Manne zusammen »zu streng«. Man bemerke dabei besonders, wie betont Herodes durch den Dichter auf Kosten Mariamnes schließlich entlastet wird mit den Worten des Titus zu Mariamne: Du hast mich selbst getäuscht, du hast mich so Mit Gratin und Abscheu durch dein Fest erfüllt, Wie jet^t mit schaudernder Bewunderung. Und wenn das mir geschah, wie hätte ihm Der Schein dein Wesen nicht verdunkeln solin, Ihm, dessen Her% von Leidenschaft bewegt, So wenig, wie ein aufgewühlter Strom, Die Dinge spiegeln konnte, wie sie sind. Drum fühl ich tiefes Mitleid auch mit ihm, Und deine Rache finde ich %ii streng. Zwei große Menschen haben so die Erfüllung der Liebe in der Welt und dabei sich selbst wechselseitig vernichtet. Nach dem Ende des Dramas zu entfaltet sich keineswegs eine absolut negative Lebensansicht, vielmehr - im Gegenteil. Wie sollte überhaupt die Reinheit und Macht der Liebe widerlegt werden durch ihre Schändung, ein Wesen dadurch herabgezogen werden, daß es mißbraucht, die Gültigkeit eines Lebenssinnes gemindert dadurch, daß er mißverstanden wird, das Heiligste entthront, wenn die Menschen vor ihm versagen? Gerade dadurch, daß in einer Geschichte zwischen Herodes und Mariamne eine echte Liebe verfehlt wird, wird sie nach ihrem Wesen nur um so eindringlicher bestimmt. Im Abstand zu allen Einzelheiten stimmen wir schließlich mit Klaus Ziegler wieder darin zusammen, daß in dem Drama »Herodes und Mariamne« sich Hebbel uns dargestellt hat als ein Mensch an der Wende der Zeitalter in deutender und warnender Haltung. Hebbel steht zwischen der ausklingenden Tradition des romantischen Idealismus in seiner Liebesauffassung und einer Epoche der empiristischen, positivistisch-na-turalistischen Tendenzen. In dieser wird sich der Mensch in seinem handelnden Verhalten der Macht der Objekte unterwerfen, aber nur - um sich selbst und was ihn über die empirische, den Dingen verhaftete Zeitwirklichkeit erheben könnte, einzubüßen. Hebbel hat ein Zeitalter vorausgeahnt, in dem die Menschen sich nur noch so erfahren werden, als wären sie Dinge, über die verfügt wird, und er hat im voraus dagegen Protest erhoben: Hab Achtung vor dem Menschenbild. 1 Josef Körner, Hebbels Meisterwerk. Im Jahrbuch des Frankfurter Freien Deutschen Hochstifts, 1928. 2 Mensch und Welt in der Tragödie Friedrich Hebbels, 1938. 3 Man erinnere sich an eine Hauptszene (III, 1) in Heinrich von Kleists dramatischem Erstling, wo solche Wesenserkenntnis überwältigend durchbricht. 268 Paul Böckmann Der Naturalismus Gerhart Hauptmanns Aus dem Umgang mit der Dichtung ergibt sich eine ebenso bedeutsame wie beunruhigende Erfahrung. Alles Dichten setzt die Bewußtseinskräfte in Bewegung und führt auf die Welt des Gedankens und der empirischen Beobachtung zurück; es gerät von sich aus in die Nachbarschaft zur Wissenschaft oder zumindest der philosophischen Besinnung. Aber sobald die wissenschaftliche Erkenntnis sich mit eigener Entschiedenheit den literarisch-dichterischen Erscheinungen zuwendet, gerät sie in manche Verlegenheiten. Wo ist der eigentliche Gegenstand, mit dem sie es zu tun hat, und wie kann sie mit ihren Mitteln an die Leistung der Dichtung heranreichen? Jede Untersuchungsmethode wird erst fruchtbar, indem sie die ihr gemäßen Fakten heraussondert; aber welches sind die Fakten, die der Dichtung Bedeutung geben? Die entstehungsgeschichtliche und biographische Fragestellung kann viele Voraussetzungen und Bedingungen klären, die dem Verständnis einer Dichtung aufhelfen; aber wie weit rechtfertigt sie deren eigene Seinsweise als Kunstwerk? Das Kunstwerk und so auch die Dichtung ist auf ein Können und Machen angewiesen, dessen Bedeutung weder durch die Lebensvorgänge noch durch die gedanklichen Zusammenhänge schon einsichtig wird. Es genügt nicht, zu fragen, was hat der Dichter erlebt, was hat er gedacht, sondern wesentlicher ist die Frage: was hat er getan und gekonnt? Die Art seines Umgangs mit der Sprache, mit Gattungs-iind Darstellungsformen, mit Phantasiegestalten und Lebensgehalten erhellt erst seine dichterische Leistung. Die Dichtung beschäftigt die Imaginationskräfte, spricht durch Sinnbilder zu uns und führt damit in vorbewußte und begrifflich schwer faßbare Lebensschichten zurück. Ja, ihre geistige Aussagekraft wächst in dem Maße, wie sie eigene Auffassungsformen ausarbeitet, mit denen sich der Mensch über sein Dasein verständigt. So steht sie mit ihren Imaginations-formen in einem erregenden Widerspiel zu den Denkformen der wissenschaftlichen Erkenntnis. Und doch will dieses Widerspiel zugleich als eine tiefere Einheit begriffen werden. Je mehr das neu-•eii liehe Wissenschaftsbewußtsein auf alle Lebensgebiete übergegriffen hat, um so mehr drängt der kritische Sinn auf eine Erkenntnis iiich der künstlerischen Leistung. Umgekehrt wird die moderne Kunst nicht umhin können, ihren eigenen Anspruch gegenüber der Wissenschaft zu rechtfertigen und sich der heutigen Erkenntnissitu-iition gewachsen zu zeigen. Bewußtheit und Imagination fordern 2G9 sich gegenseitig. Die Frage, wie sie sich vereinigen können, führt mitten in die Situation der modernen Kunst hinein und gehört zu ihren Voraussetzungen und damit auch zu denen Gerhart Hauptmanns und seines Naturalismus. Es ist erstaunlich, zu sehen, in welchem Maße um 1890 in Deutschland eine Fülle von Begabungen zur Literatur drängte und mit welcher Leidenschaft damals die Diskussion über Aufgaben und Möglichkeiten des Dichtens geführt wurde. Es entstand eine Literaturbewegung, die in sich vielschichtig und widerspruchsvoll blieb, die aber doch einen neuen Aufbruch ermöglichte, von dessen Auswirkungen auch wir noch erreicht werden. Entscheidend für diesen Neubeginn war die Überzeugung, daß das der Goethezeit zugehörige literarische Verhalten nicht mehr ausreiche, um die eigenen Erfahrungen zu bewältigen, und daß die veränderte Zeit ihr eigenes Recht sich nehmen müsse, um so mehr als durch die politischen und sozialen Veränderungen nach 1870 ein wachsendes Unbehagen über die Ver-äußerlichung der Lebensformen entstand. Als 1889 in Berlin in der »Freien Bühne« Gerhart Hauptmanns erstes Drama »Vor Sonnenaufgang« aufgeführt wurde, schien damit eine neue literarische Haltung zu einem ersten beispielgebenden Werk gelangt zu sein und der »Naturalismus« zu triumphieren. Für eine frühere Generation gewann sein Dichten eine beispielhafte Bedeutung, um so mehr als sich an ihm eine neue Schauspielergeneration bildete, die der naturalistischen Milieuszene volles Leben zu geben wußte. In der Zeit nach dem ersten Weltkrieg verblaßte Hauptmanns Ruhm immer mehr, und heute mag man sich fragen, ob er nicht die Entfremdung vom eigentlichen Sprechdrama befördert und dessen innere Dialektik mehr oder minder verdeckt hat. Von einem zeitgenössischen deutschen Drama ist trotz Zuckmayer und Bert Brecht wenig genug sichtbar, weil man sich zu rasch bei dem szenischen Bilderbogen oder dem Gesinnungs- und Thesenstück beruhigt. So bleibt es für die deutsche Situation kennzeichnend, daß die Tradition des dichterischen Dramas nur von Lessing bis Hebbel zu führen scheint. In der Rückbesinnung auf Gerhart Hauptmann geht es uns deshalb um die Frage, was in seinem Zeichen mit dem Drama geschah.1 Indem wir seine Leistung weder einfach verherrlichen, noch sie nur kritisch in Frage stellen, sondern sie in ihren Möglichkeiten einzugrenzen und zu Bewußtsein zu bringen suchen, hoffen wir zur Klärung der Situation auch des gegenwärtigen deutschen Theaters beitragen zu können. Freilich, in welchem Sinne man von einem deutschen Naturalismus sprechen kann, welche literarische Bedeutung ihm zukommt und wie weit er stilbildend gewirkt hat, ist um so strittiger geblieben, als sich an diesen Fragen die Auseinandersetzungen über die moderne Literatur entzündet haben. Daß Hauptmanns Anfänge im Zeichen des Naturalismus standen, ist kein Zweifel, und so wird man von ihm aus erläutern müssen, wie diese Literaturgesinnung zur Geltung kam und welche literarische Formenwelt dadurch wirksam wurde. Seine Beurteilung hängt immer noch davon ab, wie man sein Verhältnis zum Naturalismus auffaßt. Sein umfangreiches, vielgestaltiges Lebenswerk ist nur von wenigen Grundimpulsen beherrscht. Das Drama alsMimus hat ihn besonders angezogen; in dem Gestenspiel des Lebens hat er die Ohnmacht der Sprache zu erfahren gemeint und daraus die für ihn kennzeichnenden dramatischen Wirkungen entwickelt. Er hat es verstanden, die Gebärdungen menschlichen Daseins in vielen Gestalten vorzuführen; er ist ein Meister aller mimischen Formen geblieben und hat darüber hinaus Traum und Mythos zur Geltung zu bringen gesucht. Aber dafür tritt die geistbewußte Gestaltung eigentümlich zurück und damit die Bestimmtheit des individuell geprägten Wortes. So mag es kommen, daß er in seiner Jugend mit seinen ersten Dramen das größte Echo geweckt hat und es späterhin oft bei einer verlegenen Achtung blieb. Noch bei seinem Tode, 1946, mochte man zweifeln, ob bei ihm das Dichterische in neuer Verwandlung Gestalt geworden war oder ob es mehr bei der Gebärde des Dichtertums blieb. Thomas Mann spricht in der »Entstehung des Doktor Faustus« darüber: seine Persönlichkeit habe etwas »Atrappenhaftes, bedeutsam Nichtiges« gehabt, »etwas von steckengebliebener, nicht recht fertig gewordener und ausartikulierter, maskenhafter Größe«. Er betont das Gebärdenreiche, Pantomimische seines Wesens, wie er mit Gesten und Winken sprach und sich mehr an Tonfall, Rhythmus und Sprechweise als an den Gedanken hielt. Im Zauberberg hat er ihn in der Gestalt Pepcr-korns entsprechend gezeichnet. - Ahnlich und doch viel positiver urteilt Erhart Kästner im »Zeltbuch von Tumilad«, 1949. Als früherer Privatsekretär Hauptmanns scheint er sehr in seinem Banne gestanden zu haben, ist er überzeugt von dem ungewöhnlichen Ausmaß dieser Persönlichkeit. Ihm ist »Deutschlands großer Dichter« nun gestorben, in dem ihm eine Gestalt des Sehers begegnet ist. »Sein Blick geht fernhin. Dies Auge ist für die Ferne gemacht ... Auge, das ein Leben lang den Blick der Medusa auffing. Perseus Auge! Hellblau.« Und dazu ein »Weisheitsmund, dunkler Orakelmund, aus dem Schwerdurchdringliches kommt ... Mund, der Bitteres verwandelt in Lied«. (S. 150 ff.) So gibt Kästner auch einen Hinweis auf Hauptmanns Altersvcrmächtnis, auf den »Großen Traum«, um von diesem persönlichsten Werke aus sein Dichten zu erläutern: »Es war wie der Blick in die Ur- und Traumkammer selbst, aus der alles andere entsprang. Es war ein Versuch, die Straße hinaufzugehen, auf welcher alle Erscheinungen herkamen: dorthin, wo aus der Fuge zwischen Wachsein und Schlaf Traumgewölk dringt. Diese Straße entgegenzugehen: welch ein Wagnis, welch ein Versuch! Das Gestaltlose gestalten! Formen beschwören, die noch Vorformen sind: welch ein Beginnen. Einsamer, nie betretener Weg.« Er meint: »Es ist klar, daß es nicht möglich war, all diesen Schatten die gleichmäßige Dichte zu geben: so daß alles bald stofflicher scheint . . ., als wenn ins Mahlwerk des Traumes Gröberes kommt.« (S. 150f.) Es ist mit diesen Worten vieles angedeutet, was bei Hauptmann zunächst so befremdlich wirkt: die Nachbarschaft von fast beliebiger Alltäglichkeit und gesteigerter Vision; eine Nähe zum Lebendigen, das doch in seine sorgfältig beobachteten Einzelheiten zu zerfallen droht. Ging Hauptmann wirklich jenen Weg in das Traumreich des Lebens zurück, auf dem alle Erscheinungen herkommen, so daß er deshalb bei den Vorformen verweilen mußte? Das »Traumgewölk zwischen Wachsein und Schlaf« würde dann von der Teilhabe an den Gebärdungen des Lebens zeugen, wie Nietzsche schon Traum und Rausch als die Kunstzustände der Natur, des Apollinischen und Dionysischen, erläutert hatte. Man würde weiter fragen, ob sich Hauptmann nicht so sehr den Bildern des Traumes, den Gebärden des Rausches überlassen hat, daß darüber die Selbstbehauptung in der Sprache in den Hintergrund trat und fast bedeutungslos wurde. Es kam ihm mehr auf Tonfall und Atmosphäre an, als auf die sach-haltige Aussage, so daß deshalb sein Werk schwer übersetzbar bleibt. Von der prägenden Kraft des Wortes her gesehen enttäuscht Hauptmanns Dichten, weil auch die Sprache nur noch als Gebärde, als Verdeutlichung des Traumbilds genommen wird. Aus dem Willen zur sprachlichen Form heraus entstand durch Stefan George eine Gegenposition gegen sein Dichten. Aber in dem Maße, wie es ihm gelang, durch Bild und Gebärde auf die Mächtigkeit des Lebens zu weisen, mochte er wohl den Blick der Medusa auffangen. So führt uns seine mimische Gebärdenkunst auf die Frage zurück, wie sich in ihr Kunst und Leben zu vereinen vermögen und in welcher Weise der Naturalismus zu ihrer Ausbildung beigetragen hat. Wir orientieren uns deshalb kurz über die Situation, in der dieser Naturalismus zur Wirkung kam. Zunächst sind einige Zeitschriften und Anthologien zu nennen, die eine neue Position zu gewinnen suchten: »Die kritischen Waffen-gänge« der Brüder Hart von 1882, die »Modernen Dichtercharaktere«, eine lyrische Anthologie von 1885, »Die Gesellschaft«, seit 1885 von M. G. Conrad herausgegeben, und vor allem die »Freie Bühne für modernes Leben«, die spätere »Neue Rundschau«, die seit 1890 erscheint und in der als erste Dichtung »Das Friedensfest« von Hauptmann gedruckt wurde. All diese Veröffentlichungen zeichnen sich weniger durch einen neuen Ton als durch das Suchen nach einer neuen Gesinnung aus; das Überkommene und Gewohnte findet noch seinen Platz; die geistige Entschiedenheit, wie sie in Nietzsches »Unzeitgemäßen Betrachtungen« begegnet, taucht nur gelegentlich auf und verträgt sich mit publizistischer Weitherzigkeit. In unserem Zusammenhang ist es wichtig, daß und wie die eigene Position durch die Abgrenzung gegen Zola zu bestimmen gesucht wird. Schon im *7* 2. Heft der »Kritischen Waffengänge« findet sich ein Aufsatz »Für und gegen Zola«. Sofern er entleerte literarische Konventionen beiseite schiebt, stimmt man seinem Beispiel zu, ohne deshalb seine theoretische Begründung des Naturalismus anzuerkennen. Das Schlagwort wird aus der Gegnerschaft gegen das Epigonentum verstanden, im übrigen aber der Dichter Zola gegen den Theoretiker ausgespielt; denn »der Romandichter Zola ist immerhin ein Stern, der Theoretiker höchstens ein Nebelstern«. Man ist nicht bereit, das Dichten als ein experimentelles Verfahren anzuerkennen, das mit der modernen Naturwissenschaft wetteifern kann. Damit ist ein Thema angeschlagen, das für die Erörterungen über den Naturalismus in Deutschland bestimmend bleibt. Steht seine Naturnähe mit dem Verhalten früherer Epochen grundsätzlich auf einer Stufe - die Goethe-schen Gedichte seien so naturalistisch wie die Natur selbst, heißt es -oder begreift er das Verhältnis von Natur und Kunst in neuer Weise, indem er es an dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal orientiert? Diese Problemlage findet sich in den Aufsätzen der »Gesellschaft« wieder, wenn dort im 2. Band ein Aufsatz »Naturalismus schlechtweg« sich gegen die Gleichsetzung von Naturalismus und Realismus wendet und den Naturalismus als etwas Neues bezeichnet, das vorher so wenig dagewesen sei, wie etwa die Darwinsche Abstammungslehre oder die moderne Industrie. Die Kunst wird als ein »Produkt der jeweiligen Gesellschaftszuständc« gedeutet und der Eigenwert des Naturalismus damit gerechtfertigt, daß er der modernen Bewußtseinslage den angemessenen Ausdruck gibt. Demgegenüber betont ein anderer Aufsatz von Ferdinand Avenarius, daß der Naturalismus als eine satirische Äußerungsform verstanden werden müsse und Zola Satiren zeichnet: »Er ist der vielersehnte Juvenal unserer Zeit.« - Auch die Zeitschrift »Freie Bühne« stellt sich in ihren ersten Heften unter das Schlagwort des Naturalismus, ohne ihm eine genauere Bestimmung als die der Lebensnähe und Lebenswahrheit zu geben. Man wolle dem Naturalismus Freund sein, aber sich an keine Formel binden. Immerhin betonen einige Aufsätze die engen Beziehungen zu einem naturwissenschaftlichen Determinismus. Paul Ernst z. B. sagt, den Naturalismus unterscheide die Erkenntnis, daß der Mensch das Produkt gewisser Umstände ist; und Ludwig Fulda verlangt nach einer »morallosen objektiven Kunst«, weil auch die Natur ohne Moral sei. Einzelne Kritiken gehen von der Überzeugung aus, daß die Lehre von der Vererbung und der Unfreiheit des Willens zu einem »poetischen Eigentum« der Dramatiker geworden sei und daß sowohl Ibsen wie Hauptmann sie befolgen. Dagegen wird Sudermanns >Ehre< trotz seines Realismus scharf kritisiert, weil hier »die Abhängigkeit der Moral von der sozialen Stellung« nicht sichtbar würde. Kunst und Leben sollen sich im Zeichen eines naturgesetzlichen Determinismus neu vereinigen, das ist die Erwartung, die sich vielfältig ausspricht und der Zeitschrift zunächst ihr Gepräge gibt. 699/18 275 Diese Gieichsetzung des Naturalismus mit einem allgemeinen Determinismus scheint nun in der Tat auf die Grundvoraussetzung zu verweisen, die ihn nicht nur von allem sonstigen dichterischen Realismus unterscheidet, sondern ihn auch in enge Beziehung zur Wissenschaft bringt, so wie es von Zola programmatisch gefordert wurde. Denn die experimentelle Methode des Romanciers besagt nichts anderes, als daß er seine Phantasie an eine gesetzmäßig bestimmte Erfahrungswirklichkeit bindet und die exakt beobachtende Haltung auf das seelische und geistige Leben ausdehnt; daß er die Natur so begreift, wie es die Chemie, Physiologie, Anthropologie und Soziologie nahelegen, daß er das menschliche Dasein in Analogie zu diesen Disziplinen sichtbar macht. Beobachtungen und Analysen werden damit für Zolas dichterische Verfahrensweise leitend; es gilt, die menschlichen Vorgänge so zu fassen, daß die Ursachen und Bedingungen erkennbar werden, durch die sie entstehen. Es kommt nicht auf ihren Sinn an, sondern nur auf ihr gesetzlich bestimmtes Dasein. »II y a un determinisme absolu dans les conditions d'existence des phénoměnes naturels.« Der Naturalismus unterscheidet sich demnach vom gewohnten Realismus erst dadurch, daß er die Natur als einen sachlich beobachtbaren, kausal determinierten Zusammenhang versteht, durch den das Handeln des Menschen die Eindeutigkeit des Experiments erhält. Die Natur erscheint nicht nur als die dem Menschen vorgegebene und ihn umfassende Macht, die er als seinen Erlebnis- und Erfahrungszusarnmenharig auffaßt und deutet, sondern als die Gesetzlichkeit, nach der auch sein Erleben und Erfahren abläuft. Das geistig-seelische Verhalten soll auf seine beobachtbaren Naturbedingungen zurückgerechnet werden. Die Versachlichung des Menschen im Zeichen des Determinismus ist das eigentliche Phänomen, um das es geht. Die Literatur scheint damit zu einer unerbittlichen Objektivität genötigt: es gibt keine der Poesie vorbehaltenen Provinzen des Erhabenen oder Phantastischen, der Grazie oder des Spiels, sondern nur eine Haltung des Beobachtens und Aufzeichnens aller menschlichen Zustände. Vererbung und Milieu scheinen die einfachste Handhabe zu bieten, um den durchgängigen Determinismus sichtbar zu machen. Die alte Forderung an die Kunst, die Natur nachzuahmen, ist damit eigentümlich radikalisiert, aber zugleich auch die Frage dringlich geworden, wie sich die Kunst noch als Kunst behaupten kann. Auch Nietzsche hatte die Frage gestellt, wie die Kunst unter der »Optik des Lebens« begriffen werden kann; er hatte sie als Traum und Bild nur noch dadurch gerechtfertigt, daß sich im Menschen das Leben selber will. Aber kann sich die Dichtung mit der Versachlichung des Menschen begnügen oder muß sie nicht über das Zeigen und Hinweisen hinausführen, und sei es auch nur, um den Sinn dieses Zeigens einsichtig zu machen? Das Verlangen nach einer naturalistischen Dichtung bleibt in sich vieldeutig. Wenn sie durch ihre Analysen den 274 überlieferten Anspruch auf ein eigendich Menschliches bloßstellt, wird sie zur entlarvenden Satire. Oder aber sie weist auf die ursprüngliche Mächtigkeit des Lebens, der Natur, zurück und gibt damit dem Mitleiden einen universalen Sinn. Oder das Aufzeigen schlägt in die Erwartung um, das Geschehen vorausberechnen und aktivistisch lenken zu können, so daß die Literatur als Anklage oder Utopie zur revolutionären Aktion drängt. Oder die Versachlichung löst die Gegenfrage aus, ob sie dem Menschen überhaupt möglich ist und nicht vielmehr ihre eigene Voraussetzung mißachtet: wo alles determiniert ist, muß es auch noch die Überzeugung von der Determination sein, so daß sie nur in einen logischen Zirkel und nicht zu einer letzten Wahrheit führt. Sie kann dann den Subjektivismus nur steigern. Die scheinbar so eindeutige Auskunft, daß die moderne Kunst sich an einen naturwissenschaftlich verstandenen Determinismus binden soll, erweist sich als ein sehr vieldeutiges Prinzip. Die Erwartung, daß die Literatur weder an der durch die Wissenschaften bestimmten Erkenntnissituation noch an den sozialen Veränderungen vorbeigehen darf, sagt noch sehr wenig darüber aus, in welcher Weise die Dichtung dadurch neue Darstellungsmöglichkeiten gewinnt und wie sie ihrem eigenen Verfahren Bedeutung gibt. So hilft uns die allgemeine Erörterung über den naturalistischen Determinismus nur wenig, um die dichterische Leistung Gerhart I lauptmanns näher zu bestimmen; gewiß tritt in seinen frühen Dramen dieser Determinismus in Motivwahl und Handlungsführung sehr deutlich hervor, ohne daß damit aber ihre künstlerische Eigen- Iiümlichkeit faßbar und ihr Verhältnis zu den späteren Werken versländlich würde. Näher an Hauptmanns Dichten kommen wir erst heran, wenn wir beachten, wie Arno Holz in der Auseinandersetzung mit Zola eine darstellerische Konsequenz aus dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisprinzip entwickelt und den natürlichen Rhythmus der Sptechsprache nachzuahmen sucht. Die große Wirkung von Holz auf Technik und Darstellungsweise der naturalistischen Dichter ist unverkennbar, wie auch Hauptmann gesteht, durch ihn gefördert wurden zu sein, und ihm sein erstes Drama »Vor Sonnenaufgang« widmet. Wenn Holz sich an der alltäglich gesprochenen Sprache als »der Sprache des Lebens« orientiert und sie möglichst getreu wiederzugeben sucht, so steht dahinter die Überzeugung, daß alle Kunst die Natur entsprechend ihren besonderen Mitteln nachzuahmen sucht md das Mittel der Dichtung die Sprache ist. Aber diese Sprache versteht nun Holz nicht von der geistigen Leistung des Dichters her, der in der Sprache sich des Daseins bemächtigt, sondern sie wird als beobachtbares Naturphänomen verstanden, das der Dramatiker reproduzieren kann. Rhythmus, Tonfall und Redeweise werden als 11:11 ürliche Gebärdungen des Lebens in der Sprache, als Sprachgesten, verstanden, so daß der dramatische Dialog nur die Sprachgebärden vorzuführen braucht, um die Wiedergabe der Natur zu erreichen. Der Dialog lebt nicht mehr primär von geistigen oder sachlichen Auseinandersetzungen, sondern gibt die Sprachgebärden eines bestimmten Menschen oder eines sozialen Zustands wieder und hat damit nur noch als Sprachmimus Bedeutung. Die szenische Darstellung soll das Reden der Menschen so reproduzieren, daß man »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« hineinsehen kann. Der dramatische Dialog verliert sein Eigenrecht, da es nicht mehr darum geht, wie sich im Sprechen das Schicksal verbirgt oder vollzieht; aber zugleich erhält er als Mittel der Lebensnähe und Lebensechtheit größte Bedeutung, sofern sich in ihm ein Stück Leben gebärdenhaft darstellt. »Die möglichst intensive Wiedergabe des Menschen« ist das Ziel, das durch die mimische Reproduktion der »Sprache des Lebens« erreicht werden soll; die Sprachgebärde verweist von sich aus auf das besondere Milieu, aus dem die Redenden stammen. Das Milieu ist zuerst und vor allem anderen Sprachmilieu. Šo rechtfertigt Holz das Drama als einen sprachlichen Mimus, der milieuechte Menschen in ihren Redesituationenvorführt. Er kommt zu dieser Forderung, weil er sie als Konsequenz aus dem naturalistischen Determinismus versteht; die auf die Naturnachahmung verwiesene Kunst sieht sich an die Naturgesetze gebunden, so daß sie auf alle Erfindungsfreiheit verzichten muß und durch empirische Beobachtung des Mittels der Sprache die Nachahmung erreichen kann, ohne »der Erkenntnis von der durchgängigen Gesetzmäßigkeit alles Geschehens« untreu zu werden. Man mag fragen, ob die »Mimik der Rede« von sich aus einen neuen literarischen Stil begründen kann oder nur ein einzelnes Stilelement darstellt. Aber sofern Holz der Sprachgebärdung eine so entscheidende Rolle nur zuweist, um die Dichtung mit dem naturgesetzlich bestimmten und beobachtbaren Leben in Übereinstimmung zu bringen, gibt er doch mehr als eine technische Anweisung. Indem er sich an die »Intimität des Sprechtons« hält, versteht er letztlich alle Kunst als Nachahmung und Darstellung der Lebensgebärdung. Er verzichtet in seinen szenischen Versuchen auf alle geistbestimmten Formen und damit auch auf eine sprachlich selbständige Bewältigung der Lebenserfahrungen durch den Dichter; er kennt nur die eine Forderung der mimischen Wiedergabe der Redesituationen, um die milieubedingte Wirklichkeit in dramatischen Szenen vorzuführen, in einer »Unmittelbarkeit« und »Treffsicherheit«, von der wir heute noch nicht einmal eine entfernte Vorstellung besitzen, wie er sagt. Er versteht die Dichtung als eine Gebärdenkunst, die die Gebärdungen des Lebens sprachlich nachspielt. Erst dadurch ist dem naturalistischen Determinismus ein eigenes Darstellungsprinzip zugeordnet. Wenn es schließlich doch G. Hauptmann und nicht Arno Holz ist, der aus diesem Prinzip eine neue Dramenform entwickelt und die 2?6 Früchte dieses Verfahrens erntet, so liegt das daran, daß erst Hauptmann von der szenischen Sprachmimik zur dramatischen Gebärdung des Lebens weiterzuführen vermag. Holz kann später nur noch grollend feststellen, daß sein Verdienst verkannt wurde, und darauf beharren, daß der Schöpfer dieser neuen Sprache nicht Hauptmann hieß, daß ihre Herausarbeitung Jahre bedurft hatte und daß diese Arbeit »von mir mit Johannes Schlaf geleistet wurde«. Man begreift den Sinn dieser Auseinandersetzungen erst, wenn man sich an der Grundfrage orientiert, wie trotz der kausalgesetzlichen Determination des menschlichen Daseins eine dichterische Praxis noch zur Geltung kommen kann. In der Tat sah sich Hauptmann seit der Begegnung mit Arno Holz auf den Weg gewiesen, der offenbar seiner eigensten Begabung entsprach; die Ausbildung einer szenisch-mimischen Gebärdenkunst, die auf die Gebärdungen des Lebens verweist, hält sein Werk trotz wechselnder Formen zusammen. Im Unterschied zu Arno Holz lag Hauptmann die theoretische Reflexion recht fern. Ihm entsprach das intuitive künstlerische Machen, das aber in einer so durchreflektierten Zeit wie der Moderne rasch an seine Grenzen kommt, wenn es-sich nicht von allgemeineren Erwartungen der Zeit und Umwelt mitgetragen weiß. Hauptmann erzählt in seinen Lebenserinnerungen »Das Abenteuer meiner Jugend«, daß er das Gefühl der Vereinsamung und Unsicherheit erst überwand, als er merkte, daß neben ihm ähnliche Naturen sich mannigfach regten. Er kam mit den »Modernen Dichtercharakteren«, mit den Brüdern Hart, Arno Holz und dem Berliner Natura-lismus in Berührung und fand im Austausch mit ihnen eine dramatische Form für seine naturalistischen Themen und Gehalte. Der erste noch vor diesen Begegnungen entstandene dichterische Versuch, »Das Promethidenlos« von 1885, wirkt dichterisch ohnmächtig; die soziale Anklage äußert sich in einer hilflosen Rhetorik und in wolkig-diffusen Bildern; die eigenen Erwartungen werden mit geräuschvoll-formelhaftem Pathos vorgetragen; es fehlt jede sprachliche Griffsicherheit, so daß die Verse einem leeren Schwulst verlallen, der bis zu sprachlicher Verwahrlosung führt; es begegnen mannigfach Bilder und Vergleiche, in denen die Rede aus den Fugen gerät, etwa wenn es heißt: »Die Dichter sind die Tränen der Geschichte, / die heiße Zeiten mit Begierde schlürfen«, ein doch wohl kaum vollziehbares Bild. (Das gesammelte Werk Bd. i, S.71.) Es u;ibt zu denken, daß zu Hauptmanns Anfängen ein solches Scheitern an der Sprache gehört und die persönliche Selbstvergewisserung in einer eigen geprägten Sprachform mißlingt. Ist es ein Zeichen dafür, daß die überkommene, erlebnisgebundene Ausdruckskraft der Sprache ihre Tragfähigkeit verloren hat, oder gehört es zu den Grenzen der Hauptmannschen Begabung, daß ihm die eigentliche Prägekraft des Wortes fehlt, die z. B. bei dem jungen Hofmannsthal in so erstaun-I ichem Maße vorhanden ist und durch George zu neuer Geltung kam ? Für Hauptmann ist es jedenfalls bezeichnend, daß er erst in dem Augenblick über seine eigensten Möglichkeiten zu verfügen beginnt, als er sich der naturalistischen Technik überläßt und in der Wiedergabe des Sprechtons eine neue Aufgabe findet. Die ihm eigene mimische Begabung ermöglicht es ihm, den Sprachmimus zu einer eigenständigen Kunstform zu steigern, die sich von der sprachprägenden Kraft des Dichterwortes eigentümlich ablöst und sich auch in den späteren Werken kaum wieder mit ihr vereint. Noch vor der Begegnung mit Arno Holz entstand im Frühjahr 1887 eine novellistische Studie »Bahnwärter Thiel«, die 1888 in der >Gesellschaft< veröffentlicht wurde und schon den naturalistischen Beobachtungsstil in der Schilderung der sozialen Verhältnisse und Bedingnisse zur Geltung bringt. Im Unterschied zum Promethiden-los herrscht eine berichtende Sachprosa vor, die noch mancherlei konventionelle Mittel benutzt, aber doch ein festes Ziel verfolgt. Im Sinne der naturalistischen Motivation der menschlichen Handlungen aus Triebgebundenheit und Milieubestimmtheit wird ein novellistisches Ereignis und menschliches Schicksal erklärt. Man durchschaut den Aufbau der Erzählung erst vom Ende her, wo deutlich wird, wie alles Erzählte nur den Determinationszusammenhang vorführt, durch den sich die Schlußkatastrophe ergibt. Der kleine Junge des Bahnwärters aus seiner ersten Ehe wird am Streckenhäuschen vom Schnellzug überfahren; der Vater ermordet daraufhin seine zweite Frau und deren Säugling und wird selber als Irrsinniger in die Charite gebracht. Diese Schrecknisse sollen erklärbar werden, und so werden uns die Menschen in ihrer dumpfen Sinnlichkeit und Hilflosigkeit geschildert, die äußeren Umstände und inneren Zustände verdeutlicht, die die Ereignisse bedingen. Es fällt kaum ein direkt erläuterndes oder ausdeutendes Wort; kein tieferer Sinnbezug wird sichtbar, sondern nur ein Geschehen in seine realen Zusammenhänge eingelagert. So verharrt der Erzähler in der Haltung des objektiven Beobachters, der immer das Besondere mit dem Alltäglichen zusammensieht, der nur feststellt, wie aus kleinen Vorfällen und scheinbaren Belanglosigkeiten ein »Unglück« heranwächst. Noch die eigentliche Katastrophe wird nur beobachtend wiedergegeben und nichts direkTbezeichnet; wir sehen und hören nur soviel, wie die Beteiligten selbst und wissen sowenig wie sie; wir sehen mit dem Boten den verstörten Bahnwärter und erfahren gleichgültige Nebenumstände, wie etwa, daß ihm die Mütze schief sitzt, und beobachten dadurch doch die Zeichen der Erregung, die das weitere Geschehen bewirkt. Hauptmann beobachtet seine Figuren und kann nur erzählen, wie sie selbst beobachten und das Beobachtete auffassen. Das Leben, die Natur zeigt sich in Einzelheiten," Kleinigkeiten, die untereinander zusammenhängen und ein Gewebe bilden, das durch das Erzählen übersehbar wird, als ein Geschehen, an das keine Deutung heran- 278 reicht. Damit ist das Besondere und Neue dieser Erzählweise erkennbar: die Beobachtung versachlicht die Vorgänge; aber sie macht auch die erregende Bedeutung dieser beobachtenden Teilhabe an allem Geschehen fühlbar. Das sich zeigende Leben wird in allen noch so fragwürdigen Gestalten beachtenswert und auffaßbar. Aber zugleich ist auffällig, daß die inneren Zustände nicht allein durch die Beachtung äußerer Zeichen verständlich werden, daß die dumpfe Gespanntheit und sinnliche Hörigkeit des Mannes einer besonderen Verdeutlichung bedarf. Die Erzählung bedient sich des Traumes, um das aus dem Innern aufbrechende Geschehen zu erläutern, und weist damit auf psychologisch hintergründigere Vorgänge. So bleibt offen, ob die Darstellung nicht noch eine größere Entschiedenheit und Eindringlichkeit gewinnen kann. In dieser Situation werden die Versuche von Holz und Schlaf für Hauptmann von entscheidender Bedeutung. Sie hatten in »Papa Hamlet« und der »Familie Selicke« Redeszenen vorgeführt, in denen die Sprachgebärden der milieugebundenen Figuren sich aneinander steigern und in Geschimpf, Geschrei und Tätlichkeiten enden. Hauptmann sucht nun in seinen ersten Dramen diese sprachmimische Darstellungsform mit der in der Erzählung gewonnenen Bauform zu vereinen. Die Entfaltung des auf eine Katastrophe hinführenden Determinationszusammenhangs ließ sich als Kompositionsprinzip auf das Drama übertragen und durch die Wiedergabe der Redeszenen dramatisch intensivieren. Wie in der Erzählung enthüllt sich das Baugesetz der Dramen erst vom Ende her; die Katastrophe muß durch die vorangehenden Szenen und Akte in ihren Bedingungen übersehbar werden; die den Menschen bestimmenden Situationen machen sein Leben ausweglos und vernichten ihn: Helene Krause in »Vor Sonnenaufgang«, Dr. Scholz im »Friedensfest« und Johannes Vockerat in »Einsame Menschen« werden durch die Verhältnisse in den Tod getrieben. Es ist fraglich, ob man bei diesen Katastrophen von einer tragischen Wirkung sprechen kann oder nicht vielmehr das lastende Gefühl der Determiniertheit erfährt. Wohl begehrt der Mensch auf, aber für eigentliche Konflikte und Entscheidungen ist kein Raum, und so verliert der traditionelle Dramenaufbau mit Spiel und Gegenspiel, erregendem Moment und Peripetie weitgehend seine Bedeutung. Alles Gewicht fällt auf die prägnanten Szenen, die die Bedingungen, unter denen die Figuren und Situationen stehen, sichtbar machen. Im Unterschied zu Arno Holz bleibt Hauptmann auf den die Katastrophe bewirkenden Vorgang gerichtet; aber ihre Eindringlichkeit und Lebensnähe gewinnen die Szenen erst durch die Sprachgebärdung. Das Drama wird zum Sprachmimus und kann nur noch durch die Anordnung und Dynamik der Szenen die innere Konsequenz des Lebensgeschehens greifbar machen. Nur noch in der Art, wie der Dichter die Szenen und Figuren auswählt und zusammenordnet, kann sein Bauwille *79 wirksam werden. Seine Kunst besteht darin, die mimischen Gebärdungen der einzelnen Szenen so aufeinander zu beziehen, daß dadurch eine Katastrophe als notwendiges Ergebnis einer Lebenssituation erscheint und wir in ein Stück. Leben hineinzuschauen meinen. Je lebendiger die Einzelszene wirkt, um so selbstverständlicher nimmt uns der Determinationszusammenhang gefangen. Ohne daß Hauptmann das Recht und die Bedeutung des Determinismus verkünden wollte, spricht er doch durch die Art seiner Darstellung als Determinist. Sein Drama überläßt sich ganz der Kunst der Gebärdung, weil er nichts kennt als das naturhaft gebundene Leben. Freilich kommt dadurch zugleich ein sozialkritischer Unterton zur Geltung. Gibt es nicht ein besseres, schöneres, reineres Leben ?, diese Frage schwingt mit und weckt die Teilnahme. Die bürgerliche Selbstzufriedenheit mit den gegebenen Zuständen wird erschüttert; die Konventionen der Gesellschaft entlarven sich als nichtig. Die Sprengwirkung solcher Analysen wird um so größer, je näher sie an konkrete Situationen der eigenen Zeit heranführen. Die objektivierende Darstellung scheint immer bereit, in die Gesellschaftssatire umzuschlagen. So zeigt dieser Naturalismus ein eigentümliches Doppclgesicht. Einerseits treibt er den Determinismus auf die Spitze und endet im Pessimismus eines unausweichlichen Geschehens, andererseits befördert er eine satirisch-kritische Haltung. Aber von sich aus kann er keine überwindenden Kräfte befreien; die Frage nach dem eigentlich Menschlichen bleibt offen; er rechtfertigt auch nicht die politische Aktion, sondern begnügt sich mit der mimischen Vergegenwärtigung fragwürdiger Lebenszustände. Er wirkt darum oft so grau und trotz aller Lebensnähe so ohnmächtig. Frühere Naturalismen - die Drastik des Spätmittelalters, die Macht der Fortuna bei Grimmelshausen, die Gesellschaftskritik des Sturm und Drang - blieben einer christlichen Glaubensordnung oder einem idealistischen Pathos zugeordnet; dafür ist im Zeichen des Determinismus kein Raum, und so bleibt Hauptmann in seinem naturalistischen Grundansatz eigentümlich gefangen; er kann nur die Gebärdungen des Lebens nachspielen und dadurch die sozialkritische Stimmung beleben. Darstellerische Lebendigkeit gewinnt diese lastende Welt menschlicher Ohnmacht und Trieb verfallenheit erst durch die szenische Vergegenwärtigung. Alle Mittel der sprachmimischen Wiedergabe müssen helfen, den Eindruck der Wirklichkeitsnähe und Lebensechtheit zu steigern. Wir stehen unter dem Eindruck: solche Situationen mag es geben, so reden die Menschen, solche Gebärden gehören zu ihnen. Das Drama rechtfertigt sich durch seine Gebärdenkunst, und der Text gibt dem Schauspieler mannigfache Anweisungen, sich in bestimmte Typen zu verwandeln und ihr Gerede lebendig zu füllen. Der Wortschatz, der Tonfall, die lautliche Artikulation sind Mittel einer Charakteristik, die menschliche Ver- haltungsweisen vorführt. Je mehr der Dialekt in die Rede eindringt, je mehr die Sprache zur bloßen Affektäußerung wird, um so mehr kann sie als Gebärde aufgefaßt werden; sie geht selbständig in Gesten über, die in Szenenanweisungen ausführlich erläutert werden und den Dialog illustrieren. So gelingt die mimische Verlebendigung der Rede; aber sie wird gewonnen auf Kosten der sonst vorausgesetzten Sprachleistung, der geistigen Selbstvergewisserung im Wort. Alles Reden bleibt hier letztlich ohnmächtig gegenüber der Macht des Milieus; je mehr die Sprache zur Gebärde wird, um so weniger behauptet sie sich als Wort, als wären die Menschen die Komödianten eines anonymen Lebens, das sich in ihnen gebärdet. Das große Sprechdrama hat seit der Antike immer wieder das Wort selbst zur bewegenden Kraft des dramatischen Vorgangs gemacht. Die Täuschung durch das Wort, die tragische Gewalt des Schweigens und Verschweigens führte zur dramatischen Aktion, in der der Mensch seine Situation verkennt oder das Verschwiegene ins Wort holt. Bei Hauptmann scheint die Ohnmacht der Sprache immer schon vorausgegeben zu sein. Man kann sich mit ihrer Hilfe wohl über das Faktische, die täglichen Bedürfnisse verständigen; aber sobald der Mensch darüber hinaus sich mitteilen will, hört eine eigentliche Verständigung auf; es bleibt bei subjektiven Gebärdungen, da das tiefere Lebensgeschehen seinen eigenen Bedingungen folgt. Der Mensch muß die in ihm wirkenden Lebensgesetze vollziehen und verfügt deshalb nur in sehr begrenzter Weise über Sprache; er gerät an die Grenze des Verstehens und verliert sich im Gerede, das zur Entladung der Affekte weiterdrängt. Der Affektausbruch ist das deutlichste Zeichen dafür, daß die Sprache an ihre Grenze gekommen ist und nichts mehr zu klären vermag. Als Gebärde des Affekts gibt die Sprache nur noch ihre Ohnmacht zu erkennen. Aber man darf diese Ohnmacht der Sprache bei Hauptmann nicht als ein Versagen der dramatischen Darstcllungskraft mißverstehen, sondern muß sie als die bewegende Erfahrung gelten lassen, die dem Hauptmann-schen Werk erst seine eigene Bedeutung und auch Größe gibt. So sehr er in ein Zwielicht zu geraten droht, indem er der geistigen I'ührungskraft des Wortes mißtraut, es gelingt ihm dadurch zugleich, die menschlichen Katastrophen auf ein vorsprachliches Geschehen zurückzubeziehen. Ihre Eindringlichkeit gewinnt diese Dramatik gerade dadurch, daß sie sich an der Ohnmacht der Sprache erprobt und der Wiedergabe der Sprechsprache einen besonderen Sinn gibt. Die naturalistische Milieugebundenheit wird dadurch dichterisch bedeutsam, daß.die mimische Gebärdenkunst an dieses Zerbrechen der Sprache als Bedingung des menschlichen Schicksals heranführt. So sind die für Hauptmann kennzeichnenden Szenen wohl diejenigen, in denen die Rede in-den Affektausbruch umschlägt. Das erste Drama »Vor Sonnenaufgang« beginnt gleich mit einer solchen in die Sprachlosigkeit übergehenden Affektgebärde. Der Sozialreformer Alfred Loth will sich von der Magd bei dem Ingenieur melden lassen; aber bevor es dazu kommt, schreit schon Frau Krause dazwischen, die ihn für einen Bettler hält: »naus, mir Jahn nischt!« Sie steigert sich in ihre ordinäre Wut hinein und macht dann nur noch ein sehr erstauntes Gesicht, als ihr Schwiegersohn in dem Ankömmling einen Jugendfreund begrüßt. Gewiß ist hier der Affektausbruch mit seiner vehementen Sprachmimik vor allem als Charakterisierungsmittel benutzt und gibt uns sogleich ein Bild der spannungsreichen Situation. Aber es ist doch ebenso bezeichnend, daß die persönliche Sprachgebärdung durch den Affekt sofort an die Grenze der Sprachfähigkeit führt und in die pantomimische Darstellung übergeht. Besonders der Anfang des 2. Aktes ist fast nichts als eine breit ausgeführte Pantomime der menschlichen Triebgebundenheit mit einigen untermalenden Lauten und Worten. Am beginnenden Morgen huschen die verschiedensten Gestalten über die Bühne: der alte Tagelöhner beginnt seine Arbeit, während der Bauer Krause betrunken aus dem Wirtshaus kommt und gegen seine Tochter zudringlich wird, als sie ihn beruhigen will. Dann schleicht deren Verlobter aus dem Maus, der die Nacht bei Frau Krause verbracht hat und nun dem Knecht einen Taler Schweigegeld gibt, bevor der ahnungslose Loth erscheint, um den Morgen zu genießen. Es ist ein gespenstisches Treiben, das nur durch knappste Wortgebärden erläutert wird. Aber auch die durchgeführten Dialoge führen immer wieder an den Punkt, wo die Sprache ohnmächtig wird. Das Gerede endigt im Affekt des Schimpfens und Schreiens, des Weinens oder des Lachens und beweist damit seine Ohnmacht, irgend etwas zu klären; es begleitet nur als Gebärde die Lebenssituationen, die durch elementarere Gewalten bestimmt werden. In dem zweiten Drama, dem »Friedensfest«, ist die Intimität der Gebärdung fühlbar gewachsen, indem nun die Ohnmacht der Worte ausdrücklicher umspielt wird und die große pantomimische Szene in den Mittelpunkt rückt. Es fehlt das outrierte soziale Milieu des verkommenen Bauern; statt dessen sehen wir uns in eine Bürgerfamilie geführt, in der eine »Atmosphäre von Unzufriedenheit, Mißbehagen und Trostlosigkeit« herrscht und jeder Versuch, ein tieferes Gefühl der Gemeinsamkeit zu beleben, rasch wieder erstickt wird. Eltern und Kinder stehen sich voll gereizter Nervosität gegenüber; man ist sich gegenseitig zur Qual geworden. Die Ohnmacht der Sprache erweist sich an der Unmöglichkeit, sich zu verständigen, so daß es gelegentlich heißt: »Das ist ja die alte Leier. . .: ich versteh dich nicht... du verstehst mich nicht.« Wohl scheint es einen Augenblick, als wollten sich alle Verkrampfungen lösen; aber dann schlägt die Sprache doch wieder in den Affektausbruch um. Nur so- lange man auf die Sprache verzichtet, scheint eine Annäherung möglich; die Hilflosigkeit der Worte läßt erkennen, wie wenig die Menschen durchschauen, was mit ihnen geschieht. Als Vater und Sohn sich nach Jahren zum ersten Mal wieder begegnen, begleiten die Worte nur die gebärdenhaften Vorgänge: »Wilhelm will reden, es kommt nur zu lautlosen Bewegungen der Lippen; er will aufs neue reden, vermag es aber nicht . . . und bricht zu des Alten Füßen nieder.« Schließlich findet er die Worte, die um Vergebung bitten, aber dann verläßt ihn das Bewußtsein. In dem Bemühen um den Ohnmächtigen, in der Bestürzung und Sorge, findet sich die Familie jenseits der Worte zusammen; die stumme Szene weist auf ein Tieferes, Eigentliches, das die Worte nur zerstören, während Blick und Geste es bestätigen. »Doktor Scholz macht eine Gebärde, die etwa ausdrückt: ich will nichts verreden, ich kann mich vielleicht täuschen.« Aber als dann diese Gemeinsamkeit sich bewähren soll, zerbricht sie an verletzenden Worten; das Reden endet von neuem im Affektausbruch. In dem Hin und Her von stummer Szene, hilflosem Reden und gesteigerten Affektäußerungen entfaltet sich die tiefere dramatische Spannung. So erkennt man die Bedeutung des Hauptmannschcn Dramas nicht schon an den sozialen Themen und milieugebundenen Figuren, sondern erst an dieser eigentümlichen Sprachbehandlung, die alles Reden zur Geste macht und es in die mimische Bewegung Ii ineinholt. Der Umschlag von der Gesprächsszene in die Gebärdung des Affekts läßt am deutlichsten erkennen, in welchem Sinn der naturalistische Determinismus für Hauptmann darstellerisch fruchtbar wird. Die Ohnmacht der Sprache gegenüber den elementaren I .cbensgewalten, der Triebgebundenheit, wird in eine produktive Möglichkeit des Dichtens verwandelt. Es geht nicht um bestimmte Thesen, um eine naturalistische Erklärung der menschlichen Zu-iiände, sondern um eine dramatische Gebärdenkunst, die auf die ( Ihnmacht der Sprache als eine Grenze des Menschlichen zurückweist und zugleich die Macht der Affekte bezeugt, die den Menschen in die Katastrophe reißen. Man mag sich fragen, ob gegenüber dieser Spiachbehandlung die traditionellen dramaturgischen Begriffe noch ausreichen. Es genügt in dieser Dramatik, daß alle Versuche der Menschen, sich zu verständigen, nur wieder an den Punkt führen, wo sie sich nicht mehr verstehen, wo sie auf die Sprache verzichten, sich in ihre Affekte verschließen und die Bedingtheiten ihres Lebens übermächtig werden lassen. Es gehört wohl zum Leben der Dich-lung, daß sie sich im Wandel der Stile oft auf ungewohnte, befremdende Weise wiederherstellt, die Traditionen hinter sich läßt und bisher ungenutzte Möglichkeiten ergreift. Indem Hauptmann aus der Ohnmacht der Sprache eine Gebärdenkunst entwickelt, findet er einen solchen überraschenden Weg. Er bringt die vorsprachliche < lebärdung zur Geltung und verweist damit auf die Eigenmacht eines Lebensgeschehens, dem der Mensch ausgeliefert scheint. 1B3 Daß hier etwas Neues begegnet, kann ein Vergleich mit Shakespeares Othello verdeutlichen. Man könnte meinen, daß Shakespeares Individualisierungs- und Charakterisicrungskunst auch von der Gebärdung der Leidenschaften bestimmt sei, daß z. B. Othello nur die Raserei der Eifersucht gebärdenhaft vorführt. Und doch wird diese Eifersucht ganz anders in Gang gesetzt, als es bei der Affektgebundenheit der Hauptmannschen Figuren möglich ist. Die Art, wie bei Shakespeare die Dramatik der Sprache zur Darstellung kommt, weist in eine andere Richtung. Bei ihm erregt die Sprache von sich aus einen verhängnisvollen Schein, weil ihr die Verschwiegenheit zugehört; sie kann den Menschen in die Irre führen, so daß die Eifersucht Othellos auf falschen Voraussetzungen beruht. Hier geht es nicht um die Ohnmacht der Sprache, sondern umgekehrt um ihre Macht, die sich daran erweist, daß sie benutzt werden kann, um in die Irre zu führen und einen Schein zu erregen. Jago fühlt sich von Othello übergangen und zurückgesetzt, haßt ihn deshalb und möchte sich an ihm rächen. Er will die Liebe des Mohren zu Desdemona vergiften, und dazu verhilft ihm das klug gesetzte Wort, das mit Andeutungen einen Argwohn weckt, der doch grundlos ist. Je mehr Jago seine Worte zurückhält, weniger zu sagen scheint, als er weiß, um so mehr ist Othello bereit, ihm zu glauben, um so mehr hält er Desdemona der Untreue für fähig. Jago weiß das Spiel von Reden und Schweigen, von Verhüllen und Entdecken meisterlich zu handhaben, um seinen Herrn mit Worten zu täuschen. Das andeutende Wort wird zu dem Gifttcopfen, der das Blut in Wallung setzt und die Leidenschaft hervorruft. Nicht Fakten und Situationen, die das Wort ohnmächtig machen, treiben in die Vernichtung, sondern umgekehrt das listig gehandhabte Wort, das ein Faktum vortäuscht. Vor allem in III 3 setzt das Wort Jagos die Tragik in Gang; er hütet sich vor jeder direkten Anschuldigung, gewinnt dadurch Othellos Vertrauen und treibt ihn zugleich nur immer tiefer in den eifersüchtigen Argwohn hinein. Sein Wort wird zum Angelhaken, an dem sich Othello festbeißt. Seine Andeutungen scheinen ein Verschwiegenes zu verbergen, in das Othello eindringen möchte, obgleich es nur aus einem Schein besteht. So sagt er denn: »Nein, da steckt mehr dahinter. / Sprich bitte so, wie du gesonnen bist . . . und gib dem schlimmsten Sinn das schlimmste Wort!« (Speak to me, as to thy thinkings . . . and give thy worst of thoughts / The worst of words.) Weil Gedanke und Wort auseinandertreten können und ihr Verhältnis nicht ohne weiteres einsichtig ist, kann das Wort einen Schein erregen, beweist dieser Schein die verhängnisvolle Macht des Wortes, ruft es die tragische Verkennung hervor. Hier ist das Wort in seiner geistbestimmten Macht gegenwärtig und damit der Mensch als Charakter erkennbar. Die Leidenschaften kommen erst dadurch zur dramatischen Wirkung, daß sie durch das Wort entfacht werden. Diese geistig tätige Macht der Sprache, die seit Lessing auch im deutschen Drama wirksam wird, fehlt bei Hauptmann, und darum sehen sich die vom klassischen Drama genährten Erwartungen bei ihm enttäuscht. Josef Hofmiller kommt deshalb in seinen Essays über Hauptmann nur zu scharfer Ablehnung. Er spricht von einer »Serie kinematographischer Bilder« und meint: »Aneinanderreihen von Szenen, seien sie noch so fein und genau beobachtet, gibt nie ein Drama . . . Tragische Menschen sind wollende Menschen, kämpfende Menschen, keine deterministischen Marionetten.« Diese etwas schulmeisterlich klingenden Urteile wird man nur entkräften können, wenn man beachtet, wie das Umschlagen der Rede in die Gebärdung des Affekts die Hauptmannsche Dramenform bestimmt und die Ohnmacht der Sprache als eine dem Menschen zugehörige Erfahrung dichterisch produktiv wird. Aber man wird auch dann noch feststellen müssen, daß diese Ohnmacht nicht mit der Macht der Sprache in ein Wechselspiel kommt und deshalb auch die tragische Verkennung nur auf die Grenzen des sprachlichen Sich-Verständigens zurückführt. So ist es kaum angebracht, die Hauptmannsche Gebärdenkunst in die Nachbarschaft des Shakespeareschen Dramas zu rücken, da sie einem ganz anderen Formgesetz folgt, das eher noch in die Nähe des Films führt und dessen künstlerische Möglichkeiten vorwegnimmt.2 Hauptmanns Naturalismus gewinnt in dem Maße eigenes Gewicht, wie er die Ohnmacht der Sprache dramatisch fruchtbar macht. Die in den ersten Dramen gewonnenen Möglichkeiten bestimmen eine große Reihe auch der folgenden Werke; die mimischen Formen werden weiter entwickelt, auf andere Lebenskreise und Situationen übertragen; aber die Grundlagen bleiben die gleichen. »Das Friedensfest« von 1890 nennt sich eine »Familienkatastrophe«; aber auch die »Einsamen Menschen« von 1891, den »Michael Kramer« von 1900 und noch »Vor Sonnenuntergang« von 1952 könnte man so nennen. Man könnte sie aber auch »Soziale Dramen« nennen, wie »Vor Sonnenaufgang« hieß und wie sie im »Fuhrmann Hen-schel« von 1898, der »Rose Bernd« von 1903 und der »Dorothea Angermann« von 1926 wieder begegnen. Sie alle leben von einer szenischen Gebärdenkunst, einer Sprachmimik, die die Bedingungen einer menschlichen Katastrophe vorführt. »Die Weber« von 1892 gewinnen ein eigenes Gewicht, weil sie sich nicht mit einem begrenzten Figurenkreis begnügen, sondern die Katastrophe einer Menschengruppe, eines Berufsstandes darstellen. Und der »Florian Geyer« von 1895 sucht Entsprechendes für das historische Drama zu leisten, wenn dies Werk die Katastrophe des Bauernkriegs als naturalistisch gesehene »Tragödie« szenisch vergegenwärtigt. Der »Kollege Crampton« von 1892 und der »Biberpelz« von 1893 suchen mit den Mitteln der mimischen Gebärdung eine eigene Lustspielform zu entwickeln, die im »Roten Hahn« 1901 und den »Ratten« 284 itjio wieder abgewandelt wird. Die weithin bekannt und wirksam gewordenen Werke Hauptmanns entsprechen in ihrer Grundform der schon bei dem ersten Hervortreten sichtbaren Gestaltungsweise. Erst eine andere Reihe von Werken läßt neue Fragen auftauchen: sie beginnt mit »Flanneles Himmelfahrt« 1893 und führt über »Die versunkene Glocke« 1896 zu dem »Glashüttenmärchen« »Und Pippa tanzt« 1906 und weiter zu »Indipohdi« 1920 und schließlich hinüber zu den Dramen mit antiken Stoffen, also dem »Bogen des Odysseus« und der Atridentetralogie von 1941/44. Diese Werke verzichten weitgehend auf die mimische Prosa zugunsten des Verses, ebenso wie auf die Milieugebundenheit zugunsten einer Traum-, Märchen-, Sagen- und Mythenwelt. So hat man sie meist sehr entschieden gegen die naturalistischen Dramen im engeren Sinn abgegrenzt und gemeint, daß sich hier eine andere Gestaltungsweise durchsetzt. Und doch bleibt offen, ob sie nicht nur der mimischen Gebärdenkunst eine neue Wendung geben und Märchen, Sage und Mythos als vorsprachliche Gebärdungen des Lebens, als Traumgestaltcn des vorbewußten Daseins zur Geltung bringen. Erst damit würde verständlich, daß sie nicht im Gegensatz zu den Milieudramen hervortreten, sondern in enger Nachbarschaft zu ihnen und daß beide Gruppen auch ihrer Entstehungszeit nach ständig ineinandergreifen. So bleibt zu klären, ob die mimische Gebärdung nur den sozial gebundenen Stoffen zur Darstellung verhilft oder ob und wie sich durch sie auch eine freiere Phantasiegestaltung rechtfertigt. In den »Webern« zeigt sich, daß diese Gebärdenkunst nicht nur Einzclschicksale, sondern einen allgemeinen sozialen Notstand zu vergegenwärtigen vermag. Der revolutionäre Aufbruch wird zu einer Gebärde des notvollen Lebens, zum Affektausbruch einer geplagten, hilflosen Menschengruppe. Die einzelnen Bilder weisen auf eine spannungsreiche Situation, in der die Worte keine Verständigung mehr ermöglichen und die Katastrophe hereinbricht, weil alles Reden sich nur noch im Affekt entladen kann und sich die Weber durch den Fabrikanten das »Maul nicht verbieten« lassen wollen. Die Nöte des sozialen Lebens können sich nur noch gebärdenreich äußern. - Aber daß diese milieugebundenen, affektgeladenen, mimischen Szenen nun doch nicht jedem Thema gewachsen sind und diese Darstcllungsweise ihre Grenzen hat, zeigt sich am deutlichsten bei dem Versuch, auch das Geschichtsdrama auf diese Weise zu erneuern. Wohl scheint im »Florian Geyer« der Bauernkrieg auf entsprechende Art zur Darstellung kommen zu können wie der Weberaufstand. Aber die Bedingungen des geschichtlichen Daseins lassen sich nicht von ihren geistigen Voraussetzungen und bestimmenden persönlichen Entscheidungen ablösen. Der Bauernkrieg bleibt einer konkreten Sozialordnung, einer geschichtlich gewordenen Reichsidee und vor allem den religiösen Auseinandersetzungen zugeordnet. Wenn solche geistigen Zusam- menhänge und Gegensätze nur mimisch nachgespielt werden, wirken sie rasch leer und unbewältigt; der Mimus wird dann zum Kostüm, zur Theatergeste und stellt den möglichen Ansatz des naturalistischen Dramas in Frage. Er muß an das Faktische näher herangreifen, als er es darstellerisch bewältigen kann. Schon die alter-tümelnde Färbung der Rede muß Bedenken erregen; eine Dialektrede läßt sich sprachmimisch natürlicher füllen als ein künstliches Altdeutsch, wenn es nicht mit parodistischer Absicht geschieht, wie gelegentlich bei Thomas Mann. Die Verwendung der Luthersprache führt nicht zu einer neuen Wirklichkeitsnähe, sondern entleert die überlieferten Gehalte und macht das Pathos des Glaubens oder des Deutschbewußtseins zu einem äußerlichen Versatzstück. Die Geschichte läßt sich nicht als Mimus nachspielen, am wenigsten, wenn man die Auseinandersetzungen der Zeit, etwa um die 12 Artikel der Bauern, wörtlich übernimmt und sie nur durch einige drastische Wendungen illustriert. Da genügt kein »Junker Misträumer« oder »Gevatter Knollfink«, um den kulturgeschichtlichen Bilderbogen vergessen zu lassen. Sobald es darum geht, allgemeinere Lebensbewegungen, die über den Einzelmenschen hinweggreifen, dramatisch zu bewältigen, scheint also die milieugebundene Sprachmimik nicht mehr auszureichen. Es fragt sich, ob statt dessen die Bildervveit des Traums, des Märchens, des Mythos dichterisch fruchtbar werden und sich mit den inneren Voraussetzungen dieser Gebärdenkunst vereinen kann. Schon in »Hanneies Himmelfahrt« war es Hauptmann geglückt, über die Gebärdung sozialer Situationen hinauszugehen und innere Vorgänge als »Traumdichtung« zur Geltung zu bringen. Im »Bahnwärter Thiel« bot der Traum die Möglichkeit, die Zustände eines bewußtlosen Innenlebens, das dumpfe Getriebensein, zu verdeut-I ichen, und so vermag er auch dem Drama eine neue Dimension zuzuordnen. Freilich weist hier der Traum nicht auf eine eigene Realitätssphäre wie in der Romantik, sondern er wird psychologisch ausdeutbar und führt auf die Macht der unbewußten Lebensvorgänge zurück. Alle Glaubensgehalte, Himmel und Hölle, Engel und Teufel, Auferstehung und Heiligung werden zu Traumvorgängen, die den durch die äußeren Umstände hervorgerufenen inneren Situationen eine greifbare Gestalt geben. Die Traumbilder erscheinen als eine weitere Stufe der mimischen Gebärdung, sofern sie ein vorbewußtes Geschehen in Gestalten und Vorgänge umsetzen. Damit bietet der Traum einen Hinweis, wie Märchen- und Sagen-!;cstalten, aber auch mythologische Überlieferungen einer szenischen (cbärdenkunst zugeordnet werden können. Hauptmann findet durch den Traum die Möglichkeit, die sozial gebundene Alltagswirklichkeit mit einer Phantasie- und Märchenwelt zu verknüpfen, die als eine Gebärdung der Lebensgewalten im menschlichen Innern gerechtfertigt scheint und letztlich auf eine 2 sc, 287 rauschhafte Teilhabe an ihnen verweist. Wenn er bei der mimischen Vergegenwärtigung der Geschichte die Grenze seiner Möglichkeiten erfährt, so findet er durch die Einbeziehung von Traum und Rausch einen Weg, die freie Phantasiegestaltung mit dem faktischen Alltag zu verknüpfen und dadurch auf den Gebärdenreichtum des Lebens hinzudeuten. Der Determinismus wird nicht preisgegeben, aber er wird einem Lebensgeschehen untergeordnet, an dem der Mensch in seinen Traumbildern Anteil hat. So wird erst mit Hanneies Himmelfahrt das eigentümliche Doppelgesicht Hauptmanns deutlich, seine Bereitschaft, die Gebärdungen des Lebens in ebenso real gebundenen wie phantastisch-freien Situationen herauszuarbeiten, ohne daß zwischen beiden Verfahrensweisen ein prinzipieller Unterschied bestünde. Im »Hannele« verbindet sich die Milieugebundenheit bruchlos mit der Traumwelt. Der Anfang im Armenhaus entspricht durchaus der mimischen Sprachgebärdung der bisherigen Milieudramen; aber dann führt die Darstellung in eine Phantasiewelt hinüber, die eine Realität nur als Traumhalluzination einer Sterbenden besitzt, bis die letzten Worte des Dramas in die Alltagswelt zurückführen und der Doktor den Tod des Mädchens bestätigt. Der Fiebertraum objektiviert sich zu Gestalten und Vorgängen, die als Wunsch- und Sehnsuchtsbilder aus der Not des Armenhauses hinausweisen und sich mit religiösen und märchenhaften Vorstellungen verbinden. Sie gehören noch zur Gebärdung des menschlichen Daseins hinzu und erweitern die Möglichkeiten der dramatischen Gebärdensprache, sofern sie Realität und Irrealität verschränken. Traum und Märchen werden als Gebärdungen innerer Zustände verständlich, die durch das Lebensgeschehen bewirkt werden. Noch selbständiger kommt die Phantasie- und Märchenwelt in der »Versunkenen Glocke« von 1896 zur Geltung; sie wird hier nicht nur psychologisch aufgelöst, sondern direkter mit den elementaren Gewalten der Natur in Verbindung gebracht. Sie gibt das Verhältnis von Mensch und Natur zu erkennen, indem die Märchen- und Sagenmotive als Gebärdungen des Lebensgeschehens verstanden werden. Die Sinnbilder weisen auf das Leben in seiner dem Menschen unfaßbaren Größe und Gewalt zurück: die Märchengestalten des Rautendelein, des Nickelmann, des Waldschrats stehen jenseits der Menschenwelt und bleiben doch als Verkörperungen der Naturgewalten mit ihr in Austausch. Ob es psychologisch auflösbare Verkörperungen der inneren Zustände des Glockengießers Heinrich sind oder Gestalt gewordene Gebärdungen des Lebens selbst, ist nicht mehr zu unterscheiden, da sie auf eine letzte Einheit von Mensch und Natur verweisen. Der Mensch verständigt sich über sein Verhältnis zum Leben durch märchenhafte Verkörperungen der Naturkräfte, so daß das Leben als der letzte Horizont alles menschlichen Geschehens erscheint und die christlichen Gehalte entwertet sind. Die Glocke, die hoch oben im Gebirge in einer Kapelle läuten sollte, ist in den See gestürzt, und der Glockengießer irrt verzweifelt in der Einöde umher, bis er in Rautendelein ein Wesen findet, das ihn mit den Naturmächten in Verbindung bringt. Er erkennt, »daß Leben Tod, der Tod das Leben ist«, und begreift damit das Leben selbst als das eigentliche Märchen: »Ja, das Märchen weht durch den Wald. Es rauscht, es flüstert heimlich.« Der Determinismus der früheren Dramen wird nicht verlassen, aber sofern zu ihm der Wechsel von Leben und Tod gehört, erscheint die Natur als das eigentliche Märchen- und Wunderreich. Die überlieferten Phantasiegestalten werden als Ausdrucksgebärden des naturhaften Lebens verständlich und bedeutsam; die Märchensymbole deuten auf ein Naturgeschchen zurück, das seine Gesetzlichkeit in sich verschließt und vom Menschen immer nur unzulänglich gemeistert wird. Wohl kann der Mensch die Bedingungen verdeutlichen, unter denen das Einzelgeschehen steht; aber sobald er nach dem Sinn des Geschehens fragt, sieht er sich auf ein naturhaftes Leben verwiesen, über das er nicht verfügt und das er nur noch in Märchenfiguren symbolisch präsentieren kann. Sowohl heidnisch-germanische wie antike oder christliche Sagenüberlieferungen können dadurch zu neuer Geltung kommen. Aber diese Marchenvorstellungen bleiben der naturalistischen Gebärdenkunst innerlich zugeordnet, da auch sie nur dazu beitragen, die Lebens-vorgänge gebärdenhaft vorzuführen. Aus dem Naturalismus selbst ergibt sich die Möglichkeit, Märchen-, Sagen- und Traumgestalten als eine ihm zugehörige Symbolsprache zu verwenden. Wie im J ugendstil aus den organischen Formen der Pflanzen ein Ornament entwickelt wird, so hat dieser dramatische Symbolismus die Bilderwelt der Einbildungskraft in eine naturhafte Gebärdenkunst zu verwandeln gewußt. Hauptmann sucht fortan die symbolische Märchenwelt des Lebens mit der Milieugebundenheit des Menschen in eine dichterisch fruchtbare Beziehung zu bringen. Er führt damit auf die tiefere Problematik des modernen Dramas zurück, sofern es vor der Aufgabe steht, trotz des durchgängigen Determinismus eine Symbolgestalt des Daseins zurückzugewinnen und es zur >Vision< zu steigern. Im Glashüttenmärchen »Und Pippa tanzt« von 1906 kann die mimische Vergegenwärtigung des Alltags und seiner Katastrophen sich mit der Symbolsprache des Märchens innig verbinden: im Alllag selbst geschieht das Märchen des Lebens. Die Spannung von menschlichem Schicksal und kosmischem Vorgang bestimmt die Oarstellungsweise. Die Glasmacherkunst steht zum Traum, zur Phantasie, zum Tanz in einer märchenhaft-wunderbaren Beziehung und sieht sich doch in die Alltäglichkeiten der sozialen Wirklichkeit verstrickt. Der in die Bedingungen seines Daseins eingeschlossene Mensch kann dieses Dasein immer nur entsprechend diesen Bedin- ge;/19 289 gungen erfahren und muß deshalb das über ihn hinausgreifende Leben als ein unüberschaubares Wunderreich anerkennen. Er muß sich der Gondel des Traumes anvertrauen, um die unfaßbare Macht des Lebens als die des »großen Pan« zu erfahren. So heißt es: »Man könnte fast glauben, in einem Traum zu sein: so geheimnisvoll mutet der weiße, im Lichte des Morgens flammende Prunk der Berge und der lockende Duft der Halbinseln, Buchten und Gärten der Tiefe mich an. So ist's, wenn die Berge in den Elmsfeuerspiclen des großen Pan gebadet sind.« Die Teilhabe des Menschen an diesen ihn überwältigenden Lebensvorgängen kann nur noch in traumhaft mythischen Bildern und sinnbildlichen Figuren greifbar werden.3 Je mehr Hauptmann seine naturalistische Gebärdenkunst mit dem Phantasiereich des Märchens verknüpft, um so deutlicher zeigt sich, daß all sein Dichten unter der Optik des Lebens steht. Es kommt nicht primär auf den Determinismus des menschlichen Handelns an, sondern auf die Gebärdungen des Menschseins, in denen das Leben selbst sich gebärdenreich entfaltet und seine Macht bezeugt. Die Ohnmacht der Sprache weist auf die Macht des Lebens zurück. Eine eigentliche Selbstvergewisserung des Menschen im Wort scheint kaum noch möglich; aber die dichtende Vergegenwärtigung des sprachlich sich gebärdenden Menschen ermöglicht ein ahnungsvolles Mitschwingen in einer leidvoll beglückenden Lebensbewegung. Die im 19. Jahrhundert immer wieder aufbrechende Frage, wie sich das Dichten gegenüber dem wissenschaftlichen Erkenntnisanspruch rechtfertigt und behauptet, hat zu einer eigenen Antwort geführt, indem aus dem naturalistischen Ansatz eine bestimmte Konsequenz weiter entwickelt wird. Es genügt nicht, wie meist bei den Jungdeutschen, die Prosa der sachlichen Mitteilung oder gedanklich pointierten Erörterung; denn die Sprache ist nicht mehr als Mittel der Verständigung wichtig, sondern als Gebärde der den Menschen bestimmenden Situationen. Es gibt auch nicht wie bei Richard Wagner den Ausweg in einen Mythos, der eine gemeinsame Lebensanschauung des Volkes allegorisch eingrenzte; denn alle Märchen- und Sagenmotive behalten nur noch als mimische Verweisungen auf die Macht des Lebens Bedeutung. Es fehlt aber auch jene für Nietzsche entscheidende Rückwendung des Lebens auf das Selbst des Menschen, in dem das Leben sich selber will und das sich durch die Sprache seiner selbst vergewissert. Hauptmann bleibt als Dramatiker der große Mime, der in der Wiedergabe der Lebensgebärdungen einen eigenen Reichtum des Dichterischen findet. Er hat selber kaum die Möglichkeit gehabt, diese Eigentümlichkeiten seines Dichtens auch theoretisch zu begründen. Seine gelegentlichen Äußerungen in Festreden und Betrachtungen fallen nur zu leicht in eine traditionelle Rhetorik zurück und geben keinen Aufschluß über sein Verfahren. Wir suchten uns deshalb an das zu halten, was er als Dramatiker tut, und haben angedeutet, wie er mit der dramatischen Form und besonders der dialogischen Rede umgeht. In einer Wiener Ansprache von 190; betont er selber, daß er kein Redner sei, weil es ihm nicht möglich ist, eine einzelne Stimme zu isolieren und sie als seine eigene zur Geltung zu bringen. Er sieht darin eine Schwäche des Dramatikers. »Eine der Schwächen ist das Unvermögen, aus der Polyphonie meines Geistes eine Stimme gesondert sprechen zu lassen und wenn es auch meine eigene wäre! Wie es heute ist, war es ehemals: es melden sich in meinem Innern stets viele Stimmen zum Wort, und ich sah keine andere Möglichkeit, einigermaßen Ordnung zu schaffen, als vielstimmige Sätze: Dramen zu schreiben.« (Bd. 17, S.29) Und entsprechend heißt es in der Leipziger Rede von 1912: »Die dramatische Kunst ist gleichsam auf einer produktiven Skepsis errichtet: sie bewegt Gestalten gegeneinander, von denen jede mit ihrer besonderen Art und Meinung voll berech-1 igt ist. Wo aber bleibt die gesuchte rechte Art und die rechte Meinung? - Sie werden finden, daß die Tragödie keineswegs eine richterliche oder gar Henkersprozedur, sondern eine Formel für das tiefste und schmerzenreichste Problem des Lebens ist. Die Formel für ein Problem, nichts weiter.« (ebd. S.40) So wird man Hauptmanns Dramen als eine mimische Formel für das mannigfach sich gebärdende I .eben bezeichnen dürfen. Am ehesten in dem Tagebuch seiner griechischen Reise von 1907, das unter dem Titel »Griechischer Frühling« erschien, kann man mancherlei Hinweise finden, wie er selber die dramatische Kunst meinte rechtfertigen zu können, indem er sie zu den chthonischen I .ebcnsgewalten in Beziehung setzte. Zur Aneignung der griechischen Sagengestalten helfen ihm nicht so sehr die Texte und Bildwerke, sondern die Gegenwart des Landes, der Menschen, des Klimas. Schon dadurch sieht er Griechenland sehr anders als die Humanisten. Seine Beobachtungen richten sich auf die Lebensvorgänge, die heute noch die gleichen sein mögen wie im Altertum. Das geistig < I es faltete und sprachlich Geprägte wird auf ein elementares Gesehenen zurückbezogen, so daß die Götter und Heldengestalten nur wieder als mimische Gebärdungen eines Lebens erscheinen, das heute noch in ähnlichen Formen begegnet wie einst. Der Hirt mit ■einen Tieren erinnert ihn an »alte Opferpoesie«, an die vitalen Vorginge, die zur »Freude an Trunk und Schmaus« gehören. Er beginnt, ein dramatisches Gedicht von Telemach, dem Sohn des Odysseus, zu schreiben, das dann als »Der Bogen des Odysseus« erscheint, und meint: »es ist mir allmählich so, als habe sich um mich her nur mein eigener Traum zur Wahrheit verdichtet.« Der Traum des Lebens verwandelt sich in die Wirklichkeit des Gedichts oder umgekehrt der Traum der Dichtung in die Wirklichkeit des Lebens, so daß vor die persönlichkeitsbewußten Formen zurückgefragt und das Humane 111 das elementare Geschehen zurückgenommen wird. Die FJnheit von Traum und Wirklichkeit verweist auf die den Menschen umfangende Natur mit ihren Lebensgestalten. Ein durch Eros geforderter Naturkult scheint jederzeit möglich; es gilt, »das Leben als eine große Gegenwart zu empfinden, - als ob nicht Tausende von Jahren seit dem letzten Auszug bacchischer Schwärme vergangen wären«. Das »Mysterium der Fruchtbarkeit« deutet auf ein dionysisches Geschehen, auf den »chthonischen Quell« und die Gegenwart des »großen Pan«. Kirkc und Kalypso werden als »der mythische Ausdruck sich regender Wachstumskräfte in der Frühlingsnatur« verstanden. So heißt es im »Griechischen Frühling«: »Das Rauschen (der Bäume) hat in mir nachgerade einen Rausch erregt, der Natur und Mythos in eins verbindet, ja ihn zum phantasiegemäßen Ausdruck von jener macht.« Damit ist sehr genau bezeichnet, wie Hauptmann sich nicht nur den antiken Mythos, sondern alle Sagen- und Märchengestalten anverwandelt und seinem Naturalismus zuordnet.4 Im Rausch der Teilhabe am Lebensgeschehen entsteht der Mythos als dessen phantasiegemäßer Ausdruck, der damit als traumbildliche Lebensgebärde verstanden wird. Traum und Rausch lassen aus sich die mythische Bilderwelt der Götter hervorgehen, so daß einleuchtet, warum Hauptmann an der griechischen Landschaft und Lebensgestalt viel mehr Anteil nimmt als an den Werken der Kunst und Bildung. Aus diesen Überzeugungen ergibt sich, daß auch das griechische Drama, die Tragödie, von ihm nicht als Leistung der Sprache, sondern als Ausdruck des Lebensgeschehens verstanden und die Ohnmacht der Sprache vorausgegeben wird. Die eigentlich bedeutsame Sprache spricht doch immer nur das Leben selbst. Bei dem Besuch von Delphi heißt es: »Ersehnt und willkommen war immer wieder nur das Leben, das tiefere Leben, das den Rausch erzeugende Rätsel«. Und weiter: »Das am tiefsten Stumme ist es, was der erhabensten Sprache bedarf, um sich auszudrücken ... Aber Worte besagen nichts, und ich würde, mit der wahrhaft dionysischen Kunst (der Musik) begabt, nach Worten nicht ringen müssen. Ich empfinde . . . eine fast schmerzhafte Spannung, als ob ich mich einem redenden Brunnen, einem Urbrunnen aller chthonischen Weisheit gleichsam annäherte, der, wiederum einem Urmunde gleich, unmittelbar aus der Seele der Erde geöffnet sein würde.« So ist Hauptmann geneigt, die Verwandlung des blutigen Opfers in eine dramatische Handlung als den entscheidenden Vorgang des Dramas anzusehen und damit die unheimliche Doppelgesichtigkeit eines Lebens anzuerkennen, in das sich der Tod so rätselhaft mischt. »Die blutige Wurzel der Tragödie« ist ihm das Menschenopfer; das Tragische »offenbart sich als die schaudernde Anerkennung unabirrbarer Blutbeschlüsse der Schicksalsmächte; keine wahre Tragödie ohne den Mord, der zugleich wieder jene Schuld des Lebens ist, ohne die sich das Leben nicht fortsetzt, ja der zugleich immer Schuld und Sühne ist.« Die Tragödie weist auf das »Blutmysterium« zurück, das dem Leben undurch- 292 schaubar zugehört; sie läßt »das Angesicht der Medusa erblicken« und weiß die Geschehnisse mimisch vorzuführen, die diese Macht des Blutes zu erkennen geben. Es scheint damit eine Verbindung hergestellt zwischen den eigenen naturalistischen Katastrophendramen und dem Ursprung der griechischen Tragödie aus dem Mythus. In den Gestalten der Atridcnsage findet Hauptmann seine Deutung bestätigt: die Tragödiendichter wußten das Element des Grauens hervorzurufen, weil sie das Drama als Totenbeschwörung blutiger Schatten verstanden. Zugleich mag damit ein Hinweis gegeben sein, in welchem Sinn Hauptmann später in seiner Atridentetralogie die Macht des Blutes und Todes zur Darstellung bringt. Die »Iphigenie in Aulis« beginnt unter dem »leichenhaften« Licht der Mondesgöttin mit der Frage: »Wer zittert nicht in Graun vor Hckate ?« Hauptmann vermag der antiken Tragödie nur noch Bedeutung zu geben, indem er die »unterirdischen Mächte« zur Geltung kommen läßt, die aller menschlichen Verfügungsgewalt vorausliegen und sie aufheben. So können auch seine eigenen antikisierenden Dramen nicht isoliert gesehen werden; sie führen noch einmal auf die Frage zurück, wie in einer naturalistisch determinierten Welt die Gestalten der Sage, des Märchens, des Mythos als Gebärdungen eines elementaren Lebcns-j',eschehens zur Geltung kommen können. Die Ehrfurcht vor dem Menschen rechtfertigt sich erst dadurch, daß sie auf die Ehrfurcht vor dem ebenso erschreckenden wie beseligenden Leben zurückführt. Dies Leben bleibt »der große Traum«, von dem Hauptmanns episches Alterswcrk in Danteschen Terzinen dichtet. Die Gebärdenkunst, die in den frühen Werken die Milieuszenen des Alltags nach-■piclt, sucht nun in einer kosmischen Vision die Gebärdungen des I ,ebens vorzuführen, die das eigene Dasein bestimmten. Und wieder endet diese Vision mit der Anerkennung der Ohnmacht der Worte. So heißt es im 19. Gesang: »Kein Wort ist hier genug. Als Schiff in dieses Rätselmeer zu schiffen - kaum aus dem Hafen, scheitert's, sinkt, zerfällt. Mag lieber denn die Sprache untergehen, als daß die heilige Wahrheit des Gesichts wie seines Sehers je bezweifelt werde! Die Runenzeichen dieses Weltgedichts sind Opferflammen auf dem chthonischen Herde.« I lud im 20. Gesang heißt es: »Ohnmacht sind Worte . . . Allein es sind des Traumeswandrers Pflichten, das Größte unaussprechlich, wie es ist, in Zeichen und Symbolen zu berichten.« Sc > begegnet in Gerhart Flauptmann der paradoxe Fall eines Dichter-tums, das von früh bis spät bereit ist, die Ohnmacht der Sprache *93 vorauszugeben, dessen sprachprägende Kraft immer wieder enttäuscht, da es der Entscheidungsgewalt des Wortes nicht mehr traut; das aber den Gebärdungen des Lebens eigentümlich nahe zu kommen weiß, da es nicht nur Menschen mit ihren Gebärden vor uns hinstellt, sondern auch Träumen, Zeichen und Symbolen ihre gebärdenhafte Kraft zurückgibt. Die Ohnmacht des Wortes wird als eine menschliche Grenzsituation fruchtbar und rechtfertigt die Dichtung als eine Gebärdenkunst, die ganz der Macht des rätselvollen Lebens anheimgegeben ist und damit über jeden engen Schulbegriff des Naturalismus hinauswächst. So mögen seine Werke denn doch die Worte Erhart Kästners bestätigen, daß sein Auge ein Leben lang den Blick der Medusa auffing und aus seinem Orakelmund Schwerdurchdring-liches kommt. 1 Eine dramen- und formgeschichtliche Hauptmann-Forschung ist nur zögernd in Gang gekommen. Vgl. Felix A. Voigt, Grundfragen der G. H.-Forschung, G. R. M. 27. Jgg. 1939, S.271 - Derselbe, G. H.-Literatur, Die Ernte des Jahres 1942, G. R. M, 30. Jgg. 1942, S.257 - Ernst Alker, Das Werk G. H.s in neuer Sicht, Universitas, 2. Jgg. 10. Heft, 1947, S.1181 - Auf die uns wesentlichen Strukturproblemc richtet sich jetzt vor allem der Aufsatz von Wilhelm Emrich: Der Tragödientypus Gerhart Hauptmanns (Zs. Der Deutschunterricht 195}, Heft ;) Vgl. auch Fritz Martini, >Das Wagnis der Sprache« 195 5. über den Bahnwärter Thiel. - Nach dem Erstdruck dieses Aufsatzes im Jahre 19)7 sind noch folgende wichtige Arbeiten erschienen: Die Interpretationen in: >Das deutsche Dramai, hrsg. v. Benno von Wiese, 1958, Bd. II: Kurt May, Die Weber, S. 157fr.; Hans Joachim Schrimpf, Rose Bernd, S. 166ff.; Wolfdietrich Rasch, Und Pippa tanzt, S.i86ff. Ferner sind zu nennen: Wolfdietrich Rasch, Zur dramatischen Dichtung des jungen Gerhaic Hauptmann. In: Festschrift f. F.R. Schröder, 1959 - Karl S. Guthke, >Gcrhart Hauptmann. Weltbild im Werk« 1961 (Kl. Vandenhoeck-Reihe) - Wilfried van der Will, Voraussetzungen und Möglichkeiten einer Symbolsprache im Werk Gerhart Hauptmanns!, Diss. Köln 1962 -Benno von Wiese, Wirklichkeit und Drama in Gerhart Hauptmanns Tragikomödie >Die Rattern. In: Jb. d. dt. Schiller-Ges. 6. Jg. 1962; auch in B. v. Wiese, >Zwischcn Utopie und Wirklichkeit. Studien zur deutschen Literatur« 1963 - Hans Joachim Schrimpf, Struktur und Metaphysik des sozialen Schauspiels bei Gcrhart Hauptmann. In >Literatur und Gesellschaft«, Festgabe für Benno von Wiese, 1963 - Rolf Christian Zimmermann, Die Pathetik des heiligen Berstens und ihre Gestaltwandlung im Werk Gerhart Hauptmanns. In: > Formenwandel«, Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Böckmann, 1964 - Hans Steffen, Figur und Vorgang im naturalistischen Drama Gcrhart Hauptmanns, DVjs. 38. Jgg. 1964, S-424ff. 2 Die persönlichen und sachlichen Beziehungen verfolgen Felix A. Voigt und Walter Reichart: Hauptmann und Shakespeare, 19472. 3 Robert Mühlher, Kosmos und Psyche in Gerhart Hauptmanns Glashüttenmärchen )Und Pippa tanzt« (in >Dichtung der Krise«, 1951, S.291-406) sucht die dionysisch-chthonischen Motive des Werks genauer einzugrenzen. 4 Dies allgemeinere Problem wäre bei der Erörterung von Hauptmanns Verhältnis zur Antike vor allem zu beachten; vgl. F. A. Voigt: Antike und antikes Lebensgefühl im Werke G. H's, 193;. 294 1 Richard Alewyn Der Tod des Ästheten (Über Hofmannsthals >Der Tor und der Tod<) Die meisten Menschen verachten leicht die .Anmut. Denn es ist gewöhnlichen Seelen eigentümlich, nur das %u schätzen, was sie ein wenig fürchten. Daher die weite Verbreitung des militärischen Riems in der Welt und die Vorliebe für das Tragische auf dem Theater. Es bedarf für diese Art Menschen in der Literatur des Ansehens überwundener Schwierigkeiten. Und deshalb genießt Metastasio so wenig Achtung. Diese Worte Stendhals, dem gefeiertsten und verschollensten Theaterdichter des 18. Jahrhunderts gewidmet, bezeichnen das l'aradox, das auch heute noch, zwanzig Jahre nach seinem Tode, die Stellung Hofmannsthals so schwankend macht. Dem protestantischen und insonderheit dem deutschen Geist ist ein tiefes Mißtrauen gegen die Anmut eingewurzelt. Er ist eher geneigt, das zu Dunkle und Schwere als das zu Lichte und Leichte zu verzeihen. Kr ist ungern bereit, Ernst und Tiefe da anzuerkennen, wo nicht nich ein lautes Pathos und der Geist der Schwere herrscht. Es geht ihm schwer ein, daß etwas Gold sein könne, das glänzt. Mühelos aber und schwerelos erschien das Werk, mit dem der junge Hof-niannsthal zuerst auftrat, und von einem solchen Leuchten, daß man, von seiner Oberfläche geblendet, seine Tiefe gar nicht vermutete. Somit war es gerade die Anmut und der Glanz seines Werkes, das Über seinen Ernst zu täuschen vermochte, ein Pyrrhussieg des Dichters über sich selbst. So konnte nicht lange vor seinem Tode ein junger Schweizer Freund Hofmannsthals bittere Zustimmung ernten, als er sein Jugendwerk ein so berühmtes als unverstandenes nannte.1 Ks gibt in diesem Jugendwerk kein Gedicht, das berühmter wäre .ils Der Tor und der Tod (1893). Keines ist mehr geliebt, öfter gelesen, häufiger genannt worden. Dies ist auch nicht schwer zu ver-Btehen. Es sprach von dem Leiden und dem Untergang eines jungen Menschen seiner Zeit, und nicht viel anders wie einst im Werther fand in Claudio eine Generation sich verstanden. Hofmannsthals »Tor« ist ein Sproß jenes Stammes, dessen früher Ahnherr Hamlet heißt, und der sich seit vier Menschenaltern über die Landschaft Buropas ausgebreitet hatte. Werther und Faust, Adolphe und René, Ifyrons Childe Harold und Mussets Enfant du Siede, die Grillparzer und Amiel ihrer Tagebücher, Niels Lyhne und Peer Gynt tragen seine Züge, und noch aus Hofmannsthals Generation werden sich l'onio Kröger und Malte Laurids Brigge zu Claudio gesellen. 295