Geld, das die alten (feudalen) und neuen (bürgerlichen) Verhältnisse bestimmt, zerrüttet oder zerstört. Die davon betroffenen Lebenswege kreuzen sich in der Nähe einer fast schon naturalistisch gedachten Figur, die zwar befremdlich bleibt (national, sozial, phänotypisch, ästhetisch) und dennoch – in mythischer Analogie zur Städtegründerin – die Fäden des eigenen und fremden Geschicks in den Händen hält. Ebner-Eschenbach beginnt ihre Erzählung fast so wie später Fontane seine L’Adultera-Novelle. Sätze wie »O schöne Stunde! unvergeßlicher Anblick! Alle Anwesenden umschlangen Fräulein Nannette in einer Umarmung und küßten sie auf ihren Mausmund« (9) zeigen, dass nicht nur betulich, sondern auch ironisch erzählt wird, selbst wenn das Erzählen schließlich im Märchenton mündet. Die Heldin von Unsühnbar gilt als »österreichische Effi Briest« (Majut 1960, Sp. 1497). Abgesehen davon, dass solche Vergleiche immer hinken, können sie doch dazu dienen, die Spannweite des realistischen Erzählens sichtbar zu machen. Überall im europäischen Realismus spielen Ehe, Ehebruch sowie die gesellschaftlichen Ursachen und Folgen der scheiternden Ehen eine zentrale Rolle; und immer werden sie anders erzählt. Gerade an den nicht zu übersehenden Unterschieden gegenüber Effi Briest oder auch Unwiederbringlich (z.B. Bedingungen für eine glückliche Ehe, Erklärung des Ehebruchs, Rolle der Selbstverantwortung, Stellenwert der Gesellschaftskritik) wird deutlich, was andere, z.B. eine Gräfin aus der Provinz und zugleich urbane Intellektuelle, ›woanders‹ zur selben Zeit auf ihre eigene Weise (als mährische Autorin in der Weltmetropole Wien) vollbringen, wenn sie realistisch schreiben wollen. Unsühnbar stand freilich nicht immer im ›Abseits‹ der unbekannten kleineren Romane, in das er heute gerückt ist; denn als Vorabdruck ist er auf dem Forum der modernen deutsche Literatur erschienen, in Rodenbergs renommierter Deutscher Rundschau (1889). So leicht wie heute ließ sich Ebner-Eschenbachs Roman damals also nicht übersehen. Wie der Titel schon ankündigt, handelt es sich um einen moralischen Roman, und zwar ›moralisch‹ in einem besonderen Sinn, geht es doch nicht nur um Schuld und Buße für ein ›Unrecht‹ (Ehebruch), sondern ausdrücklich um seine Sühne; das heißt nach dem hier zugrunde gelegten Maßstab, dass, wer bereits ›gebüßt‹, trotzdem nicht automatisch auch ›gesühnt‹ hat (vgl. 140). Es bedarf wohl keiner besonderen Versicherung, dass weder Flaubert noch Fontane an solchen Differenzierungen weiDer ›multikulturelle‹ Gesellschaftsroman 117 terarbeiten wollten; das könnte schon eher auf George Eliot zutreffen. Gewiss aber deutet sich in solchen Interessen der Einfluss des russischen Realismus an (Anna Karenina hat Ebner-Eschenbach nachweislich gelesen). Es geht um moralische Nuancierungen, die im realpolitischen Kontext ebenso nivelliert werden könnten wie im liberal emanzipatorischen. Die Gräfin Maria Wolfsberg wird von ihrem Vater zu einer Ehe überredet, die zwar durchaus vorteilhaft ist, nicht aber ihren geheimen Wünschen entspricht, liebt sie doch einen anderen, gleichfalls standesgemäßen, aber leicht in Verruf stehenden Mann. Sie wird mit diesem später die Ehe brechen, gerade dadurch aber zu einer innigeren Liebe für ihren Mann, der sich schon längst als idealer Partner bewährt hat, heranreifen. Den Ehebruch, aus dem ein Kind hervorgeht, das der Ehemann für sein eigenes hält, wird die Gräfin erst nach dem Unfalltod ihres Mannes öffentlich bekennen, während sie sich zu dessen Lebzeiten aus Rücksicht vor seiner Liebe zum Schweigen durchringt. Obwohl sie nach dem öffentlichen Geständnis nicht das typische Schicksal der gebrandmarkten Ehebrecherin erfährt (das schlimmste Erlebnis ist die Zurückweisung durch den Vater, der sich schließlich auch eines besseren besinnt) und in der Erziehung ihres einzigen Sohnes eine zukünftige Aufgabe erkennt, siecht sie trotzdem dahin und stirbt an ›gebrochenem Herzen‹ (vgl. 140). »O, hätte ich nie ein Unrecht getan!« (142) sind ihre letzten Worte. In der Reihe der gesellschaftskritischen Romane des Realismus formuliert dieser Ausruf eine enttäuschende ›Erkenntnis‹ oder gar ›Lehre‹, bei der etwas personalisiert wird und somit individuell zu verantworten ist, was – nach den ›Spielregeln‹ des europäischen Eheromans – eben nicht im Subjekt, sondern in der Struktur der herrschenden Verhältnisse liegt. Freilich muss das Bewusstsein der Figur nicht mit dem übereinstimmen, was die Erzählung zu verstehen geben möchte; aber Ebner-Eschenbachs auktoriale Erzählinstanz tut wenig, ihre Zentralfigur bei der Einschätzung des Seitensprungs oder der Bewertung seiner Folgen zu widerlegen. Ebner-Eschenbachs Ehebrecherin Maria wird – auch in ihrer Rolle als büßende Magdalena – zur schmerzensreichen Mutter eines ›natürlichen Christen-Sohnes‹ verklärt, dessen säkulares ›Evangelium‹ das Gute ist: »Gut sein ist Glück, einfach, selbstlos und gut« (141). Dabei fehlt es nicht an psychologisch kritischer Durchdringung, die das Pathologische in dieser ›Nachfolge Mariens‹ wenn nicht offenlegt, so doch andeutet. Bezeichnend dafür ist folgende Kranken-Vision: »Auf dem Tische stand eine verdeckte Lampe; der schwache Lichtkreis, den sie an die Decke warf, fesselte den Blick Marias. In dem bleichen Schimmer bildeten sich flutende Wellen, und ein weißer Schwan zog über sie hin, und in den Lüften erklang eine liebliche Musik. Die verstummte plötzlich; ein Stern war vom Himmel gefallen, und der Stern war ein Weib und entsetzliche Ungeheuer zerfleischten es... Hunderte von Fratzen, Köpfe ohne Leiber schwebten heran, Augen ohne Köpfe, die vielen Augen, die sich in die ihren bohrten. Sie fürchtete sich nicht, sie fand das alles natürlich. Natürlich auch, daß sie auf ihrem Bette lag und zugleich dort oben stand, in dem wehenden Schein, an der Seite Hermanns. Er deutete auf sie und sagte: ›Ich seh dein Herz, es blutet, und es hat einen schwarzen Fleck, einen kleinen, kleinen Fleck, der verfinstert die Welt.‹« (138) Erzähltechnisch gesehen, erinnert diese Stelle an C.F. Meyers Art, in der Traumerzählung das zum Ausdruck zu bringen, was das Bewusstsein zensiert (vgl. Die Richterin). Erfasst wird hier, woran die Figur von Anfang an ›leidet‹, ein »eigentümliches Doppelleben« (94), die Unvereinbarkeit ihrer körperlichen Wünsche mit ihren moralischen Vorstellungen, das Verspielen von Glück im Verkennen von Glück; und als Rest bleibt dann nur »Ekel« (136). 118 Erzählliteratur – Der Gesellschaftsroman Die banale Lösung dieses Konflikts läge natürlich in einer Umwertung oder Liberalisierung. Aber darum geht es der Autorin offenbar nicht. Anders als in Effi Briest steht die »öffentliche Meinung« (127) hier nämlich aufseiten der Ehebrecherin. Nicht diese geht ins Wasser bzw. wird zum Wassertod verurteilt, sondern umgekehrt, sie schickt – wenn diese strukturalistisch pointierte Umformulierung hier am Platze ist – die patriarchalische Welt – d.h. Hermann, den Ehegatten, und Hermann, den legitimen Sohn – ins Wasser. Das schwächt den erwarteten gesellschaftskritischen Impuls ab, der durch die Haltung der Schwiegermutter nebenher doch unterstützt wird; das deutet aber wohl auch an, wie oberflächlich liberale Reformen der Ehepraxis in dieser Hinsicht ausfallen. Wichtiger scheint der Erzählung das zu sein, was den Betroffenen jenseits belastender oder entlastender Gesellschaftsregeln bewusst werden kann. Die Erinnerungsfähigkeit spielt dabei eine große Rolle. Jedenfalls äußert sich eine Nebenfigur in diesem Sinne: »Aber die abgewiesenen Erinnerungen und Gefühle, das ist bei Leuten euren Schlages wie zurückgeschobener Sand oder Schnee; es häuft, es häuft sich, es wird ein Berg und stürzt euch bei der ersten Gelegenheit über dem Kopf zusammen« (128). Erkenntnis ist entscheidend angesichts des Elends und der Greuel in der Welt, die sich wohl bei mehr Umsicht vermeiden ließen (vgl. 125). Auch das ist nicht zuletzt ein utilitaristisches Prinzip. Wie Anzengrubers Helene begreift auch Maria das Leben als Gelegenheit zum nützlichen Handeln; nur scheint Anzengruber ›liberaler‹ erzählen zu wollen als Ebner-Eschenbach, die stellenweise so düster und radikal wird, dass sie eine ihrer Figuren nur noch den Teufel im Himmel walten sehen lässt (vgl. 40). Wie geht die Erzählung mit ihren moralischen Nuancierungen um? Es gibt hochpathetische, geradezu schwülstige Partien; so die Schilderung des Ehebruchs (vgl. 64), die aber auch nicht anders klingt als Fontanes Treibhaus-Szene in L’Adultera. Es gibt aber auch einen anderen Ton, und der bricht mitten in eine moderne Gesellschaftsszene ein: »Maria blickte sinnend mit immer unbeweglicher werdenden Augen in das Gewühl fröhlicher, geputzter Menschen, und was sie sah, war seltsam. – Das glänzende Bild goldbetreßter Herren, von Juwelen strotzender Damen, des altertümlichen Prunkgemachs, worin sie sich bewegten, wurde durchscheinend und verschwand schemenhaft von [lt. Vorabdruck und EA: vor] einem tiefdunkeln Hintergrunde. In dem war ein Brausen und Grollen, wie es dräut im sturmgepeitschten Meer. Die Wellen türmten sich bis zum Himmel, stürzten in unermeßliche Tiefen, stiegen wieder empor, um wieder zu sinken, ein ewiges Auf und Nieder. Und ein Wehgeheul entrang sich diesem grausen Getümmel gejagter, jagender, verschlingender, verschlungener Wellen: denn sie bestanden aus Tier- und Menschenleibern; sie waren das gequälte Geschlecht der Lebendigen, und der Ozean, der diese Fluten rollte, war ein Ozean des Leidens... Manchmal erglänzte hoch am Horizont ein blinkender Stern, und Millionen von Menschenherzen erhoben sich, sehnsüchtige Augen tranken lechzend sein zitterndes Licht. Aber nicht lange, und sie wußten: der ihnen dort erglommen, der verheißende Schein, war nur ein Widerschein des Trostverlangens, der Hoffnung – in ihrer eigenen Brust. Und weiter rollt der Ozean des Leidens seine stöhnenden Fluten. Aber sieh! – was kommt auf ihnen dahergeschwommen?... In bewimpeltem Schifflein eine lustige Schar übermütiger Männer und Frauen. Sie scherzen, sie spielen, sie liebeln und fahren sorgenlos hin – dem selben Ende zu, das der Gepeinigten wartet...« (92f.) Solche Stellen verraten den Einfluss Schopenhauers (verhängnisvoller Lebenstrieb, Philosophie des Leidens). Nicht nur einzelne Personen führen ein »Doppelleben«, Der ›multikulturelle‹ Gesellschaftsroman 119 sondern die ganze Wirklichkeit wird brüchig, verrät eine Unterhöhlung. Der Blick, eigentlich Medium der empirischen Vergewisserung, versagt, indem er umkippt und das Gegenteil des Glänzenden, das Dunkle hinter dem Licht wahrnimmt. Der frühe Realismus wollte auf die Dinge blicken, um ihr inneres Wesen zu erkennen. In seiner ›Reifephase‹ zeigt sich, welche subversiven Erkenntnisinstrumente er in die literarische Welt eingeführt hat. 2.6.2 Ludwig Anzengrubers ›Bauernroman‹ Ludwig Anzengruber (1839–1889) ist bis heute bekannt geblieben für seine kritischen Volksstücke (z.B. Das vierte Gebot) im Vorfeld der Moderne; wenn es Vorläufer des ›modernen Volksstücks‹ geben sollte, wie es durch Fleißer und Horváth geschaffen wurde, dann gehört Anzengruber unbedingt zu ihnen (vgl. Aust/Haida/Hein 1989). Der herkömmliche Begriff des Volksstücks scheint notwendigerweise eine vormoderne Welt vorauszusetzen. Der Verlauf des ›kritischen Volksstücks‹ im 20. Jh. hat jedoch gezeigt, dass der bäuerliche oder ›altfränkische Winkel‹ und die moderne Großstadt nicht ganz so weit auseinander liegen, wie es die komparatistische Realismus-Forschung früher annahm (Auerbach 1946), wenn es darum geht, ›Geburt‹ und ›Kult‹ von Gewalt, Aggression und Hass (Gay 1996) in der Gesellschaft auf der Bühne zu inszenieren oder als Geschichten zu erzählen. Das Werk Ludwig Anzengrubers, das dramatische wie das erzählende, kann diesen Zusammenhang bezeugen. Auch ein typischer Bauernroman im Vorfeld der Heimatliteratur (vgl. Sprengel 1998, 192ff.) kann ein realistischer Gesellschaftsroman sein, wenn er nicht nur das bäuerliche Leben anschaulich beschreibt und so widerspiegelt, wie es eigentlich ist bzw. sein soll, sondern es als Material und Modell für jene Entwürfe gebraucht, die holzschnittartig zeigen, wie eine unübersichtliche moderne Gesellschaft funktioniert und welche ›Betriebsschäden‹ dabei auftreten müssen. So gesehen ist gerade Anzengrubers zweiter Roman Der Sternsteinhof (1885) – schon der erste, Der Schandfleck (1877) rückt das Thema der gesellschaftlichen Ächtung in den Mittelpunkt – ein zwar regional spezifischer, aber vollwertiger realistischer Gesellschaftsroman, der die Krise des Liberalismus in Österreich begreifbar und seine Spuren (Maschinen, verschmutzte Umwelt) bemerkbar macht (vgl. Rossbacher 1992, 303). Das sind durchaus neue Erzählungen, obwohl es sich – wie schon in Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe – um alte Geschichten handelt: »[...] solche alte Geschichten von erprobter Wirkung in ein neues Gewand zu stecken, ist nur ein künstlerischer Behelf, und ein anderer ist es, das letztere für die handelnden Personen aus Loden zuzuschneiden; es geschieht dies nicht in dem einfältigen Glauben, daß dadurch Bauern als Leser zu gewinnen wären, noch in der spekulativen Absicht, einer mehr und mehr in die Mode kommenden Richtung zu huldigen, sondern lediglich aus dem Grunde, weil der eingeschränkte Wirkungskreis des ländlichen Lebens die Charaktere weniger in ihrer Natürlichkeit und Ursprünglichkeit beeinflußt, die Leidenschaften, rückhaltlos sich äußernd oder in nur linkischer Verstellung, verständlicher bleiben und der Aufweis: wie Charaktere unter dem Einflusse der Geschicke werden oder verderben oder sich gegen diesen und sich und andern das Fatum setzen – klarer zu erbringen ist an einem Mechanismus, der gleichsam am Tage liegt, als an einem, den ein doppeltes Gehäuse umschließt und Verschnörkelungen und ein krauses Zifferblatt umgeben; wie denn auch in den ältesten, einfachen, wirksamsten Geschichten die Helden und Fürsten 120 Erzählliteratur – Der Gesellschaftsroman