vorauszugeben, dessen sprachprägende Kraft immer wieder enttäuscht, da es der Entscheidungsgewalt des Wortes nicht mehr traut; das aber den Gebärdungen des Lebens eigentümlich nahe zu kommen weiß, da es nicht nur Menschen mit ihren Gebärden vor uns hinstellt, sondern auch Träumen, Zeichen und Symbolen ihre gebärdenhafte Kraft zurückgibt. Die Ohnmacht des Wortes wird als eine menschliche Grenzsituation fruchtbar und rechtfertigt die Dichtung als eine Gebärdenkunst, die ganz der Macht des rätselvollen Lebens anheimgegeben ist und damit über jeden engen Schulbegriff des Naturalismus hinauswächst. So mögen seine Werke denn doch die Worte Erhart Kästners bestätigen, daß sein Auge ein Leben lang den Blick der Medusa auffing und aus seinem Grakelmund Schwerdurchdring-liches kommt. 1 Eine dramen- und formgeschichtliche Hauptmann-Forschung ist nur zögernd in Gang gekommen. Vgl. Felix A. Voigt, Grundfragen der G. H.-Forschung, G. R. M. 27. Jgg. 1939, S.271 - Derselbe, G. H.-Literatur, Die Ernte des Jahres 1942, G. R. M. 30. Jgg. 1942, S.257 - Ernst Alker, Das Werk G. H.s in neuer Sicht, Universitas, 2. Jgg. 10. Heft, 1947, S.1181 - Auf die uns wesentlichen Strukturproblcme richtet sich jetzt vor allem der Aufsatz von Wilhelm Emrich: Der Tragödientypus Gerhart Hauptmanns (Zs. Der Deutschunterricht 1953, Heft 5) Vgl. auch Fritz Martini, >Das Wagnis der Sprache< 19551 über den Bahnwärter Thiel. - Nach dem Erstdruck dieses Aufsatzes im Jahre 1957 sind noch folgende wichtige Arbeiten erschienen: Die Interpretationen in: >Das deutsche Drama<, hrsg. v. Benno von Wiese, 1958, Bd. II: Kurt May, Die Weber, S. J 57ff.; Hans Joachim Schrimpf, Rose Bernd, S.i66ff.; Wolfdietrich Rasch, Und Pippa tanzt, S. 186ff. Ferner sind zu nennen: Wolfdietrich Rasch, Zur dramatischen Dichtung des jungen Gerhart Hauptmann. In: Festschrift f. F. R. Schröder, 1959 - Karl S. Guthke, >Gerhart Hauptmann. Weltbild im Werk« 1961 (Kl. Vandenhoeck-Reihe) - Wilfried van der Will, »Voraussetzungen und Möglichkeiten einer Symbolsprache im Werk Gerhart Hauptmanns«, Diss. Köln 1962 -Benno von Wiese, Wirklichkeit und Drama in Gerhart Hauptmanns Tragikomödie iDie Ratten«. In: Jb. d. dt. Schillcr-Ges. 6. Jg. 1962; auch in B. v. Wiese, > Zwischen Utopie und Wirklichkeit. Studien zur deutschen Literatur« 1963 - Hans Joachim Schrimpf, Struktur und Metaphysik des sozialen Schauspiels bei Gcrhart Hauptmann. In >Literatur und Gesellschaft«, Festgabe für Benno von Wiese, 1963 - Rolf Christian Zimmermann, Die Pathetik des heiligen Berstens und ihre Gestaltwandlung im Werk Gerhart Hauptmanns. In: >Formcn-wandel«, Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Böckmann, 1964 - Hans Steffen, Figur und Vorgang im naturalistischen Drama Gerhart Hauptmanns, DVjs. 38. Jgg. 1964, S.424ff. 2 Die persönlichen und sachlichen Beziehungen verfolgen Felix A. Voigt und Walter Reichart: Hauptmann und Shakespeare, 1947^. 3 Robert Mühlher, Kosmos und Psyche in Gerhart Hauptmanns Glashüttenmärchen >Und Pippa tanzt« (in >Dichtung der Krise«, 195 r, S,29t—406) sucht die dionysisch-chthonischen Motive des Werks genauer einzugrenzen. 4 Dies allgemeinere Problem wäre bei der Erörterung von Hauptmanns Verhältnis zur Antike vor allem zu beachten; vgl. F. A. Voigt: Antike und antikes Lebensgefühl im Werke G. H's, 1935. Richard Alewyn Der Tod des Ästheten (Über Hofmannsthals >Der Tor und der Tod<) Die meisten Menschen verachten leicht die Anmut. Denn es ist gewöhnlichen Seelen eigentümlich, nur das %u schätzen, was sie ein wenig fürchten. Daher diu weite Verbreitimg des militärischen Ruhms in der Welt und die Vorliebe für das Tragische auf dem Theater. Bs bedarf für diese Art Menschen in der I .iteratur des Ansehens überwundener Schwierigkeiten. Und deshalb genießt Metastasio so wenig Achtung. Diese Worte Stendhals, dem gefeiertsten und verschollensten Theaterdichter des 18. Jahrhunderts gewidmet, bezeichnen das l'aradox, das auch heute noch, zwanzig Jahre nach seinem Tode, «lie Stellung Hofmannsthals so schwankend macht. Dem protestantischen und insonderheit dem deutschen Geist ist ein tiefes Mißtrauen gegen die Anmut eingewurzelt. Er ist eher geneigt, das u Dunkle und Schwere als das zu Lichte und Leichte zu verzeihen. I'.r ist ungern bereit, Ernst und Tiefe da anzuerkennen, wo nicht .11 ich ein lautes Pathos und der Geist der Schwere herrscht. Es geht ihm schwer ein, daß etwas Gold sein könne, das glänzt. Mühelos iUt und schwerelos erschien das Werk, mit dem der junge Hof-mnnnsthal zuerst auftrat, und von einem solchen Leuchten, daß man, von seiner Oberfläche geblendet, seine Tiefe gar nicht vermutete, '..■mit war es gerade die Anmut und der Glanz seines Werkes, das über seinen Ernst zu täuschen vermochte, ein Pyrrhussieg des Dich-i« ts über sich selbst. So konnte nicht lange vor seinem Tode ein junger Schweizer Freund Hofmannsthals bittere Zustimmung ernten, als er sein Jugendwerk ein so berühmtes als unverstandenes nannte.1 Iis gibt in diesem Jugendwerk kein Gedicht, das berühmter wäre Iiis Der Tor und der Tod (1893). Keines ist mehr geliebt, öfter ge-I' sen, häufiger genannt worden. Dies ist auch nicht schwer zu verwehen. Es sprach von dem Leiden und dem Untergang eines jungen Menschen seiner Zeit, und nicht viel anders wie einst im Werther lnul in Claudio eine Generation sich verstanden. Hofmannsthals Ich« ist ein Sproß jenes Stammes, dessen früher Ahnherr Hamlet licilit, und der sich seit vier Menschenaltem über die Landschaft Kuropas ausgebreitet hatte. Werther und Faust, Adolphe und René, Hvrnns Childe Harold und Mussets Enfant du Siede, die Grillparzer .....I Amiel ihrer Tagebücher, Niels Lyhne und Peer Gynt tragen leine Züge, und noch aus Hofmannsthals Generation werden sich l'onio Kröger und Malte Laurids Brigge zu Claudio gesellen. 2<;4 Als der junge Hofmannsthal die Augen aufschlug, hatte dieses erlesene und gefährdete Geschlecht für sein Leben und Denken eine neue Formel gefunden. Ästheten nannten sie sich, und Fart pour Fart schrieben sie auf ihre Fahnen; denn es war die Kunst, der sie einen esoterischen Kult gestiftet hatten. Es war die Kunst, die sie von dem gemeinen Leben trennte und über die gewöhnlichen Menschen erhob, es war die Kunst, die sie mit köstlichen Gnaden und überschwenglichen Seligkeiten belohnte - Vorrechte freilich, für die sie auch wiederum mit ungewöhnlichen Leiden zu zahlen hatten. An der Stelle aber, wo die Reihe der am Geiste Leidenden und Scheiternden der Kunst begegnet und damit für ihre Hoffnungen und Enttäuschungen einen neuen Namen und Inhalt empfängt, an diesem Kreuzweg steht Hofmannsthals Claudio. Keiner hat in dieser Generation der Krankheit des Geistes, dem Glanz und dem Elend des »schönen Lebens« beredtere Worte geliehen, und es ist kein Zweifel, daß dies es ist, was Hofmannsthals Gedicht so berühmt gemacht hat. Und soweit ist es auch keineswegs unverstanden geblieben. Man hat sich sogar der Beichte des sterbenden Ästheten mit einem zweideutigen Eifer bemächtigt, und alle, denen die Indiskretion die halbe Kunst ist, haben in der Maske des Claudio das Selbstbildnis des Dichters gesucht. Nun hat in der Tat Hofmannsthal nur noch selten Seelisches so unmittelbar bloßgelegt. Nur wenige seiner Gestalten sagen so oft und so gerne »Ich«. Nie wieder hat er ein ganzes Gedicht so subjektiv angelegt, nie wieder mit solchem Pathos den Mantel der großen Konfession um sich geschlagen. Aber wenn man nun den Dichter auf Grund von Claudios Klage beklagte oder anklagte, befand man sich in einem Irrtum nicht nur über seine Person, sondern auch über das Verhältnis eines Dichters zu seinem Geschöpf. Gewiß erwartet man von einem Dichter seit hundert oder zweihundert Jahren, daß er aus dem Vorrat seiner inneren Möglichkeiten schöpft. Und so ist auch Claudio eine Möglichkeit seines Dichters. Aber Dichten heißt eben dieses: das nur Mögliche in den Stand der Wirklichkeit überführen. Darum ist eine dichterische Gestalt immer zugleich mehr und weniger als ihr Schöpfer. Mehr, weil sie nun wirklich, ganz und immer ist, was der Dichter nur möglich, teils und zuweilen ist - weniger, weil sie nur einer der Schatten ist, die ohne Zahl und Namen in seiner Seele hausen. Ein Dichter, selbst wenn er sich diese höchst undichterische Aufgabe vorsetzte, kann sich nicht selbst porträtieren, so wenig wie man sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann. Immer bleibt ein unauflöslicher Überschuß: der, der den Porträtierten porträtiert. Goethe ist gewiß Werther, aber er ist mehr als das, er ist der Dichter des Werther, der sich durch den Werther von dem Werther in sich befreit. So ist Hofmannsthal gewiß auch Claudio, aber er ist außerdem sein Dichter und - sein Richter. Wenn Hof- 296 I mannsthal sich hier mit Claudio identifiziert, so tut er es, um sich damit von ihm zu distanzieren. Er hat eine seiner Möglichkeiten, die sich gelegentlich bedrohlich in den Vordergrund gedrängt haben mochte, als Figur von sich abgelöst und gleichsam in effigie hingerichtet. Damit ist die Gefahr freilich nur gebannt, nicht auch schon goethisch überwunden. Es unterscheidet Hofmannsthals seelische Konstitution von der Goethes, daß sie mehr chronische Leiden als akute Krisen aufweist. Claudio ist ein solches Leiden Hofmannsthals, das hier zum ersten Male als Krankheitsbild abgegrenzt wird, das aber damit noch nicht abgetan ist (wie etwa für Goethe die U'/erther-Kase mit dem Werther erledigt ist), sondern das ihn noch sein halbes Leben begleiten wird und am Ende überhaupt nicht überwunden, sondern verwandelt werden wird aus einer Not in ein Heil. Wie aber für viele Zeitgenossen Goethe sein Leben lang der Oichter des Werther blieb, so ist auch heute noch für die meisten I lofmannsthal vorzüglich der Dichter von Der Tor und der Tod geblieben. Und wie Goethe mit Werther, so hat man der Einfachheit halber Hofmannsthal mit Claudio identifiziert, und ein ganzes reifes Manneswerk hat dagegen nichts mehr vermocht. Das aber hat man dabei auch übersehen, daß dem Claudio hier der Prozeß gemacht wird, und daß der Dichter nicht nur in der Maske des Angeklagten, sondern auch des Anklägers auftritt. Man hat das Selbstbildnis gesehen, das Selbstgespräch belauscht, ilier das Selbstgericht hat man verkannt.2 Und darin ist dieses Werk unverstanden geblieben, daß, wie lyrisch immer seine Form, sein Sinn ein sittlicher ist. Was dieses Werk von den neurasthenischen Beichten der Dekadenz unterscheidet, ist, daß es den unfruchtbaren Zirkeltanz der Selbstreflektion sprengt, daß hier nicht nur eine I )iagnosc gestellt, sondern auch ein Urteil gesprochen wird, daß das Meine Spiel also von der psychologischen auf die moralische Ebene gehoben wird, ehe am Ende die Moralität sich in das Mysterium auflöst. Das ästhetische Evangelium, wie es ihm George aus dem Paris Mallannes mitgebracht hatte, hatte Hofmannsthal nicht unempfänglich gefunden. Im Tod des Titian (1892) hatte er ihm überschwenglich gehuldigt. Ein Chor von Kunstverschworenen oder Kunstverfalle-nen, um den sterbenden Meister geschart, unter dem Anhauch des Todes in einen Hymnus auf die Kunst ausbrechend, das war der Gegcn-sland dieses lyrischen Dialogs gewesen. Aber schon im Gestern (1X91), seinem dramatischen Erstling, hatte er das »schöne Leben« im frage gestellt. Das Spiel von dem Tode des Toren ist nun ein offener Widerruf. Was eben noch als ein Segen erschien, enthüllt sich nun als ein Fluch. Die Kunst, die als Priesterin und Mittlerin des Lebens gefeiert worden war, wird jetzt zum Gleichnis, ja zur II rsache der Lebensarmut. Und wenn für die Jünger Tizians die 297 Erhebung über das gemeine Leben und die hochmütige Entfernung von der stumpfen Menge ein Zeichen hohen Berufes gewesen war, so lehnt nun hier einer der Auserwählten am abendlichen Fenster und blickt hinüber zu den gewöhnlichen Menschen und in ihr armseliges Leben, wie es von kleinen, aber echten Sorgen bedrückt, von kleinen, aber wirklichen Freuden beglückt ist, verzehrt von der ohnmächtigen Sehnsucht nach - wie Tonio Kröger es nennen wird -den Wonnen der Gewöhnlichkeit. Er ist reich und vornehm und verwöhnt, befreit von jeder Verantwortung und von der alltäglichen Sorge, und wäre doch mit Freuden bereit, mit jedem von ihnen zu tauschen. Die Kunst versagt hier auf einmal die Tröstungen, die sie durch vier Generationen hindurch dem heimatlos gewordenen Menschen gespendet hatte, und entpuppt sich als ein unheimliches Verhängnis. Die ganze Zweideutigkeit eines allein auf das Ästhetische gestellten Lebens wird hier schonungslos enthüllt. Auch Claudio hat versucht, sich durch die Kunst ins Leben einweihen zu lassen. Er hat sich - wie sein unbewußterer Bruder, der Kaufmannssohn des Märchens der 6j2. Nacht - umgeben mit alten, edlen und schönen Dingen: Bildern, Figuren und Geräten, den Zeugen seines Werbens um das Leben und seiner Niederlagen. Es ist ihm zwar gegeben, die Schönheit ihrer Formen und Farben innig zu fühlen, aber es ist ihm nicht gelungen, auch nur einen Tropfen von ihrem Blut in seine siechen Adern zu leiten. Sie starren ihn wie leere Masken an, aus denen das Leben entflohen ist, weil er sie nicht aus eigener Kraft zu speisen vermag. So hat die Kunst, anstatt ihn zum Leben zu befreien, ihn dem Leben entzogen. Wie dem König Midas alles, was er berührte, sich in Gold verwandelte, so erstarrt vor seinem Blick alles in Kunstwerk und Künstlichkeit. Jedem Gefühl und jeder Erfahrung schiebt sich äffend und höhnend ein Spiegelbild unter, bis die Grenzen zwischen Echtem und Gemachtem heillos verwirrt sind und er sich verstrickt findet in ein selbstgewobenes Netz, aus dem er sich selber nicht mehr zu befreien vermag. Ich glaube, das schöne- heben verarmt einen3, schrieb Hofmannsthal damals einem Freunde. Wenn dem »Toren« versagt ist, was noch dem Einfachsten vergönnt ist, dann ist es gewiß nicht, weil er hart oder roh wäre. Vielmehr gerade, weil er zu weich und zu fein ist, sind alle seine Gefühle nur schwach und halb. Weil er zu dem unseligen Geschlechte der Lauen gehört, die der Herr ausspeit aus seinem Munde. Und darum ist auch sein Leiden ohne die Größe derer, die von Gott versucht und geprüft werden, und nichts als ein unfruchtbares Siechtum. Der wahre Schmerz ist ihm so sehr versagt wie die tiefe Lust, des Hassens ist er sowenig fähig wie des Liebens, des Bösen sowenig wie des Guten. Denn das eine ist ohne das andere nicht zu haben, und keines von beiden, ohne daß man sich auf das Leben einläßt. Aus Angst, sich zu verlieren, hat er sich nie hin- gegeben und eben darum sich auch nie wahrhaft wiederempfangen. So verliert er sich, eben weil er so eifersüchtig sich bewahren wollte verdorrt, erstarrt, verödet und vereinsamt. Unfähig, etwas zu erleben, weder ein Ding noch ein Du, unfähig zu handeln, unfähig auch nur zu genießen, lebt er ohne Welt und ohne Schicksal in dem Kerker seines Ich dahin. Das schöne Leben verkehrt sich aus einem Segen in einen Fluch. Wenn der Tod zu dem ästhetischen Eremiten hereintritt, dann braucht er ihn darüber nicht aufzuklären. Claudio ist zu klug und zu aufrichtig, um sich eine Täuschung zu gestatten. Wenn er ein »Tor« genannt wird, ist es nicht darum. (Der Tor ist das Gegenteil des Weisen, so wie der Narr das Gegenteil des Klugen. Darum kann ein Narr sehr wohl weise sein — wie bei Shakespeare - und ein Tor klug - wie Claudio.) Aber man kann sich seiner Not grausam bewußt sein, all ihrer Wurzeln und all ihrer Wirkungen, ohne daß dieses Wissen irgend etwas fruchtete. Denn das Wissen selber ist die K rankheit. Wie die Kunst, so hat sich der Geist verkehrt und steht hier im Gericht: nicht der schaffende oder schauende, vielmehr der nur noch spaltende und spiegelnde Geist, seine seit der Empfindsamkeit grassierende Spätform: säkularisierte Gewissenserforschung und konvertierte Sentimentalität, die Todkrankheit des abendländischen Menschen. Es ist der Geist, der sich nach innen gewendet hat und mit mörderischer Wachheit jede Regung begleitet, der sich zwischen Leben und Erleben drängt und zwischen Vorsatz und Tat, der jeden Eindruck zersetzt, jede Hingabe vergiftet und das nackte Ich zwischen die Spiegel seines Bewußtseins einsperrt wie in ein unentrinnbares Gefängnis. Heute scheinen fivei Dinge modern %it sein: I icmerkt der junge Hofmannsthal einmal4, die Analyse des Lebens und die Flucht aus dem Leben. Darf man hinzufügen, daß die beiden iden-lisch sind? Daß die Analyse des Lebens nichts als eine raffinierte 1 iirm der Flucht aus dem Leben ist? Zwei Haltungen verschmelzen damit ineinander, die sich einmal todfeindlich gegenübergestanden hatten, eine ästhetische und eine ethische: der Dienst am Schönen nimmt geradezu asketische Züge die Bewußtseinsanalyse artet in lüsterne Schwelgerei aus. Beide enden in Weltverlust, Ohnmacht und Unfruchtbarkeit. Narzissus, der Schöne, der sein eigenes Spiegelbild genießt, wird zum viel-lierufenen Symbol.6 Wenn das Wissen die Krankheit ist, dann könnte nur das Verlassen retten, jene heilende Funktion des Lebens, die von dem Bewußtsein außer Kraft gesetzt ist. Aber die ganze quälende Wach-liril eines Hirns, das sich keine Täuschung und keinen Trost gönnt, fruchtet nichts, und all sein Wünschen und Wollen bleibt ohne k raft: 298 299 Ich wandte mich nnd sah das Leben an: Darinnen Schnellsein nicht %um hänfen nüt\t Und Tapfersein nicht hilft %um Streit; darin Unheil nicht traurig wacht und Glück nicht froh; Auf Frag ohn Sinn folgt Antwort ohne Sinn; Verworrener Traum entsteigt der dunklen Schwelle Und Glück ist alles, Stunde, Wind und Welle!* So kreist der Tor in dem unendlichen Zirkel seines Bewußtseins wie in einem unseligen Zauberkreis, aus dem ihn nur ein stärkerer Zauber befreien kann. Es bedarf einer »Erlösung«, das heißt eines Einbruchs aus einer anderen Ebene des Seins. Und sein ganzes leeres, unnützes Leben ist nichts als ein einziges Warten auf diese Erlösung. Dieses leere Warten ist aber nichts als die späte und müde Form eines maßlosen Erwartens, mit dem er einmal dem Leben entgegengesehen hatte. Die Reflexion ist die gealterte Träumerei. Auch Claudio hat einmal in der Gnade gelebt. Einmal war alles anders gewesen. Es gab eine Jugend - und der zauberische Geigenton, mit dem der Tod sich ankündigt, löst in ihm die Erinnerung an eine verschollene Zeit, wo seine Seele, weit geöffnet, von starken Gefühlen durchströmt, in seligem Einklang mit der Welt mit allem Lebenden ein brüderliches Du tauschte. Was er aber nicht verstehen kann, ist, wie man einmal in der Gnade gewesen sein und dann auf einmal sie verloren haben kann, ohne zu wissen, wie man jenes verdient oder dieses verschuldet hat. Irgendwann einmal ist der Segen in Fluch umgeschlagen. Irgendwo hat auf einmal alles unfaßbar seinen Sinn verkehrt, ohne daß er dabei ein anderer geworden wäre.War vielleicht eben dies seine »Torheit«, daß er glaubte, angesichts des Lebens der gleiche bleiben zu können? Hat er vielleicht gerade den entscheidenden Augenblick versäumt, wo es darauf ankam, die Freiheit und die Unschuld und die Schönheit aufzugeben, und sich dem Leben zu verknüpfen (sich zu »engagieren«, wie man heute in Paris sagt)? Seine Vorrechte einzutauschen gegen ein Schicksal? Statt dessen hat er den Jugendtraum, der seinen Sinn in sich selber hat, als eine Verheißung verstanden und als einen Anspruch vor dem Leben aufgepflanzt und hat damit die Enttäuschung herausgefordert. Denn vor der unbegrenzten Möglichkeit des Traums muß jede Wirklichkeit verblassen. Wo die Phantasie schon die Primeurs genossen hat, wirkt die wirkliche Erfahrung nur als matte Wiederholung. So war er satt vor der Mahlzeit1, alles ist ihm vorgegessen Brot? So paßte der Schlüssel nicht ins Schloß. Verhängnisvoll aber ist es, wie Claudio sich dazu stellt. Nicht so, daß er das Leben annimmt, wie es ist, sondern so, daß er jede Erfahrung an seiner Erwartung mißt und, wo sie nicht entspricht, verwirft und sich darauf ver- 300 steift, auf die vollkommene Erfüllung zu warten. Indem er sich daran gewöhnt, die Gegenwart zu überspringen und ihr in die Zukunft vorauszueilen, bleibt sein Leben ein vor-läufiges. Darüber, daß er sich für das Mögliche freigehalten hat, anstatt das Wirkliche zu ergreifen, im Vorläufigen sich verzögert hat, anstatt den Sprung ins I endgültige zu wagen, findet er sich am Ende mit leeren Händen und einem verwarteten Leben. Wenn er nun nur noch in der Vergangenheit lebt, dann ist es, weil er vorher nur in der Zukunft gelebt hatte. Die vorweggelebte Zukunft hat sich in ungelebte Vergangenheit verwandelt, ohne die lebendige Gegenwart passiert zu haben, bis die Zukunft verbraucht, der Tod vor der Tür und das Leben versäumt ist. Das abendliche Zuspät ist die Folge jenes jugendlichen Zufrüh. Erst war das Leben noch nicht, nun ist es auf einmal nicht mehr. Erst war es nur Erwartung, dann nur Erinnerung, und dazwischen war nichts. (Dieses Leben auf Pump bei der Zukunft, dies, die Gegenwart immer als ein Versprechen zu betrachten und als die Vorstufe eines kommenden, ist eine Krankheit des abendländischen Menschen -wiederum des protestantischen mehr als des katholischen, des germanischen mehr als des romanischen -, die in der seelischen Revolu-lion des achtzehnten Jahrhunderts ausgebrochen ist. Ihre gemeinste I 'orm ist die Gier nach dem Neuen oder auch dem bloßen Mehr, dem •bigger and better«, ihre edelste das »faustische« Streben ins Ungemessene und Unbetretene, das sich mit keinem Erreichten zu-I lieden gibt. Ihr Ursprung ist die Unzufriedenheit mit dem Wirklichen, ihr Ziel das Unendliche, ihr Ende das Nichts. Claudio lebt die letzte Phase dieses faustischen Nihilismus. Er ist ein ernüchterter Faust, das heißt der verlängerte Faust des Ersten Teils, der das, was er ist und was er hat, aufgegeben hat, um das All zu sein, und damit endet, Nichts zu sein.) Man darf nicht ^t/schauen, man wird krank an dem, was man nicht gelebt hat9, warnt Hofmannsthal einmal später. Claudios Leiden ist nicht die 1 Ibersättigung dessen, der zu viel, sondern der Hunger dessen, der zu wenig genossen hat. Das unterscheidet ihn von den Lebemännern der Dekadenz. Obwohl ein alternder Mann, ist er unerfahren wie ein Kind. Und der Grund seines Leidens ist auch nicht einfach vitale Schwäche oder Uberfeinerung der Nerven oder Wucherung des Hewußtseins, sein Leiden ist das ungelebte Leben. Dieses ungelebte I .eben aber ist nicht bloß nicht, es ist das Nichts. Das Nichts aber bat eine Wirklichkeit, die nicht geringer ist als die des All. Das leere I .eben besitzt die unheimliche Saugkraft des Vakuums. Es ist ein Abgrund, der auf jeden, der sich darüber lehnt, eine namenlose Angst ausströmt zugleich mit der unwiderstehlichen Anziehungskraft der Vernichtung. So ist das ungelebte Leben keine geringere Macht als das gelcbte, ja, es ist dasselbe, nur im Stande der Verkehrung, in dem sich alle guten und segnenden Kräfte in böse und zerstörende verwandeln. ■ Mit der Erfahrung des »ungelebten Lebens« aber betreten wir eine andere Ebene dieses Spiels. Hier ist die Stelle, wo wir von der Seelenkunde zur Sittenlehre übergehen. »Leben« hat hier immer noch eine zweite Bedeutung, neben der vitalen eine moralische. Es handelt sich nicht nur um das Leben, das man »hat« (oder nicht hat), sondern auch um das Leben, das man führt. In diesem Lichte aber ist ungelebtes Leben nicht nur ein Leiden, sondern auch eine Schuld. Wer den ihm zugewiesenen Lebensraum unerfüllt gelassen hat, hat seine Aufgabe versäumt, und seine Krankheit ist nicht nur ein Symptom, sondern auch schon die Strafe. Und so kommt der Tod mit einem doppelten Auftrag: nicht nur als Rächer für das verschmähte Leben, sondern auch als Richter über ein verfehltes Leben. Wer gelebt und seine Bestimmung mehr oder weniger erfüllt hat und die rechten Grundsätze über das Sterben hat, kamt jeden Augenblick sterben ohne Bitterkeit, sagt eine Aufzeichnung Gottfried Kellers Uber das Reifsein %um Tode.w Hofmannsthal schrieb sich ein ähnliches Wort Lionardos in sein Tagebuch: Wenn ich glauben werde, daß ich %u leben gelernt habe, werde ich %u sterben gelernt haben. Die Ars Moriendi ist keine andere als die Ars Vivendi. Wenn Claudio nicht sterben kann, dann ist es, weil er nicht gelebt hat. Die Todesangst ist eine Eigenschaft von Menschen, die noch nicht genug bekommet! haben vom Leben, heißt es einmal in Herman Bangs Michael, wo ein ähnliches 1 .eiden beschrieben wird. Die Todesangst ist nur eine andere Form der ungestillten Lebensgier. Und wenn Claudio angesichts des Todes von namenlosem Grauen erfaßt wird, dann geschieht das, weil er lediglich auf einem schmalen Grat zwischen zwei Abgründen steht, der Leere des Unbekannten vor ihm und der Leere des Ungelebten hinter ihm. Es ist nicht das erfüllte, es ist das leere Leben, das sich gegen die Vernichtung sträubt. Wer sterben will, muß wie die reife Frucht, die sich vom Baume löst, vorher aus dem Leben gesogen haben, was nur in seinem Vermögen und seiner Bestimmung liegt. Das muß Claudio noch in seiner Sterbestunde erfahren, und er hat nichts als diese, um es zu lernen. So erwacht in ihm angesichts des Todes auf einmal ein Lebenshunger, wie er ihn angesichts des Lebens nie gefühlt hatte. Nun fühlt er sich zum ersten Male imstande und bereit zu leben. Er will vor dem Tode ins Leben fliehen und bettelt um eine Frist, um sein Leben noch einmal, vielmehr zum ersten Male leben zu können. In diesem wahnwitzigen Wunsch einer Wiederholung des Lebens gipfelt und endet Claudios »Torheit«. Denn er versteht damit den Tod sowenig wie das Leben. Ein »zweites Leben« gibt es nicht außer jenseits des Todes und um den Preis des Todes. Hätte er das Leben verstanden, dann hätte er den Tod verstanden. Dann wüßte er, daß das Leben ein solches ist, das mit dem Tod ein Ende hat, und daß es nur ein Ende hat und darum auch nur einen Anfang. Und daß, weil das Leben von seinem Anfang unaufhaltsam zu seinem Ende wächst, 502 auch jedes Stück des Lebens unwiederholbar ist. Denn das Leben besteht in der Zeit, die im Tode gründet. Im Raum kann man umkehren. Linen verkehrten Weg kann man zurückgehen. Was man an einem Ort vergessen oder verloren hat, kann man wiederholen. Aber eine Handlung, die man verfehlt hat, kann man nicht wiederholen, und eine Erfahrung, die man versäumt hat, kann man nicht nachholen. Und wie im Tode die Zeit, so gründet in der Zeit die Schuld. Ein sakraler Verstoß läßt sich durch vorgeschriebene rituelle Handlungen sühnen, die verletzte Ehre läßt sich durch eine gesellschaftliche Zeremonie wiederherstellen - eine sittliche Schuld läßt sich nicht wiedergutmachen, denn ihre Folgen lassen sich nicht mehr aufheben. Jeder Schritt im Leben ist Unaufhebbarkeit, das ganze Leben ist gewoben aus Verantwortung und Verschuldung. Wer aber nun, um der Verschuldung auszuweichen, sich dem Leben zu entziehen versucht, versäumt damit sein Leben, ohne der Verschuldung zu entgehen. Um dieser bitteren Lehre willen kehrt das Leben noch einmal zu dem »Toren« zurück. Der frühen Weisheit von Hofmannsthals Spiel wird in verblüffendem Gleichklang von Motiv und Idee sieben Jahre später von der Schwelle des Verstummens die Geisterstimme des alten Ibsen antworten mit seinem letzten Stück Wenn wir Toten erwachen. Auch Iiier klagt sich ein Einsamer an, über der Kunst das Leben versäumt zu haben, und auch er wird am Ende von dem verratenen Leben in der Gestalt der mißbrauchten Geliebten heimgesucht, zur Rechenschaft gezogen und in den versöhnenden Erlösungstod mitgenommen. Auch er wird vorher zu der Erkenntnis gezwungen: Was unwiederbringlich verloren ist, sehen wir erst, wenn wir Toten erwachen, wir sehen, daß wir niemals gelebt haben. Aber in Ibsens Werk lassen sich auch frühe Keime dieses Gedankens finden. Der junge Hofmannsthal selbst verweist auf eine solche Stelle: Im »Peer Gynt« ist eilte rührende S^eue, wo den alten Mann sein ganzes ungelebtes Leben, die ungedachten Ce-danken, die unausgesprochenen Worte, die ungeweinten Tränen, die versäumten Werke vorwurfsvoll und traurig umschweben?*- Von der Schwelle des Todes Zurückgekehrte berichten, wie ihnen 111 der letzten Sekunde vor dem Erlöschen des Bewußtseins noch einmal ihr ganzes Leben in einer blitzartigen Verkürzung vorübergezogen sei.12 So etwa hat die G.e'ge-dcs Todes die Macht, Claudios ungelebtes Leben noch einmal als geisterhaften Schattenzug herauf-xiirufen: die Mutter, die sich in Sorge um ihn verzehrt, und der er nie gedankt hat, die Geliebte, die er ausgenutzt und dann achtlos ..iiiückgelassen hat in einem langen, leeren und traurigen Leben, der I 'Veund endlich, den er verhöhnt und verraten hat, und den die Verzweiflung in ein Leben der Gefahr getrieben hat, in dem um ein hohes Ziel gewürfelt wurde, und in einen gewaltsamen Tod, und der doch mit seinem zerstörten Leben dreimal selig ist gegenüber ihm. Denn er hat geliebt und gehaßt und gehandelt und damit sein 3°} Leben erfüllt wie alle die anderen, die um Claudio und für Claudio gelebt haben, und die er nur genutzt und genossen hat. Obwohl nur Schatten, sind sie doch wirklicher als er, der leere Tor: die Mutter mit all ihrer Sorge und Mühsal, das Mädchen mit ihrer aufgeopferten Liebe, der Freund mit dem strengen Profil und der leidenschaftlichen Gebärde - wirklicher als er, der in ihrer Mitte nichts gefühlt und nie gelebt hat. So richtet der Tod, ehe er erlösen kann, und damit ist das Problem aus dem psychologischen Zirkel befreit und auf die moralische Ebene gehoben. Claudios Leiden ist nicht nur eine seelische Not, sondern auch eine sittliche Schuld. Freilich, Claudio ist kein Bösewicht, noch nicht einmal das, sondern nichts als ein »reiner Tor«. Nicht irgendein böses Tun ist seine Verfehlung, sondern ein falsches Sein. Er hat den Raum zwischen Gut und Böse überhaupt niemals betreten, sondern lebt noch wie ein Kind diesseits von beiden, unschuldig sozusagen, freilich mit einer schütteren, stockigen Unschuld. Er hat das Leben eines Kindes zu führen versucht im Alter und Stand des Mannes. Auch ohne es zu wissen und zu wollen, ist er Verantwortungen eingegangen, ist Sohn, Geliebter und Freund gewesen und hat, auch ohne Wissen und Wollen, seine Verpflichtungen versäumt. Bisher wußte er, daß sein Leben ihm selber weder Genuß noch Gewinn eingetragen hat, Nun erkennt er, daß sein leeres Leben nicht nur sein Schade gewesen ist, sondern auch eine Schuld gegen andere. Wenn Claudio dies erfährt, dann geschieht es zugleich mit der ganzen Unerbittlichkeit des Zu Spät. Aber daß er es überhaupt erfährt, daß er sich dem Gericht des Todes nicht entzieht, wie er sich der Verpflichtung des Lebens entzogen hatte, und daß er das Urteil annimmt, das macht ihn wenigstens zum Tode frei. Worin liegt eigentlich die Heilung?fragt Hofmannsthal in einer gleichzeitigen Tagebuchnotiz vom 4. I. 9413 und antwortet: Daß der Tod das erste wahrhaftige Ding ist, das ihm begegnet, das erste Ding, dessen tiefe Wahrhaftigkeit er %u fassen imstande ist. Ein Ende aller Lügen, Relativitäten und Gaukelspiele. Davon strahlt dann auf alles andere Verklärung aus. Der Tod ist die erste Erfahrung seines Lebens und damit ist diese gelebte Todesstunde reicher als die ganze ungelebte Lebensfrist. Und so hat der Tod doch Claudios Bitte erfüllt. Er hat wenigstens einmal gelebt. Sein Hunger ist gestillt. Er ist mit dem Leben im Reinen, und damit verliert der Tod für ihn seinen Schrecken. Denn wie der Tod ihn gelehrt hatte, das Leben zu verstehen, so enthüllt ihm nun das Leben den Tod. Wie der indische Todesgott Yama hat auch der Tod dieses Spieles zwei Gesichter. Vor dem mit dem Leben Versöhnten nimmt er die schrek-kende Maske ab und zeigt ein freundliches Gesicht. Und mit dem Gesicht wechselt er sein Amt. Der Rächer und Richter wird zum Erlöser. Die Moralität verwandelt sich in das Mysterium. Wir sagten: den Tod fürchtet nur, wer das Leben gefürchtet hat. 304 Dann ist, wer tief und stark gelebt hat, auch mit dem Tode vertraut. I )er Tod kommt nicht von außen heran und nicht erst mit dem Ende des Lebens. Dies ist die Einweihung, die Claudio nun empfängt: IJberall grenzt das Leben an den Tod, nicht nur als an eine dauernde Möglichkeit (im Sinne des christlichen Todes), sondern auch als eine : 1 llgegenwärtige Wirklichkeit. Wenn immer Claudio in der Tiefe von Schauern erschüttert wurde, in denen seine Seele sich dem Fernsten und dem Größten brüderlich nah und verwandt empfand, kurz in ienen verschollenen Stunden, in denen er »lebte«, und deren Erinnerung erst jetzt wieder in ihm erwacht, war es nichts anderes gewesen :i ls der Tod, das ihn angerührt hatte. Je tiefer das Leben, desto näher ist der Tod. Er ist es, der die Seele weitet, ihre Schale sprengt, und sie 1 lern All verbindet. Und darum ist er kein Feind des Lebens, sondern ihm verschwistert und verbündet. Und wenn er kommt, dann kommt er als der Bote des Lebens, und wenn er einen Schauer weckt, dann ist es kein anderer als der, den das große Leben hervorruft. Ein dunkles Wort des Heraklit klingt hier auf: Dionysos und Hades sind eines und dasselbe. Und wirklich, der Tod als Erlöser ist nicht mehr der Tod der alten Totentärrze, nicht der christliche Tod, der Sünde Sold und Bote des letzten Gerichts, sondern ein heidnischer Gott, wie er schon in dem unvollendeten Trauerspiel Ascanio und Gioconda das unselige Liebespaar erlösen kommen sollte14: Ich bin nicht schauerlich, bin kein Gerippe! Aus des Dionysos, der Venus Sippe, Bin großer Gott der Seele steht vor dir.1A Mit diesen berühmten Versen hat Hofmannsthal ein Thema weiterem wickelt, das seit geraumer Zeit, seit die christlichen Tröstungen zu versagen begannen, ein dringliches Anliegen des Menschen geworden war: die Euthanasie, die Beschwichtigung der Todesangst. Les-'■111g hatte mit dem Nachweis, wie human und ästhetisch befriedigend 1 lie Alten den Tod gebildet hatten, in der Klassik ein dankbares Echo geweckt.16 Dies klingt bis in die Backfischromantik der Hedda Gabler nach, deren Wunsch, mit Weinlaub im Haar in Schönheit ^11 sterben, \c icben als die Parole eines neuen Heidentums ausgegeben worden war. Die Romantik hatte die orphische Nachtseite der griechischen Welt erschlossen, die Dämmerwelt der orgiastischen Kulte, die Nietzsche auf den Namen Dionysos getauft hatte, den Herren des wilden Lebensrauschs und der dunklen Seelengründe, den Gott, der selbst gestorben und wunderbar von neuem erstanden war, und der seine Jünger durch die Mysterien von Tod und Wiedergeburt geleitet. Hier begegnet sich das heidnische Mysterium mit christlicher Mystik. In beiden kehrt sich das Verhältnis von Leben und Tod geheimnisvoll um, und ein symbolischer Tod wird zum Schlüssel des wahren Lebens. Seit der Romantik fließen diese beiden Ströme in einem Bette und werden Träger einer geheimen Religion, deren Mysterien der Traum und der Rausch, die Liebe und die Musik, die Nacht und der Tod sind: alle das Bewußtsein löschenden und die Individualität lösenden Mächte. Novalis, Schopenhauer, Wagner, Nietzsche sind so viele Stationen wie Formen dieser Todeserfahrung. Sie weckt oder nährt als deutscher Beitrag die romantischen Strömungen der europäischen Literaturen. Sie kehrt von Barres und D'Annunzio verwandelt zurück als die brünstig-makabre Mischung von sang, vol/ipte und mort. Dem geheimen Kult dieses Todesgottes ist die ganze Generation des Jahrhundertendes inbrünstig ergeben.17 In seinem Zeichen rebelliert die neue Romantik gegen den Realismus des neunzehnten Jahrhunderts wie die erste Romantik gegen den des achtzehnten. Ihm ist für eine kurze Zeit auch das Werk des jungen Hofmannsthal gewidmet. Ein solcher Tod nahte prunkend und willkommen am Ende eines reichen Lebens dem Tizian, ein solcher Tod überwältigt den Claudio als ein gewaltiges Aufrauschen des Lebens. Adstanle morte tritebit vita stand als Motto auf der Handschrift der Dichtung.18 Freilich, ob der Dichter es weiß oder nicht, dieser Tod ist kein richtiger Tod, sondern ein Mystcrientod. Zwanzig Jahre später würde er sagen können: es ist nicht der Tod Jedermanns, sondern der Tod Ariadnes, der eigentlich Bacchus ist, und kommt, die in Gram Erstarrte zu schmelzen zu neuem Leben. Denn wie dieser Tod eigentlich das Leben ist, so ist auch Claudios Sterben eigentlich eine Geburt.19 Wenn die F.rscheinung des Todes den Toren so erschreckte, dann war das nur die letzte seiner Täuschungen. Wenn er den Tod, der doch eigentlich das Leben ist, als Gestalt von außen herantreten sah, dann war das überhaupt nur möglich, weil er sich außerhalb des Lebens gestellt hatte. Was ihn so herankommen sieht, ist nichts als Claudios Bewußtsein, das sich seinem Leben entfremdet hat. Und was in der Maske des Todes zu ihm hercintritt, ist nichts als sein eigenes verstoßenes und vergessenes Leben. Und was sich vor dem Tode so entsetzt, ist sein Bewußtsein, was sich gegen ihn wehrt, ist sein Bewußtsein, und was hier stirbt, - das einzige, was überhaupt zu sterben vermag - ist sein Bewußtsein; die »Individuation«, mit Schopenhauer zu sprechen, dem Hofmannsthal hier so nahekommt wie nirgends sonst.20 Was wir »Sterben« nennen, ist nichts als im Unbewußten untersinken, wie der Tod des Tizian genannt worden war, die Überflutung des Bewußtseins durch das Unbewußte, das aus der Tiefe heraufsteigt, aus der Vergangenheit herein stürzt, die Riegel sprengt und den Gefangenen erlöst. Dies also ist hier der Tod: Name und Gestalt des unbewußten Lebens. Und dies ist das Sterben: ein Gleichnis der Verwandlung und neuen Geburt. Damit endet die Not Claudios und Hofmannsthals Gedicht vom Leiden des ästhetischen Menschen. Noch behält hier der Tod (Mors sive Vita) das letzte Wort. Die Moralität wird überstrahlt vom Mysterium. Aber über den sonoren Orgeltönen, unter denen hier Absolution und Erlösung gewährt wird, darf man den Ernst des tBerichts nicht vergessen, das zuvor gesprochen worden ist. Der Tod ist hier nur ein Ausweg, keine Lösung. Hofmannsthal wird davon nrückkommen. Er ist auf dem Wege, zu erfahren, daß es eine andere Versuchung gibt, und daß sein Gedicht ihr Vorschub leistet, trotz des :iulichen Purgatoriums, durch das er Claudio geleitet hat, die Ver-:uchung, sich aus dem frühen Traum unmittelbar hinüberzuschwin-v<-n in den Tod, ohne das Leben 2u passieren. Unser Leben hat zwar mir diese eine Gewißheit und diese eine Richtung: den Tod. Aber immer liegt zwischen uns und dem Tod das Leben. Und wie man sein Leben versäumen kann, indem man nicht an den Tod denkt, so lann man es auch versäumen, indem man nur an den Tod denkt. In einem unveröffentlichten dramatischen Plan, Das Urteil des Bocchoris, in dem Hofmannsthai noch vor dem Tor und Tod arbeitete, wäre eine Art Gegenstück entstanden. Hier sollte ein ganzes Volk, das dem l'iiium verfallen und einem mystischen Kult des Todes ergeben ist, i In ich einen jungen und weisen König zur Wirklichkeit bekehrt wer-• lin. Die Erziehung zum Leben wird nun Hofmannsthals Anliegen. I >ic Todversunkenheit muß überwunden werden wie die Traumbe-l.ingenheit. Auf den Raum zwischen Traum und Tod kommt alles in. Im Tor und Tod ist er kaum mehr als eine schmale Schwelle. Er wirtl in Hofmannsthals Werk sich ausdehnen und sich anfüllen mit ■ niiilicher und sittlicher Welt. I In Werke Hofmannsthals werden nach den Bandtucln der von Herbert Steiner im ■ I'isolier Verlag, Frankfurt am Main, in fünfzehn Bänden (1945 ff.) besorgten Vu.sg:ibe zitiert. ■ Aufzeichnungen, 1959, S.240. rarallelstellen findet man in den der Analyse und Kritik der Moderne gewid-nii Im Jugendaufsätzen Hofmannsthals seit der ersten Veröffentlichung des eben li/ehnjährigen über Paul Bourgets Physiologie de fAmonr, die entschiedensten in ili-r Auseinandersetzung mit D'Annunzio (Prosa I, 2. Auflage, 1956, S.233fr.). An Leopold von Andrian am 4. V. 1896, Briefe 1890-1901, Berlin 1935, lH |. I Prosa T, S.149. I Ikt einen frühen Anklang dieser Haltung bei Wackenroder vgl. vorläufig: Ii-Ii.ml Afewyn, Wackcnroders Anteil, The Germanic Review XIX, 1944, , ■ II'., zur Unfruchtbarkeit und Selbstbefangenheit des Schönen, auch unsere \ir.lrgung des Märchens der 672. Nttcbt in: Richard Alcwyn, Über Hugo von 1 Ii>l 11 tannsthal, 3. Auflage Göttingen 1963, S. 163 ff. Dazu ferner Hofmannsthals ' ■ •Juble Psyche (Gedichte und lyrische Dramen, 2. Auflage 1952, S.6yff.) und Knabe (ebd. S.76). Von der Unzulänglichkeit der ästhetischen Wclthaltung I.....Ii In viele Stellen der frühen Prosa, besonders Prosa I, S.2o;f., S.2oyff., .1. und 24of. - Zum Narzissus-Symbol (Schönheit, Sclbstbespiegclung, ' "11 in In barkeit) vgl. Robert Mühlher, Dichtung der Krise, Wien 1951, S.407 ff., ..... II inweis auf die Analogie zwischen Der Tor und der Tod und Leopold kiitlrians Der Garten der Erkenntnis: Gerhart Baumann, Leopold von Andrian: 306 3 07 Das Fest ikrJugend, Germ.-Rom. Monatsschrift, Np Vl> 'S)6. S.145fr., und Horst Schumacher, Das Weltbild Leopold von Andrians, Diss. Innsbruck 195 S, S.83 ff. G Gedichte und lyrische Dramen, $.104. - Den Keim dieses Gedankens findet man in einem Brief an George vom 10. I. 1891: Ick sehe keine Schuld und kein Verdienst und kamen Willen, der helfen kann, wo Tyche rätselhaß wirkt. Schon am 31. V. 1891 verzeichnete das Tagebuch : Tycbe als v>r,tn npnms'ivi (Aufzeichnungen, S.gz), vgl. auch Prosa I, S.27 u. 28 und Aufzeichnungen, S.2i8, 2.2.2.. 7 Dramen I, 1953, S.429. 8 Die Erzählungen, 2. Auflage 1953, S.201. 9 Prosa III, 1952, S.3Ö7. 10 Baechtold-Ermatinger, Gottfried Kellers Leben, Band I, 1924, S.289. 11 Prosa I, S.90. 12 Vgl. dazu schon eine frühe Tagebuchnotiz (16. XII. 1891): Das Erwachen des Gedächtnisses fHypermnesie) im Trimm, in Krankheit, Gefahr, in der Sterbestunde (Aufzeichnungen, S.93). 13 Aufzeichnungen, S.206. 14 nicht der grauenhafte Junker Tod des Mittelalters, Nein, ein andrer [...'] mit tragisch süßem Lächeln, Schmermutsnotl wie traurig-schöne, Dunkel glühende Musik.: der Tod der griechischen Tragödie, Ein Verwaniiler des Adauis (Briefe 1890-1901, S.5 ;). 15 Gedichte und lyrische Dramen, S.209; vgl. auch Prosa I, S.137. 16 Vgl. Walther Rehm, Götterstille und Göttertrauer, Bern 1951, S.i4iff. 17 Über den Gedanken der Immanenz des Todes handelt Georg Simmei, Rembrandt, 2. Auflage 1919, S.68ff. 18 Siehe die Facsimilc-Ausgabe der Handschrift, hrsg. von Ernst Zinn, Maximilian-Gesellschaft, Hamburg 1949. 19 So wird schon ein Jahr nach dem Tor und Tod der Opfertod der Alkestis in Admet eine Wiedergeburt bewirken. 20 Schopenhauer sagt etwa, daß die Todesfurcht auf einem Irrtum beruhe, nämlich einer verkehrten Identifikation unseres Selbst mit seiner bloßen Erscheinung. Nur die Individuation kann sterben, nicht unser eigentliches Wesen, welches durch den Tod vielmehr erst befreit wird. In der Bildsprache von Nietzsches Geburl der Tragödie formuliert dies eine Tagebuchnotiz Hofmannsthals vom 17. XII. 1893: Der tragische Grundmythos: die in Individuen zerstückelte Welt sehnt sich nach Einheit, Dionysos Zagreus will wiedergeboren werden (Aufzeichnungen, S.106). Reinhold Grimm Ideologische Tragödie und Tragödie der Ideologie Versuch über ein Lehrstück von Brecht Das von Hanns Eisler vertonte Lehrstück »Die Maßnahme«, das Bertolt Brecht Anfang 1950 in Zusammenarbeit mit Slatan Dudow und dem Komponisten schrieb, war schon vor seiner Uraufführung umstritten. Auf dem Baden-Badener Musikfest von 1929 hatte sich bekanntlich die Forderung nach einer Gebrauchsmusik für Laien erhoben, die, ihres rein ästhetischen Charakters entkleidet, den Zuhörer in einen Mitwirkenden, also den Kunstkonsumenten in einen Kunst-produzenten verwandeln sollte. Brecht und Eisler beriefen sich, als sie im Frühjahr 1930 die Aufnahme ihres Lehrstücks in das Programm ilcr Neuen Musik Berlin beantragten, auf diese allgemeine Forderung, die in ihrem Fall sogar Verabredung gewesen war. Die künstlerischen Leiter des Berliner Musikfestes, unter ihnen Paul Hindern i eh, lehnten jedoch wegen politischer Bedenken die Verantwortung 11h und verwiesen die »Maßnahme«, obwohl Autor und Komponist in einem offenen Brief dagegen protestierten, zur Überprüfung an 1 Ich Programmausschuß, der dann die Annahme unter dem Vorwand »formaler Minderwertigkeit des Textes« verweigerte. So kam es, daß 'Irr Arbeiterchor Groß-Berlin das Stück übernahm. Die Uraufführung, bei der übrigens bereits die beiden bedeutendsten Schauspieler • Iis späteren Berliner Ensembles, Ernst Busch und Helene Weigel, Hinwirkten, fand unter Dudows Regie am 10. Dezember 1930 im 1 Vutschen Theater statt und erregte, wie nicht anders zu erwarten, in.' heftige Auseinandersetzung, die sich nicht auf die Kreise der ii 11 «lernen Literatur und Musik beschränkte, sondern auch die Par-i' ikritiker auf den Plan rief; in der Arbeitersängerbewegung verur-■• iilile das Stück geradezu eine Spaltung.1 I Im so mehr fällt auf, daß es dann in der Folgezeit nur so geringe lUachtung gefunden hat. Sogar Brecht selber hat die »Maßnahme« ■'.■>■! kr in den Jahren seines Exils noch auch später, ats er wieder nach I >■ uIschland zurückgekehrt war, jemals auf die Bühne gebracht, und ■ illcnds heutzutage hört man, so leidenschaftlich das Schaffen des l in lifets sonst diskutiert wird, kaum noch ein Wort über sie. Woran 11.; ■, 1 das ? War dieses Stück so zeitgebunden und zweckverhaftet, daß ■ . heute wirklich ganz und gar abgetan ist und eine Beschäftigung Niehl mehr lohnt? Handelt es sich hier lediglich um eine Angelegen-I" 11 iles politischen Tageskampfes, um eines der vielen Mittel zur l'l'ulogisierung und Aktivierung der Massen, wie man sie damals ■.' 111 verwendete? Isr schließlich, grob gesagt, die »Maßnahme« eine 309