Geschwisterliebe zum Problem geworden war und wie sehr sie nur fürchtet, der Bruder werde die Tochter der Vatermörderin verschmähen (Wünsch 2000). Als analytische Erzählung gestaltet die Novelle ihren Weg zu den Tatsachen mit Hilfe von Zeichen, die immer besser anzeigen, wie es sich eigentlich verhält (Geppert 1994). Die ins Auge fallenden Zeichen der Novelle sind Becher und Horn. Sie spielen als Requisiten eine Rolle, deren Hantierung den Gang der Handlung bestimmt; sie fungieren als Abbilder, die Verborgenes, aber Ähnliches widerspiegeln; sie repräsentieren andere, ferne und doch maßgebende Welten und üben eine indexikalische, anzeigende Kraft aus. Als Requisiten verkörpert ihr Besitz oder Verlust den wechselnden Abstand zur wahren Wirklichkeit, als Abbilder spiegeln sie einen Schöpfungszustand, der bereits »in Mann und Weib [...] auseinanderging« (205) und nun nach Wiedervereinigung drängt (vgl. von Matt 1980), als prähistorische Relikte erinnern sie an die mythischen Schichten über wie unter dem festen Erdboden, und als Signale führen sie Wahrheit, Stemmas wahres Bekenntnis, herbei. Horn und Becher stammen aus dem Märchen und wirken märchenhaft prompt; dennoch sind sie keine Zaubermittel, die endgültig die wahre Wirklichkeit herstellen. Nach der Gerichtsszene, die den ›Fall‹ öffentlich löst, bleibt der Schluss, die finale Wirklichkeit, insofern noch offen, als sich Wulfrin einer (Kriegs-)Probe unterziehen muss. Natürlich spricht alles dafür, dass ihm diese Prüfung gelingen wird; dennoch versagt sich die Geschichte die Zur-Schau-Stellung des glücklichen Finales (vgl. Fontanes Vor dem Sturm). Palma und Wulfrin bleiben Ausnahmen innerhalb einer Welt, in der die obersten Richter immun ihr Amt ausüben und eine Ordnung herstellen, die ihr eigenes Tun verdeckt. Das sind die Bilanzen dieses Realismus. 5.11 Berührungen mit dem Naturalismus: Ferdinand von Saars Die Troglodytin Mit hohen Erwartungen hatte sich der frühe Realismus dem alltäglichen Leben als einem verkannten poetischen Stoff zugewandt. Bald musste er entdecken, dass es nicht genügt, das bislang Vernachlässigte in den Blick zu rücken, sondern dass trotz der willkommenen Eröffnung eines natürlichen, lebensvollen und auch konfliktreichen Neulands eine ideelle Durchdringung notwendig wurde. Das, was die Realisten sahen, entsprach nicht dem, was sie erwarteten. Das hatte erhebliche Folgen für die Ausbildung ihres Wirklichkeitsbegriffs, den Entwurf eines Seh-, Wahrnehmungs- und Erfahrungskonzepts sowie die Gewichtung normativer Rahmenbedingungen. Es konnte nicht ausbleiben, dass die aufgesuchte autonome Wirklichkeit bei den vielfältigen ›Nachhilfen‹, die sie sich gefallen lassen musste, nicht nur ›stillhielt‹, sondern auch ›reagierte‹, sich gerade wegen dieser eigentümlichen realistischen ›Übergriffe‹ zur Wehr setzte oder sich zu entziehen begann. Schon der grüne Heinrich konnte erfahren, was passiert, wenn ein Jüngling zu keck der freien Natur mit rigorosen Nachahmungsabsichten auf den Leib rückt. Sichtbar wurde dabei zunehmend, dass Vieles, was ursprünglich vielleicht als aufklärende oder verklärende, in jedem Fall aber intensivierende Widerspiegelung gemeint war, immer deutlicher Züge des Entwurfs, ■ ■ ■ ■ Berührungen mit dem Naturalismus: Ferdinand von Saars Die Troglodytin 259 der subjektiven Herstellung von bevorzugter oder erwarteter Wirklichkeit annahm, ja geradezu Wirklichkeitsfiktion wurde, die in den Verdacht geriet, die ›eigentliche‹ Wirklichkeit zu vernachlässigen oder gar zu deformieren. Ideale der Wirklichkeitsgestaltung verkehrten sich so zu Quellen der Störung, wenn nicht gar der Vernichtung des realistischen Projekts. Auf die Dauer konnte es den Realisten nicht entgangen sein, dass ihre Beschreibungen gerade dann am ›objektivsten‹ ausfielen, wenn sie die subjektiven, und das heißt auch deformierenden Quellen der Wirklichkeitsdarstellung offenlegten. Das zeigte sich schon an Ludwigs Zwischen Himmel und Erde, wo aber die subjektiv verantwortete Verzerrung von Wahrnehmung noch durch die Richtigstellung eines auktorialen Erzählers ausgeglichen werden konnte. Im weiteren Verlauf der realistischen Erzählkunst erhöht sich aber der Anteil der gebrochenen bzw. gestörten Perspektive. Der Anspruch, zu zeigen wie es sich eigentlich verhält, muss dabei nicht verloren gehen; erst wenn die beeinträchtigte Perspektive so angelegt ist, dass eine Entscheidung über ihre Zuverlässigkeit (Todorov 1975) unmöglich wird, beginnt das Phantastische der Moderne. Die Inszenierung der gebrochenen oder projizierenden Perspektive mit allen verzerrenden Folgen gehört noch ins Muster des Realismus, auch wenn die dargestellte Welt immer befremdlicher und ihre Verklärung definitiv unmöglich wird. Das zeigt sich z.B. an Ferdinand von Saars (1833–1906) ›Erinnerungsnovelle‹ Die Troglodytin, der dritten und letzten Erzählung im Band Schicksale (1889), der seinerseits zum Großprojekt der Novellen aus Österreich gehört. Zeit und Ort der erinnerten Geschichte sind so gewählt, dass das Krisenhafte der Situation und des Geschehens deutlich wird. Nicht ein Lebensbild wird sichtbar, sondern Spuren, die einen Prozess der kritischen Wandlung anzeigen. Die Handlung spielt kurz vor und während des deutsch-österreichischen Krieges von 1866 in der Nähe eines mährischen Adelssitzes und eines Marktfleckens. Soziale, politische und wirtschaftliche Spannungen machen sich allenthalben geltend: Das Gut ist noch habsburgischer Feudalbesitz, die Gemeinde des nahen Ortes (mit Bezirksgericht) bereits autonom und mehrheitlich slawisch. Die angesiedelte Industrie (Hütten- und Eisenwerke) bringt ein Landproletariat hervor und bewirkt die Verelendung weiter Teile der Bevölkerung (Armut, Wohnungsnot, Alkoholismus, Kriminalität). Der Solidarpakt der Besitzenden (quer durch die teils deutsche, teils slawische Bevölkerung) kennt nur den rücksichtslos vorgehenden Apparat der Besitzsicherung bzw. Ausbeutung; das heißt, das Räderwerk der Ahndung und Bestrafung funktioniert, nicht aber die Einrichtungen für Vorbeugung bzw. Resozialisierung. Dadurch entsteht eine Spirale der Diskriminierung, die jedoch ihre Wirkung nicht etwa sich selbst, sondern einem Naturgesetz zuschreibt. Das zeigt sich an der Kettenreaktion der sozialen Stigmatisierung, die aus der Maria (Maruschka) Kratochwil eine ›geborene‹ Troglodytin macht; das heißt, aus einem Menschen der Gegenwart eine Höhlen-Bewohnerin der Vorzeit, die weder im adligen Schloss, noch im bürgerlichen Haus, weder in der alten imperialen, noch in der modernen autonom nationalen Gesellschaft Platz findet und doch unter spezifisch modernen Bedingungen aufwächst. Dem Prinzip der hergestellten, herbeigeführten Wirklichkeit entspricht die subjektive Perspektive des Ich-Erzählers Pernett, der sich an eine »Geschichte« erinnert, die er selbst »erlebt« und deren Erinnerung ihn »noch heute ganz eigentümlich« ergreift (SW IX, 121). Als Ordnungshüter, er ist ein Forstadjunkt, müsste er sich eigentlich um objektive Beobachtung, vielleicht sogar um mitfühlende bzw. besorgt verantwortungsvolle Teilnahme bemühen. Stattdessen 260 Erzählliteratur – Die Novelle verstrickt er sich in die eigenen sexuellen Phantasien (in Saars Darstellung kommt die mögliche Freundlichkeit gegenüber Marie nur im Verhalten des Hundes Stop zum Ausdruck) und versagt unter dem Eindruck seiner panischen Reaktionen, wo immer er Marie begegnet. Wie Raabes Albrecht (Die Innerste) ist er unfähig, das Netz der erniedrigenden Bezichtigungen und tödlichen Verleumdungen zu zerreißen; wie in Fontanes Grete Minde führt das, was als Ordnung gilt, nämlich bequeme, d.h. de facto ungerechte Rechtsprechung (hier die Verurteilung zur Zwangsarbeit) in die Brandkatastrophe. Arbeit, ehemals die optimistische Signatur am Wirklichkeitsbau des Realismus, verkehrt sich zur destruktiven Kraft, die den Menschen in ein urzeitliches Zwangslager zurückwirft, aus dem er körperlich und geistig deformiert nur zum eigenen und allgemeinen Unheil entlassen wird (vgl. Boehringer 2006). Die Rahmenbedingungen für die folgenreich verzerrenden Wahrnehmungen finden sich schon früh gesteckt. Zur Dienstaufgabe des Erzähler, der freimütig seine Neigung zum »Umgang mit angenehmen Frauenzimmern« eingesteht, gehört die Beaufsichtigung der Tagelöhnerinnen, das sind die »Weiber und Töchter« aus jenem »ländliche[n] Proletariat«, das die »herrschaftlichen Industrien« (122) geschaffen haben. Hier begegnet ihm eine andere, von Anfang an als gefährlich empfundene Welt. »Sie hatten durchaus nichts Plumpes und Ungeschlachtes an sich, vielmehr waren die meisten schlanke, zierliche Gestalten mit wohlgeformten Händen und Füßen, und was man auch gegen die Gesichter einwenden konnte, schöne Augen hatten sie fast alle und wußten davon auch ausgiebig Gebrauch zu machen. Dabei waren sie träg und nachlässig, naschhaft und diebisch – und auch sonst zu jedem Unfug aufgelegt. Weh’ dem, der sich mit einer von ihnen leichtfertig eingelassen hätte; er wäre unrettbar in die Verlotterung mit hineingezogen worden.« (122) Die Stelle ist ein Muster für den neuartigen ›Zusammenhang der Dinge‹, dessen Entwicklung zur Hauptaufgabe des Realismus seit seinem Anfang gehört, so aber nicht gemeint war. Im Zusammenhang stehen hier wirtschaftlicher Fortschritt und soziale Verelendung, weibliche Natur und männliche Einschätzung, liberales Begehren und bürgerliche Angst, ›strenge‹ Beobachtung und ›gierige‹ Projektion. Der Beobachter befindet sich in einer doppelten Zwangslage, insofern er sich gegenüber dem »verführerischen Völklein«, das er für »willfährige Sklavinnen« hält, »zu einem trostlosen Zölibat« (122) verurteilt sieht und doch die Frauen als »Teufelinnen« (123) fürchtet. Diese Erfahrung bestimmt seine Wahrnehmung, so dass er, wenn immer er die Maruschka sieht, zwiespältig reagiert: »Sie erwiderte nichts, sah mich aber mit einem Blick an, der mir das Blut sieden machte – und mich doch gleichzeitig derart empörte, daß ich mit ungeheuchelter Entrüstung ausrief: ›Du bist ein schamloses Ding! [...]‹« (136f.). Und so auch später: »[...] trotz allen Ekels und Abscheus, trotz der Furcht, die ich jetzt vor ihr empfand, fühlte ich doch eine plötzliche Wallung des Blutes, meine Sinne drohten sich zu verwirren; ich befand mich in einer entsetzlichen Lage ...« (159). Der sich erinnernde Beobachter erweist sich als Zeitgenosse der naturalistischen Moderne, wenn er das weitere Geschehen, insbesondere das Scheitern seiner ›resozialisierenden‹ Bemühungen um Maruschka, mit den »physischen Gesetzen« (140) der Degeneration erklärt. Dem Realismus verbunden bleibt der Text aber insofern, als er den Zusammenhang dieser Sicht mit den erfahrungsbedingten Wahrnehmungsweisen (Begehren, Enttäuschung, Neid) herstellt. »Aber wissen Sie, Pernett«, hält ihm sein Berührungen mit dem Naturalismus: Ferdinand von Saars Die Troglodytin 261 Vorgesetzter bei anderer Gelegenheit vor, »daß wir eigentlich in die Geschichte mit verwickelt sind« (148). ›Verwickelt‹ ist der Erzähler auch insofern, als er von der heimlich Begehrten und doch mannigfach Diskriminierten ernsthaft geliebt wird. Wie in Kellers Meretlein-Geschichte (Der grüne Heinrich), Stifters Waldbrunnen, Storms Renate oder Ebner-Eschenbachs Das Schädliche geht es um das Handlungs- und Wahrnehmungsvermögen eines Ordnungshüters gegenüber einem ›wilden‹ Leben. Pernett versagt und empfindet angesichts des Zusammenhangs gegensätzlicher Momente bereits jenes »unsägliche(s) Grauen« (154), das seine Geschichte in die Nähe der ›Jahrhundertwende‹ rückt. Figuren, die in dieser Welt hausen, werden oft bis zur »Unkenntlichkeit« (160) entstellt und erreichen eine Form der Wirklichkeit, die der Realismus, eigentlich auf Wiedererkennbarkeit eingestellt, nur unter Anstrengung inszenieren kann. 262 Erzählliteratur – Die Novelle