Max Frisch: Andorra politische Fabel, lehrhafte Parabel, appellative Funktion Stück in 12 Bildern, Tag vor dem Fest des heiligen Georgs (Schutzpatron der Krieger) (Kästler: 1994, S. 27), Vorabend eines Überfalls durch die „Schwarzen“ 1. Fassung für den Andorra-Stoff = Prossaskizze Der andorranische Jude im Tagebuch 1946–1949 M. Frisch behauptete, er hat das Stück fünfmal geschrieben, bevor er es aus der Hand gab. (Kästler: 1994, S. 21) Urauufführung: am 2. 11. 1961, Schauspielhaus Zürich (Regie: Kurt Hirschfeld) wahrscheinlich nicht nach dem Staat Andorra in den östlichen Pyrenäen benannt, laut M. Frisch sei Andorra nur der Name für ein Modell (Frisch: 1973, S. 201) theatralisch wirkungsvolle Passagen: Barblin ist irre geworden, klammert sich an Andris Schuhe, „Judenschau“, Lehrer will seinen Sohn retten, Andris Finger wird mit Mutters Ring abgehaut, Barblins Haare werden abgeschnitten („Judenhure“), pathetische Rede Andris im 9. Bild (Er ist Jude geworden und er will sterben.) Vorausdeutungen: Plattfüße im 1. Bild ist Hinweis auf die „Judenschau“ im 12. Bild, das Weißstreichen Barblins wird als Symbol für die vorgebliche Unschuld der Andorraner verwendet, Pater: „[…] Kein Mensch verfolgt euren Andri […] noch hat man eurem Andri kein Haar gekrümmt […]“ (Frisch: 1973, S. 205) Andri wird dann verfolgt und in Andorra umgebracht. Barblins Frage ist eine Vorausdeutung auf den Ausgang des Textes: „[…] Wenn einmal die Schwarzen kommen, dann wird jeder, der Jud ist, auf der Stelle geholt. Man bindet ihm an einem Pfahl […] Und wenner eine Braut hat, die wird geschoren, […] wie ein räudiger Hund.“ (Frisch: 1973, S. 206) Hinweis auf „Judenschau“: „[…] Ich glaub, es hängt ein Gewitter in der Luft, ein schweres Gewiter, dem Land tät’s gut …“ (Frisch: 1973, S. 207) biblische Anspielungen: Sündenbock, 2. Gebot, Kindermord zu Bethlehem im 1. Bild, David und Goliath im 8. Bild, Vergleich wie graue Heuschrecken vom Himmel im 1. Bild Rahmen: Barblin weißelt am Anfang die Mauer Vaters Hauses (morgen ist Sankt Georgstag) Pater: „ […] Wir werden ein weißes Andorra haben, ihr Jungfraun ein schneeweißes Andorra , wenn bloß kein Platzregen kommt über Nacht. […]“ Soldat „[…] Nämlich seine Kirche ist nicht so weiß, wie sie tut […] und wenn ein Platzregen kommt, das saut euch jedesmal die Tünche herab, als hätte man eine Sau drauf geschlachtet, eur schneeweiße Tünche von eurer schneeweißen Kirche.“ (Frisch: 1973, S. 204–205) Vorausdeutung: weiße „unschuldige“ Häuser von Andorra, derb: Platzregen in der Nacht im Bezug auf zukünftige Entjungferung Barblins, rot unter der weißen Tünche kann als Metapher für Blut an den Händen der Andorraner verstanden werden Im 12. Bild weißelt verzweifelte Barblin das Pflaster. Barblins Vorwurf (Frage der Verantwortung): Barblin: „Wo, Pater Benedikt, bist du gewesen, als sie unsern Bruder geholt haben wie Schlachtvieh, wie Schlachtvieh, wo? Schwarz bist du geworden, Pater Benedikt… […] Pater schweigt. […] Vater ist tot. […]“ (Frisch: 1973, S. 285) Soldats Lied Wenn einer seine Liebe hat im 1. Bild erinnert an Brecht (Knapp: 1993, S. 24) die Geschichte wird durch rassistische Zeugenauusagen (Aussagen an Zeugenschranke) unterbrochen (z. B. Pater, Doktor, Soldat), Andorraner fühlen sich an Andris Tod unschuldig, nur die Art des Todes gefällt Ihnen nicht, sonst bleiben sie auch nach dem Tod Andris unverändert und antisemitisch Liebesgeschichte: Andri und Barblin, sie wollen heiraten, Soldat Peider mischt sich ein, Barblin ist leider Andris Halbschwester. Inhalt: Beim Lehrer in Andorra wohnt der angeblich von einem Pogrom geretette Judenjunge Andri. In Wirklichkeit ist Andri der leibliche Sohn des Lehrers und einer der „Schwarzen“ (Nachbarn von Andorra, Andorraner fürchten vor der „Schwarzen“). Andorraner sind Antisemiten, Andri hat deswegen Probleme. Er und seine leibliche Mutter werden umgebracht, Lehrer begeht Selbstmord, Andris Freundin und Halbschwester Barblin ist irre geworden und Andorraner leugnen ihre Schuld an Andris Tod. wahrscheinlich nicht nach dem Staat Andorra in den östlichen Pyrenäen benannt, laut M. Frisch sei Andorra nur der Name für ein Modell (Frisch: 1973, S. 201) theatralisch wirkungsvolle Passagen: Barblin ist irre geworden, klammert sich an Andris Schuhe, „Judenschau“, Lehrer will seinen Sohn retten, Andris Finger wird mit Mutters Ring abgehaut, Barblins Haare werden abgeschnitten („Judenhure“), pathetische Rede Andris im 9. Bild (Er ist Jude geworden und er will sterben.) mehrere Interpretationen „Du sollst dir kein Bildnis machen.“ - wichtiges Thema auch in andern Werken von M. Frisch, z. B. im Roman Gantenbein (Stäuble: S. 18–21) 2. Gebot der Bibel: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist. Bete sie [Götzen] nicht an und diene ihnen nicht. Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen und Barmherzigkeit erzeige in viel tausend, die mich lieben und meine Gebote halten.“ (https://bibeltext.com/deuteronomy/5-9.htm) alle 10 Gebote wurden in Andorra überschritten (z. B. Lüge: Andris Stuhl, Soldats Sehnsucht nach Barblin, Seňoras Tod) Antwort auf die Frage: Was wäre gewesen, wenn Deutschland die Schweiz überfallen hätte? (die Schwarzen = Deutschland, Andorra = die Sweiz) Schilderung eines modellhaften Schickalls eines Individuums und Konsequenzen aus kollektivem Fehlverhalten, oder ein historisch lokalisierbares Modell organisierter Gewalt (Knapp: 1993, S. 27) Frage der kolektiven Schuld Auswirkung der Vorurteile am Beispeil der antisemitistischen Ansichten ein allgemeingültiges Muster für menschliches Verhalten, das Stück ist nicht vom Antisemitismus, Antisemitusmus ist nur ein Beispiel (Knapp: 1993, S. 16) Schilderung der frühen Geschichte des Nazismus Frage der kollektiven Schuld Vorurteile der Gesellschaft, gesellschaftliche Kritik diese Gesellschaft hasst sich selbst, feige (z. B. Wirt bei der „Judenschau“), geldgierig (Tischlers wucherische Lehrgeldforderung für Andris Lehre), ehrgeizig (Doktors vaterländisches Pathos), deswegen braucht sie einen Sündenbock, Andorraner projizieren ihre eigenen negativen Eigenschaften und Schwächen auf Andri Gesselschaft als Masse, Andri als Individuum Thematisierung der Judenverfolgung (Beitrag zur Bewältigungsliteratur), mit historischen Aspekten von Nationalismus setzt sich dieser Text nicht auseinander der Mensch auf der Suche nach seiner Identität (Kästler: 1994, S. 29) Fragen In welchen Werken wird die Gesselschaft negativ (als Masse) geschildert? In welchen Werken wird die Gesellschaft positiv dargestellt? neg. Ch. M. Wielands Abderiten, Die weiße Krankheit K. Čapeks, Das Parfüm von P. Süskind pos. Masse und Macht von E. Canetti, Wie der Maulwurf zu seiner Hose kam von Z. Miller Figuren Andri sein Name verweist auf eine inhärente Verbindung mit Andorra, er ist anders als die Andorraner (Knapp: 1993, S. 24), er ist auch der Andere (angebliches Judentum) und er ist ein Außenseitner (ohne Freunde), der Name ist auch höchstwahrscheinlich vom griechischen Namen Andreas abgeleitet, Andreas bedeutet der Tapfere, Andri war auch z. B. im 8. (beim Streit mit dem Soldaten) und im 12. (vor dem Tod) Bild tapfer hypotethischer Jude (Lüge seines Vaters), leiblicher Sohn des Lehrers und der „Swarzen“ Seňora, seine Möglichkeiten sind begrenzt, er kann sich nicht realisieren, überall hat er Schwierigkeiten (Lehre, Verhältnis mit Barblin, Freundschaften) wegen antisemitischer Gesellschaft, ihm werden von Andorranern „jüdische Eigenschaften und Züge“ zugeschrieben, er erwähnt im Gespräch im 9. Bild mit dem Pater, dass er unglücklich ist und sterben will Andri will Tischler werden, Tischler will vom Lehrer sehr viel Geld, laut ihm hat ein Jude keine Tischlerei im Blut, man ermöglicht Andri nicht Tischler zu werden. Andri ist Jude geworden, obwohl er keiner war. Er ist nachdenklich, auch mit Barblin muss er über sein Leben nachdenken, er ist traurig, klug, er hat einen guten Stuhl gemacht, er war im8. Bild mit dem Soldaten nicht feige, er hat auch den Ring von seiner Mutter behalten wollen, er versteckt sich nicht vor den „Schwarzen“. Andri hat auch negative Eigenschaften: Er ist undankbar, als ihm sein betrunkener Vater zugeben will, dass er sein leiblicher Sohn ist, will Andri nicht zuhören. Andri ist im 11. Bild gemein, er will mit seiner Halbschwester schlafen, er beschimpft sie als Soldatenbraut und er ist traurig, dass sie sich als Kinder zusammen nicht vergiftet haben. Barblin eher passive Heldin, Lehrers Tochter ihre Passivität ist ähnlich wie bei Marie aus Büchners Woyzeck, sie wird wegen Ihres Liebhabers, aber unter anderen Umständen, wie Gretchen von Gothes Faust wahnsinnig (Knapp: 1993, S. 27– 28), sie ist schön, Soldat hat ein Auge auf sie, Andri will sie heiraten Sie glaubt an Gott. Im Text ist nicht explizit, ob sie von dem Soldaten vergewaltigt wurde, oder ob sie ihm z. B. verfallen ist. Nach Andris Tod wird sie wahnsinnig, verzweifelt und sie hat keine Haare mehr. Sie weißelt das Pflaster, sie beschimpft alle als Mörder und sie will sie alle weißeln. Lehrer Can Er ist oft betrunken. Er erhängt sich nach dem Tod seines Sohnes im Schulzimmer. Soldat Peider Barblin gefällt ihm. Er hat schmutzige Augen und er ist vulgär. Doktor besonders antisemitisch und ehrgeizig, „patriotisch“, weil er im Ausland nicht erfolgreich war Tischler antisemitisch, geldgierig, ungerecht, er velangt eine Riesensumme vom Lehrer für Andris Lehre Mutter Sie ist für die Handlung eher unwichtig, wird als positive Figur dargestellt, Sie ist Andorranerin, aber sie ist nicht antisemitisch orientiert. Seňora die „Schwarze“, Andri bekommt von ihr einen Ring, sie wird in Andorra umgebracht, Andri wird von Andorraner als Mörder beschuldigt, erhat sie nicht umgebracht Rezeption Anfang 60er Jahre großes Publikinteresse (vor allem in Deutschland: Bewältigung der Geschichte), dann kritische Rezeption Andorraner werden nach dem Andris Tod unverändert, dem Stück wird Antisemitismus vorgeworfen, unklar, ob mit Andorra die Schweiz, Deutschland oder ein anderes Land gemeint ist, das Drama scheiterte in Amerika (Knapp: 1993, S. 40–42), momentan gehört Andorra in Deutschland und in der Schweiz zum Schulkanon Inszenierung: 1964 Nationaltheatr in Prag 2013 in Divadlo na Vinohradech mit Václav Vydra und Ivana Uhlířová (https://www.youtube.com/watch?v=63LU7JoM2q8) Frage Können Sie einige Beispiele des Antisemitismus nennen? Der britische Modedesigner John Galliano wurde 2011 vom Haus Dior entlassen, er war Chefdirektor im Haus Dior. Er war betrunken und er hatte Gäste in einem Restaurant mit antisemitischen Aussagen beleidigt. 2012 entzog ihm deswegen der französische Präsident den Titel Ritter der französischen Legion, Natalie Portman wollte dann wegen ihrer jüdischen Abstammung Gallianos Kleider nicht mehr tragen. J. Galliano ist homosexuell. Gedenkrede von Michael Köhlmeier 2018, FPÖ wird von Köhlmeier wegen Antisemitismus und Rassismus kritisiert Jan Neruda - antisemitische Aussagen Adolf Hitler Mein Kampf Quellen Primärliteratur FRISCH, Max. Stücke: Nun singen sie wieder; Graf Öderland; Biedermann und die Bransdtifter; Andorra. 1. Aufl. Leipzig: P. Reclam, 1973, 337 S. Reclams Universal-Bibliothek. Sekundärliteratur KÄSTLER, Reinhard. Erläuterungen zu Max Frisch "Andorra": Andorra: Stück in zwölf Bildern: Erläuterungen. 5., erg. Aufl. Hollfeld: C. Bange, 1994, 88 S. Königs Erläuterungen und Materialien. ISBN 3-8044-0426-X. KNAPP, Gerhard Peter a Mona KNAPP. Max Frisch: Andorra. 6. Aufl. Frankfurt am Main: Diesterweg, 1993, 66 S. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas. ISBN 3-425- 06071-6. STÄUBLE, Eduard. Max Frisch: Gedakliche Grundzüge in seinen Werken. 1. Aufl. Basel: Reinhardt, 1967, 42 S. Internetquellen (https://bibeltext.com/deuteronomy/5-9.htm) https://www.youtube.com/watch?v=63LU7JoM2q8