Andreas Nieweier Ein Ratgeber für Studium und Unterrichtspraxis 1.6.2 Literatur UTERhToKE ' JUST THINK OF lffl5lF >OÜ'Re EE<\DINe> A LON6- TEXT-MESS A&E." OartoonStcink.coni Was passierte am 22./23. April 1616? Die Welt verliert zwei Genies zum gleichen Zeilpunkt: Shakespeare und Cervantes. Der 23. April ist heute der Welttag des lUichcs. Auch wenn dieser 'typ von Ojiizfragen wenig mit einem kompetenzorientierten Lileral uiu iil eniciil zu Inn hat, soll er doch darauf aufmerksam machen, dass literarische Bildung ein wesentlicher Bereich kultureller Bildung in unserer GescLIschafi ist. In Bildungsplänen wird das Einbeziehen von Literatur in den iTeindsprachenunlerricht durch den Aufbau von Text- und Medienkompetenz legitimiert (zu den Kompetenzbereichen vgl. Kap. 1.5.1). Hierunter versteht in.in die Fähigkeii der SuS, sich selbstständig Texte zu erschließen, individuell /.u deinen und die gewonnenen Erkenntnisse in einen historisch-sozialen Kontext einordnen y.u können. Beim Verstehensprozess geht es also sowohl um das Dekodieren der manifesten Textinformationen als auch um das Erkennen von latenten Informationen, das „Lesen zwischen den Zeilen". Auch das Erkennen zentraler Texl.snrtenmerkmale ist Teil dieser Kompetenz. Neben einem UUlytllCh Interpretlerenden wird von SuS auch ein produktionsorientierter Umgang hui Texten erwartet. Die Vielfalt der Textsorten und Medien (visuelle, auditive, audiovisuelle) winl im Fortgang dieses Kapitels erläutert Auf diese Frage sollten Sie gute Antworten haben. Alle bekannten Texte der Weltliteratur liegen schließlich in Übersetzungen vor und könnten - bei entsprechendem Interesse - privat gelesen werden. Und wenn heute ein neuer Roman eines erfolgreichen ausländischen Schriftstellers oder einer Dichterin erscheint, bringt der Buchhandel ihn gleichzeitig in deutscher Übersetzung auf den Markt. Nun ist es aber so: Wenn Sie die Kirche Sagrada Famüia von Gaudi in Barcelona im Fernsehen sehen, ist sie auch real. Aber wenn Sie selbst davor .stehen, ist das ein anderes Erlebnis, als wenn Ihr Blick durch die Übertragung gelenkt wird. Den Sprachklang eines Gedichts von Walt Whitman im Original auf sich wirken zu lassen, ist ein unvergleichliches Erlebnis - und seien die Übertragungen ins Deutsche noch so gut. Literatur bietet eine einmalige Chance: Durch Texte hindurch können .Erfahrungen' gesammelt und Sichtweisen kennengelernt werden lernen, die sonst nicht wahrgenommen würden. Lesen ermöglicht Vorstellungen von verdichteter Sprache (in Gedichten), von komplexen Personenkonstellationen und ihren I landlungsmotiven (in Romanen und Dramen). Literatur ist ein Schlüssel zur ästhetischen Wahrnehmung der Welt. Außerdem schafft sie durch Fiktionalität einen Schutzmantel, der es erleichtert, über ungewohnte Situationen und befremdliche Charakterzüge im Unterricht zu sprechen. Die Wirklichkeit spielt sich also nur innerhalb des Textes ab. Die SuS sollten sich immer bewusst sein, dass es möglicherweise - je nach Text - keine Bezüge zur realen Welt gibt, auch wenn ein lebensweltlicher Bezug für die Auswahl von Texten für den Unterricht ein wichtiges Kriterium ist. Aber ohne Fiktion hätte es kein 1984 von l leorge Orwell gegeben. Literatur mit ihren perspektivischen Brechungen, Leerstellen und Rezeptionsspielräumen eignet sich im Fortgeschrittenenunterricht besonders j;iiI. um interkulturelle Kompetenzen aufzubauen (s. o.). Zusammengefasst lassen sich drei wesentliche Lernbereiche von Literatur ausmachen: 11) sprachliches Lernen: Wortwahl, Stilmittel, Symbolik etc. (s. Texlanalyse): von der Alltagssprache abweichende Modelle, die man in Sachlexlen nichi bildet (•.) interkulturelles Lernen: Fremdheitserfahrungen machen, verschiedene lüickwinkel einnehmen (3) literaturästhetisches Lernen: Umgang mit Leerstellen, offenen Finde Aushalten der Ambiguität von Literatur. 94 Unterrichten I Kultur unterrichten Zu beachten i.st dabei, dass in den einzelnen Philologien gerade für die Neuzeit divergierende Klassifizierungen auftreten. So spielt beispielsweise die postkoloniale Literatur im angelsächsischen Raum eine bedeutendere Rolle als in anderen Nationen, während der Nouveau Roman eher eine literarische Erscheinung Frankreichs ist. lAl/f fönnCn fatine £uS llfcwtisckc Törft inttty/refitren? Die Interpretation (Deutung, Auslegung) eines literarischen Textes ist eingebettet in drei Schritte, die i. d. R. sukzessiv sind und aufeinander aufbauen: 1. den Text verstehen: nur individuell möglich, s. Rezeptionsästhetik. 2. den Text analysieren: nach konventionalisierten Ablaufmustern (s. o.). 3. den Text interpretieren: an der Wirkung auf die Persönlichkeit des Lesers orientiert. Í önierrichten I Kultur unterrichten 95 Produlttionsorientieite Verfahren im Umgang mit (literarischen) Texten Pre-reading activities /Arttvite's avant la lecture jActividaäes de prelectura Verfahren Hinweise Schreiben einer ,Reiz-wortgeschichte' Einstimmung auf den zu lesenden Text durch eine Fantasiegeschichte, wobei bestimmte Wörter und Begriffe vorgegeben werden, die in der Textproduktion vorkommen müssen. Auf diese Weise lässt sich Lexik vorentlasten oder ein Themenfeld aufbauen. Erstellen eines Hand-lungsgerüsts Ausgehend von Informationen rund um den zu lesenden Text (Illustrationen, Klappentext, Buchumschlag, Inhaltsangaben, Rezensionen, Titel, Figurenlisten) skizzieren die SuS mögliche Inhalte, z. B. in Form eines groben Handlungsrasters. Anbinden des Textthemas an die eigene Erfahrungswelt SuS berichten ggf. von eigenen Erfahrungen und Kenntnissen zum Thema (Vorwissen/Weltwissen). Erst wenn der Text sprachlich erschlossen wurde, können Sie im Unterricht mit dem Interpretationsgespräch beginnen. Es ist stringent, wenn Ihre SuS die Ergebnisse der Analyse auf sich wirken lassen und nachfolgend in die Darlegung ihrer Deutung einbeziehen. In Kap. 1.8.2 finden Sie ein sechsstufiges Phasenmodell, mit dem Sie ein Unterrichtsgespräch strukturieren können, dessen Schwerpunkt das Aufstellen und Überprüfen von (individuellen) Deutungshypothesen darstellt. Dreh- und Angelpunkt ist die persönliche Stellungnahme zum Text: An dieser Stelle haben die SuS die Gelegenheit, über sich zu sprechen, eigene Verstehensvarianten zu thematisieren und mit Mitschülern abzugleichen. In Ergänzung textanalytisch-kognitiver Verfahren bietet sich im Mündlichen wie im Schriftlichen eine Vielzahl kreativitätsfördernder Interpretationsansätze an, die unter dem Begriff produktionsorientierte Verfahren subsumiert werden. Sie stehen überwiegend im Dienste der Texterkenntnis und sind methodische Möglichkeiten, den individuellen Verstehensprozess eines literarischen Textes gleichsam im Unterricht sichtbar zu machen. Daher werden sie auch als .kreative Rezeption' von Texten bezeichnet; die Rückbindung an den literarischen Ausgangstext sollte erkennbar sein. Ganz wichtig ist eine transparente Ziel-sel/.img (inklusive der Angabe des Zieltextformats) für die SuS, damit diese das gewählte Verlähren nicht als ľartpourľarí wahrnehmen. Diese ,'l('xtopcial ionen' können vor, während und nach dem Leseprozess platziert werden. Die folgende Übersicht führt Ihnen die Bandbreite der Möglichkeiten vor Augen, While-reading activities lActivitéspendantla lecture j Activldades durante la ledum Verfahren Hinweise Einen auseinander geschnittenen Text rekonstruieren und selber zusammensetzen; Textpuzzle Geeignet bei Gedichten und kurzen Prosatexten mit linearer Handlung Texte entflechten; Textamalgam: Zwei Texte sind ineinander montiert und müssen von den SuS entflochten werden. Es sind eindeutige stilistische Merkmale oder Anzeichen der inhaltlichen Kohärenz im Text erforderlich. liine (Handlungs-) Lücke in einem Text lullen: Beim ausgegebenen Text fehlen ein Abschnitt, ein Satz oder auch nur wenige Wörter. Die SuS entwickeln Vorschläge /,ur Füllung der Lücke. Die Leerstelle im Text sollte so ausgesucht sein, dass nicht in eine beliebige Richtung weiter geschrieben werden kann. Empfehlenswert sind im Text bereits angelegte Handlungssprünge (z. B. in der Chronologie) bzw. Leerstellen. Die Textproduktion der SuS muss sich organisch mit dem Anschließenden verbinden lassen; das Augenmerk liegt v. a. auf der Textkohärenz. Ein detailliertes Lesen des Ausgangstextes ist die Voraussetzung für dieses Verfahren. Den Schluss eines Textes schreiben Ziel ist nicht, dem originalen Schluss möglichst nahe zu kommen; das würde zu einer bloßen Raterei führen. Vielmehr soll der selbst verfasste Schluss eigene Vorstellungen wiedergeben und als Grundlage für die Auseinandersetzung mit dem u. U. ganz anderen originalen Schluss dienen. Die Texllektüre sollte kurz vor der Einleitung des Höhe- oder Wendepunktes abgebrochen werden. Ergänzen eines inneren Monologs, Unierrichten i Kultur unterrichten Unterrichten | Kultur unterrichtet! Führen eines Lesetagebuchs oder das Ausfüllen von lesebegleitenden Arbeitsblättern bei Ganzschriften Diese lektürebegleitenden und leseverzögernden Formen ermöglichen eine persönliche Stellungnahme zum Text über einen längeren Zeitraum der Textrezeption. Hier ist Raum für Hypothesen zum Fortgang der Handlung, für affektive Eindrille. Eine Besprechung von Lesetagebüchern im Unterricht sollte auf freiwilliger Basis erfolgen. Post-reading activities fActivités aprěs la lecture / Acttviäades de poslectura Verfahren Hinweise Einen Titel formulieren Der Titel kann als kondensierte Form des Textverständnisses gesehen werden. Die SuS bringen so zum Ausdruck, wonach es ihrer Meinung nach im Tex.t geht. Ein Resümee zu einem Text schreiben Die Beschränkung auf wesentliche Elemente der Textwiedergabe zwingt dazu, sich noch einmal den Handlungsablauf, die Charaktere und die Leitmotive (evtl auch Begründungen für Handlungen) bewusst zu machen. Die Aufgabe ist nur für längere Prosatexte geeignet. Man kann eine bestimmte (maximale) Wortzahl vorgeben. Eine Fortsetzung zu einem Text schreiben Die wohl beliebteste produktionsorientierte Aufgabe lautet „Schreibt die Geschichte zu Ende." Sie ist gleichzeitig relativ abgenutzt. Daher sollte darauf geachtet werden, dass man Texte auswählt, deren Schluss offen gestaltet ist. Die Diskussion über die Unterschiedlichkeit der Fortsetzungsgeschichten und deren Motive kann spannende Unterrichtsgespräche initiieren. Eine Vorgeschichte schreiben Zu einem Text wird eine Vorgeschichte geschrieben, die z.B. die Frage aufwirft „Was könnte die Figur früher gemacht haben?". Hierfür eigen sich v. a. Geschichten und Erzählungen, die die Biografie einer oder mehrerer Figuren schildern. Ändern der Erzählperspektive Umschreiben des Textes oder eines Ausschnitts (von der Er-/ Sie-Form in die Ich-Form oder umgekehrt; Einnehmen der Perspektive einer Nebenfigur, sogar eines Tieres oder Gegenstandes); Wechseln der Rollen von z.B. Opfer und Täter, Jugendlichen und Eltern. Das Erfinden weiterer Personen, Orte und Zeitstrukturen kann anheimgestellt werden. Wechseln der Textsorte/ Textgattung Z.B. von Prosa zu Poesie; vom Bericht zur Erzählung; von der Novelle zum Zeitungsartikel, zur Buchbesprechung, zum Märchen, zur Fabel, zum Krimi, zur Gerichtsverhandlung usw. Wichtig beim Schreiben ist die Berücksichtigung von Textsortenspezifika. Eine verwandte Technik besteht im Wechsel des Sprachniveaus bzw. -registers. Visualisieren von Texten Z.B. in Form des Zeichnens einer Spannungskurve, des Gestaltens von Bild- oder Fotocollagen zum Text, eines Comics, einer Werbeanzeige. Inszenieren von Texten -— Z.B. in Form des Schreibens von Mini-Dramen mit Regieanweisungen und von Drehbüchern. 1.6.3 Comics, Cartoons, Graphic Novels, ] Text-Kombinationen Wer kennt sie nicht, die Abenteuer von Mickey Mouse, Donald Duck, Snoopy, Asterix und Obelix oder des argentinischen Mädchens Mafalda? Und auch ikonische Abenteuerhelden - oder unfreiwillige Antihelden - wie Superman, Spiderman, Captain America, Gaston LagafFe, Tintin oder Capitän Trueno sind weltberühmt. Selbst viele Erwachsene erinnern sich gerne an die Comic-Helden, die sie in ihrer Kindheit begleitet haben. Und auch bei vielen SuS sind Comics überaus beliebt. Von diesen Bildergeschichten mit Text, eine visuelle Form des Erzählens, geht eine hohe Motivationskraft aus. Das Erfolgsgeheimnis dieses Genres ist, dass seine zeitlose Komik alle Altersschichten anspricht. So manche Helden überleben seit vielen Generationen; in einigen Figuren (Asterix z.B.) sehen ganze Nationen ihren Nationalcharakter oder typische Eigenschaften widergespiegelt. Auch aus dem Grunde eignen sich Comics als Fundus für interkulturelles Lernen. Mal sind es die mehr oder minder humoristischen Elemente, mal die Missgeschicke, die Antihelden (bei denen alles schief geht), Superhelden, mal die überraschenden Wendungen, die Leserinnen und Leser faszinieren. Dabei sind und waren Comics mitunter nicht unpolitisch, sondern ideologisch gefiirbl. I )ie berühmteste Bildergeschichte der Welt, der Teppich von Baycux, kann al-; erster Comicstrip der Welt angesehen werden. Populär wurden Comic;. Mll dtn 1930er Jahren. Was früher häufig als Heftchen am Kiosk angeln ileu wurde, wird heute in jeder Buchhandlung in einer gesonderten Abtei Im i); lcil);c|iotcii Vi >i .illem in den USA sowie in französisch- und spanischsprachigen Llndfl 11 Wti«en I lornics eine hohe Wertschätzung und lange Tradition auf, die lieh in einer i'normen Bandbreite von Verlagsangeboten, Comic-Salon.-, und i" Ii Ilm lileraturpreisen manifestiert. Die meisten Comics erscheinen d . Sei len, und wenn ein neues Album auf den Markt gebracht wird, feiern die Vi i'hiy.e das wie eine nobelpreisverdächtige literarische Neuerscheinung Keim l'l <■■• Comics haben sich seit Jahrzehnten fest etabliert und sind Teil de» ni........len Kulturguts. Auch wenn fast alle bekannten Comics in «Ii«- r..ninr Ii n n i.....Ihersetzt Werden, macht der Genuss des Sprachwil/es In dei Fremd piiiclie den besonderen Reiz aus. Französisch-Lerncndc wussten - Ii Iii Ii hl ..... > • ..l He spinnen, die Römer" im französischen Asterix helttl.....I • lud.....Ii evil d.iriiherwun- iIitii, dass die Namen einij'.ei l'rnla^'nnl ili i.....i N ni • Ii........I Französischen iinlerschiedlich aiisliilli'ii /TT— i. t:„a.a;a„im\, Et-fni^ncicrTi Dns Handbuch für Theorie ■tw Unterrichten | Kultur unterrichten Unterrichten [ Kultur unterrichten 101 • texllastig: die Aussagen finden sich im Text; die Bilder sind rein illustrativ • korrelativ: Text und Bild bedingen sich gegenseitig; der eine Code könnte ohne den anderen nicht alleine die Aussage vermitteln • parallel: Text und Bild erzählen jeweils ihre eigene Geschichte, ohne sich zu treffen. Die Konsequenzen für den Unterricht sehen folgendermaßen aus: Bei korrelativen Text-Bild-Beziehungen, der am häufigsten anzutreffenden Art, müssen beide Codes gesondert analysiert und gedeutet werden. Bei textlastigen und parallelen Beziehungen muss vorrangig der Text erschlossen werden, um die Botschaft des Comics (oder der Graphic Novel) zu verstehen. Leichter verständlich sind für SuS bildlastige, redundante und auch additive Beziehungen, weil das Verständnis des Comics vorrangig davon abhängig ist, die Bilder zu deuten; das Textverständnis stellt i. d. R. kein Hindernis dar. Die Bildübergänge sind dafür verantwortlich, dass die Leerstelle (der .Rinnstein'), die zwischen zwei Einzelbildern entsteht, im Kopf quasi gefüllt wird. Hier bringen die Lesenden ihre Phantasie ein, füllen damit die inhaltlich Leere, die sich zwischen den Bildern auftut, und bringen die aufeinander folgenden Bilder inhaltlich zusammen. Die möglichen Bildübergänge lassen sich wie folgt kategorisieren: Der Bildübergang (.Rinnstein', engl, gutter, frz. le canivcau, span. la cuneta) entsteht • von Handlung zu Handlung: Es ist wahrnehmbar, was eine oder mehrere Figuren in Handlungsschritten machen • von Motiv zu Motiv: Das Motiv, das Thema eines Bildes wechselt, es steht jedoch in einem inhaltlichen Zusammenhang zu vorangegangenen » von Szene zu Szene: Der Ort und/oder die Zeit zwischen den einzelnen Vignetten haben sich geändert. Hieraus ergibt sich für den unterrichtlichen Einsatz von Comics, dass den SuS zunächst einmal bewusst gemacht werden muss, welcher Art diese Übergänge sein können und dass das .Dazwischen' dafür verantwortlich ist, dass in der Bildergeschichte Zeit vergeht. In der Praxis können die SuS Beispiele für die drei grundlegenden Typen von Bildübergängen innerhalb der Besprechung eines Comics oder aber durch den Vergleich mehrerer Comics herausfinden. Vor allem die Analyse der erzählten Zeit ist für das Gesamtverständnis wichtig. Für die Nutzung des .Zwischenraums' bieten sich kreativitätsfördemde Verfahren besonders bei Übergängen von Szene zu Szene an. Hier können die Lernenden ihre Ideen und Vermutungen äußern, was zwischen den Szenen wohl passiert sein mag, um so eventuelle Leerstellen oder Handlungssprünge zu füllen. ]fiekhi yrtdidf-tfvfa Aktivitäten fvuwt M» ft* Unterricht einsetzen? Die folgenden Methoden bieten sich schon in frühen Lernjahren an: o sukzessives Aufdecken der Bilder und Hypothesen zum weiteren Handlungsverlauf formuüeren • ausgeschnittene Bilder in die richtige Reihenfolge bringen o Sprech- oder Gedankenblasen füllen, Sprechblasen dem Text zuordnen oder umgekehrt o bei einem Comic ohne Text diesen von den SuS erfinden lassen (schriftlich oder mündlich) o Handlungssprünge bzw. Leerstellen füllen o Nacherzählen der Geschichte oder Umwandeln in eine andere Textsorte. Auch eine Diskussion über die Art des Humors erscheint in fortgeschrittenen Lerngruppen sinnvoll. Der Beitrag von Comics zum Aufbau von Text- und Medienkompetenz ist ein besonderer: Comics sind multicodale Texte, bei denen verschiedene semioti-sche Codes ineinander greifen. Sie schulen gleichzeitig das Leseverstehen und das Sehverstehen (visual literacy). Und last but not least helfen sie bei der Ent-schleunigung des Sehens, denn sie bieten nicht so schnelllebige Bilder wie der Film oder Video-Internetportale und führen nicht zur Reizüberflutung. ]fl)ie &\nn ich ft*t Unterricht mit \f}fri>nm Arbeiten? Zum Erwerb von Medienkompetenz gehört auch, das manipulative Potential und die Strategien von Werbung zu entdecken oder zu enttarnen. Werbung wird nämlich nur zu einem einzigen Zweck geschaltet: verkaufen. Heutzutage stellt Werbung nicht einfach nur das Produkt mit seinen spezifischen (und der Konkurrenz überlegenen) Eigenschaften in seinem Gebrauch vor, sondern bettet dieses in eine (häufig witzige) Situation ein. Je humorvoller, desto mehr Aufmerksamkeit wird erregt. Genau das macht Werbung kulturell auch für den Fremdsprachenunterricht bedeutsam. Gemeint sind hier keine Werbeclips (vgl. dazu Filme in Kap. 1.6.5), sondern Bild-Text-Mischformen, wie sie vorzugsweise in Zeitschriften auftreten. Wenn Sie im Unterricht mit Werbung arbeiten, sollten Sie von vornherein transparent machen, dass es nicht um die Bewerbung eines bestimmten Produkts geht. Dieses Problem können Sie umgehen, indem Sie entweder mit der Reklame eines Produkts arbeiten, das es in Deutschland nicht zu kaufen gibt, oder aber einen interkulturellen Vergleich im Sinn haben, indem Sie die Werbung für ein- und dasselbe Produkt in Dent-srhlanrl mit rlpm im I :inrl Ihn« rlen Michael Dobstadt und Renate Riedner (Hrsg.) Literatur Lesen Lernen von Nikolaus Euba und Chanteile Warner Ernst Klett Sprachen Stuttgart Wolfgang Herrndorf // iscnick Texte interpretieren und als Inszenierung sprachlicher Vielfalt kennenlernen tbehicJc umtut, WOLFGHNG HERRNDORF Schwerpunkte Anhand eines Auszugs den Roman „Tschick" und die in ihm verwendeten Erzähltechniken und sprachlichen Mittel sowie deren bedeutungsgebende Funktion und Wirkung kennenlernen. • Die im Roman inszenierte Jugendsprache als künstlerische Form sprachlichen Ausdrucks mit spezifischen Merkmalen, Funktionen und Wirkungen erforschen und erfahren. Das normative Literatur- und Interpretationsverständnis reflektieren und.hinterfragen. Durch verschiedene Transformationen unterschiedliche Perspektiven erkunden und Deutungsprozesse erfahren, aushandeln und reflektieren. Lesetext und Zusatzmaterial Wolfgang Herrndorf: Tschick (KV 6.1) Arbeitsblätter (KV 6.2, KV 6.3, KV 6.4) Link-Liste für Online-Recherche unter www.klett-sprachen.de (Code: rquhbat) Ergänzungstexte von Lebert (KV 6.5) und Zaimoglu (KV 6.6) Wolfgan: Herrndorf Einführung In dieser Einheit geht es am Beispiel eines kurzen Auszugs aus dem Roman „Tschick" von Wolfgang Herrndorf in erster Linie um die bedeutungsgebende Funktion von Erzähltechniken und sprachlichen Mitteln und dabei insbesondere um die im Roman kunstvoll inszenierte Jugendsprache, ihre Merkmale, Funktionen und Wirkungen. Iv.v I ]■:-?'."'•}_■:': Der Romanauszug soll erstens Lust auf den ganzen Text machen, also die Lernenden zum Weiterlesen motivieren. Zweitens sollen sie in der Auseinandersetzung damit für verschiedene formale Aspekte des Textes und deren Wirkungen sensibilisiert werden, wie die Erzähltechnik und die verwendeten sprachlichen Mittel. Im Zentrum steht dabei die subtile Inszenierung von Jugendsprache, die analysiert und auf ihre Wirkungen hin untersucht wird. Indem Jugendsprache hier als literarisches Feature erscheint, wird das kreative Moment erkennbar, das Jugendsprache auch in alltäglichen Zusammenhängen kennzeichnet: Sie ist eine besondere Form des Sprechens und selbst schon eine Art Kunstform mit bestimmten Funktionen. Wolfgang Herrndorf erzählt in seinem mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten und in 25 Sprachen übersetzten Roman „Tschick" (2010) die Erlebnisse von zwei jugendlichen Außenseitern, die sich in den Sommerferien mit einem gestohlenen Auto der Marke Lada auf eine abenteuerliche Reise durch die ostdeutsche Provinz machen. Aufgrund der leicht zugänglichen, humorvollen und an die Jugendsprache angelehnten Erzählweise, aber auch wegen seiner Themen, die auf viele Lebenshintergründe junger Leser und Leserinnen Bezug nehmen, wird der Roman mittlerweile häufig im Rahmen des mutter-und fremdsprachlichen Deutschunterrichts gelesen. In dem hier ausgewählten Textauszug wird eine Deutschstunde geschildert, in der die als Hausaufgabe gestellte Interpretation einer Kurzgeschichte von Bertolt Brecht („Das Wiedersehen") besprochen wird. Der Auszug eignet sich besonders, um dem Konflikt zwischen normativer Interpretation und Deutungsvielfalt im mutter-, fremd- und zweitsprachlichen Literaturunterricht auf literarische Weise zu begegnen. Darüber hinaus dient eine genauere Betrachtung von Herrndorfs Erzählstil auch als Einführung in Aspekte und Funktionen von Jugencs'-'sce Diese sprachliche Varietät ist aufgrund der Altersgruppe vieler Lernender von ca.-: - aaa' Relevanz und kann als facettenreiches Beispiel für die Vielfalt und das kreatr.a sprachlicher Varietäten dienen. Literatur Lesen Lernen Auseinandersetzung mit dem Buchcover: Stellen Sie z^ = z~~ - -------- Romans vor und zeigen Sie das Cover. Wenn Sie selbst er \-_~z y z~z~~-das Buch herum. Andernfalls recherchieren Sie online na;a~ I: . a'.~: : z- - -im Unterrichtsraum. Besprechen Sie anhand des Ti:a ; ;a: e: : a .a-a":- - -~-(einige werden möglicherweise den Roman oder sc ne feri mungsdm zz wie das Cover die Erwar.ü'-.ce- _asende-. :e:a::aa "' Z a a- :: - . \ .-. oder Autobahn impliziert Bewegung und scheint eine Art F:a:~;. a i'Z- äid _:a~ auch fallen die Kleinschreibung des titeigebenden Namens in st ia~.a- -a-;::--~ wA 86 Wolfgang Herrndorf // fschick (Auszug) : a Gattungsbezeichnung Roman auf. Geben Sie dann eine kurze Einführung zum The-~a des Romans und seinen beiden Hauptfiguren (dies kann auch als Kurzpräsentation sn den Lernenden übernommen werden). Vorentlastung der Geschichte in der Geschichte: Zur Vorentlastung und Einführung KV 6.1, S. 93/94 - das Thema des Romanauszugs teilen Sie den Text (KV 6.1) aus und stellen Sie die am -.nfang wiedergegebene Keunergeschichte „Das Wiedersehen" vor. Bei den „Geschich-:en vom Herrn Keuner" handelt es sich um Parabeln von Bertold Brecht. Lesen Sie hierfür :le Geschichte (Zeilen 1-2) vor. Diskutieren Sie spontane Fragen und Reaktionen der _ernenden und besprechen Sie dann, wie man die Geschichte interpretieren könnte Erkenntnis des Stillstands und Erschrecken darüber). Wenn Deutsch nicht die Muttersprache Ihrer Lernenden ist, diskutieren Sie zusätzlich folgende Fragen: Was bedeutet die Redensart "sich gar nicht verändert" haben? Gibt es eine ähnliche Redensart in Ihrer Muttersprache? Wird sie verwendet, um ein Kompliment zu machen? Wie wird darauf reagiert? fi Was bedeutet es, dass Herr K. erbleicht? Ist die Geschichte aufgrund ihrer Kürze leichter oder schwieriger zu interpretieren? Als Hausaufgabe oder gemeinsam im Unterricht lesen die Lernenden den Rest des Textauszugs. Beim zweiten Lesen sollen Notizen zu auffälligen Erzähltechniken und sprachlichen Mitteln gemacht werden. Dabei geht es nicht um eine detaillierte literaturwissenschaftliche Analyse, vielmehr sollen die Lernenden alles notieren, was ihnen auffällt. Die folgenden Fragen dienen als Hilfestellung und können von den Lernenden entweder schriftlich beantwortet werden (KV 6.2) oder von Ihnen im Unterricht an der Tafel festgehalten werden: 1. Aus welcher Perspektive wird der Text erzählt? Was für eine Wirkung hat das? 2. Wie wird der Text erzählt? Was fällt Ihnen an den Wörtern und Sätzen auf? 3. Für wen ist der Roman geschrieben? 4. Wie steht der Erzähler zu Tschick? Kritisch? Bewundernd? Ablehnend? 5. Was wollen Sie über den Erzähler und die andere Hauptperson, Tschick, noch wissen? Aus dem Auszug wird zwar deutlich, dass es sich bei dem Ich-Erzähler um einen Klassenkameraden Tschicks handelt, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird, die Leser erfahren aber an dieser Stelle weder seinen Namen, Maik Klingenberg, noch irgendwelche Details über den 14-jährigen Jugendlichen, dessen wohlhabend-bürgerliches Elternhaus aus einer alkoholabhängigen Mutter und einem an seiner Familie desinteressierten Vater besteht. So wie Maik Tschick als Außenseiter sieht, sieht und beschreibt er sich selbst auch als Außenseiter; eine Rolle, die dementsprechend auch die sich entwickelnde Freundschaft zu Tschick erklärt. Als Hinweis für Maiks Außenseiterstatus könnten die Lernenden bemerken, dass der Erzähler in diesem Kapitel überhaupt nicht mit seinen Klassenkameraden oder dem Lehrer interagiert. Auffälliger wird jedoch sein, dass z'e E-zählperspektive den Roman in gewisser Weise authentisch erscheinen lässt. Dies spiegelt sich vor allem in der Sprachverwendung wider: ein umgangssprachlicher Stil, KV 6.2, S.93 Wolfgang Herrndorf ,7 fschick (Auszug) leicht ironisch, mit vielen kurzen Sätzen und Dialogen sowie einigen jugend- bzw. umgangssprachlichen Ausdrücken („okayen Unterricht", „wie eine Maschine", „wie ein gefrorener Haufen Scheiße", „ganz okay", „ging schon mal das Warnlämpchen an"). Diese jugendsprachlichen Elemente werden von Herrndorf aber nur punktuell eingesetzt; dort, wo sie auftreten, akzentuieren und dynamisieren sie die Sprache des Ich-Erzählers Maik, die ansonsten durch einen ruhigen, unaufgeregten Stil gekennzeichnet ist (vgl. Möbius 2014: 9). So schafft Herrndorf eine Art Kunstsprache, die nicht anbiedernd wirkt und dennoch den Eindruck von Authentizität erzeugt. Dieser Aspekt wird auch in Aufgabe 4 noch einmal aufgegriffen. Diskutieren Sie mit Ihren Lernenden die Frage nach der Wirkung dieser Sprachinszenierung, auch mit Blick auf das Erlernen der deutschen Sprache: Kann man sich als Sprachlernende/r davon etwas abschauen? Die Einstellung des Erzählers gegenüber Tschick kann zu Beginn des Kapitels als eher distanziert-herablassend beschrieben werden: Tschick scheint im Unterricht zu schlafen, hat eine Plastiktüte statt eines Schulranzens und seine anfängliche Reaktion, als er von Kaltwasser aufgerufen wird, lässt nichts Gutes erwarten. Allerdings scheint sich die Einstellung des Erzählers am Ende von Tschicks Monolog geändert zu haben; darauf deutet hin, dass weder Tschick noch seine Interpretation der Keunergeschichte vom Erzähler erwähnt oder kommentiert werden (ein Aspekt, der auch in Aufgabe 6 wieder aufgegriffen wird). Interessant ist auch die Figur Kaltwasser, nicht nur wegen ihres assoziationsreichen Namens. Bemerkenswert sind u.a. die anfängliche Ironie, die Geduld des Lehrers im Umgang mit Tschick und seine Sprachlosigkeit im Hinblick auf dessen Interpretation, die die Lernenden zu unterschiedlichen Spekulationen und Schlüssen anregen werden. Sammeln Sie abschließend, was die Lernenden über den Erzähler und Tschick noch wissen wollen. Diese Fragen können unter Umständen auch von anderen Kursteilnehmerinnen und -Teilnehmern beantwortet werden, die das Buch oder die Verfilmung bereits kennen. Die Fragen können aber auch in Form von ,Mini-Forschungsaufträgen' als Hausaufgabe gestellt werden. In dieser Aufgabe sollen die Lernenden Merkmale und Besonderheiten der Jugendsprache näher kennenlernen und diskutieren und dabei Herrndorfs Sprachgebrauch genauer reflektieren (-* siehe auch die Aufgaben zur Szenesprache im Gernhardt-Kapitel). Zunächst besprechen Sie mit den Lernenden die Frage, was Jugendsprache für sie ist und welche Merkmale sie hat, auch im Vergleich zu den Ausgangssprachen der Lernenden. Als Hausaufgabe sollen die Lernenden dann weitere Informationen über und Beispiele für die deutsche Jugendsprache sammeln (in Online-Zeitungsartikeln, in einschlägigen Wörterbüchern wie etwa dem jährlich erscheinenden PONS Wörterbuch der Jugendsprache oder in wissenschaftlichen Untersuchungen). Um sich authentische Jugendsprache anzuhören, eignen sich z. B. die Youtube-Kanäle oder Instagram-Accounts jugendlicher Internetstars gut. Eine Link-Liste für diese Rechercheaufgabe findet sich online unter www. klett-sprachen.de (Code: rquhbat). Die Rechercheergebnisse werden im Unterricht präsentiert und sollten jeweils mindestens drei konkrete Beispiele enthalten. Die folgenden Fragen können den Lernenden bei der Vorbereitung ihrer Projekte und/oder bei der Diskussion im Unterricht helfen: Welche jugendsprachlichen Wörter kennen Sie? In welchen Kontexten werden sie verwendet? Wolfgang Herrndorf.'/ ischick{Au " Gibt es die eine Jugendsprache? Warum (nicht)? Mit welchen Merkmalen kann Jugendsprache beschrieben werden? • Welche Funktionen kann Jugendsprache haben? Welche anderen Beispiele können Sie finden und erklären? Es soll hier nicht um eine umfassende wissenschaftliche Forschungsarbeit gehen (eine solche findet sich etwa bei Eva Neuland: Jugendsprache: Eine Einführung. Francke: Tübingen, 2008), sondern darum, die Sprachverwendung Jugendlicher in verschiedenen Kontexten kennenzulernen und zu beleuchten. So wird ein hoffentlich breites Spektrum an Merkmalen (z. B. Wortschöpfungen und -spiele, Metaphern) und Funktionen (etwa Abgrenzung, Gruppenidentifikation, identitätsbildung und -festigung, Verstoß gegen sprachlich-gesellschaftliche Normen) aufgefächert und das Kreativitätspotenzial jugendsprachlicher Varietäten illustriert. Die Beiträge der Lernenden können auf einem Flipchart oder an der Tafel stichpunktartig festgehalten werden, sodass auch mögliche Verbindungen und Gemeinsamkeiten aufgezeigt werden können. In der anschließenden Diskussion sollen den Lernenden auch die Gründe dafür bewusst werden, dass es nicht die eine Jugendsprache geben kann - aufgrund der ständigen Veränderungen, der sozialen, regionalen, kulturellen und individuellen Unterschiede und der verschiedenen Kontexte, in denen Jugendsprache verwendet wird. Um den Exkurs wieder auf den eigentlichen Text zurückzuführen, diskutieren Sie abschließend, wie Herrndorf mit Jugendsprache umgeht: Dass er sie in eine Kunstsprache verwandelt, lässt sich vielleicht auch so deuten, dass ihre Sprecher, also Maik und Tschick, nicht einfach nur sagen, was ihnen durch den Kopf geht, sondern dass sie kreativ, formbewusst und mithin künstlerisch mit der Sprache spielen. Der Vergleich mit den eigenen Erfahrungen der Lernenden beim kreativen Umgang mit Sprache und Form, aber auch bei der Nachahmung vorgegebener Muster soll die Aufgabe in Bezug auf die eigenen Lebenswelten relevant und spannend machen. In Aufgabe 4 sollen die Lernenden den Text schriftlich transformieren, indem sie ihn aus einer anderen Perspektive wiedergeben und interpretieren. Dabei reflektieren sie Erzähltechniken und sprachliche Mittel, besonders die jugendsprachlichen Aspekte, mit denen sie selbst spielen können. Möglich ist dabei die Perspektive Tschicks oder eines anderen Mitschülers, die sich besonders zur Verwendung von und zum Spiel mit den in Aufgabe 2 und 3 erarbeiteten jugendsprachlichen Aspekten anbietet. Dies kann in umgekehrter Weise natürlich auch aus der Perspektive Kaltwassers oder der eines neutralen Erzählers geschehen, in der diese sprachlichen Mittel und Erzähltechniken bewusst nicht verwendet werden. Beim Schreiben sollen die Lernenden reflektieren, welchen Einfluss die neue Perspektive auf Wortwahl, Erzählweise und Inhalt hat (beispielsweise etwa die Art, in der Tschicks .Monolog' wiedergegeben wird). Die Transformationen werden anhand eines Schreibprotokolis dokumentiert (KV 6.3), in dem festgehalten werden soll, KV 6.3, S. 93 welche Perspektive eingenommen wird und warum und welche sprachlichen Veränderungen vorgenommen wurden. Anschließend tauschen die Kursteilnehmenden ihre Texte untereinander aus, vergleichen die verschiedenen Versionen und diskutieren deren unterschiedliche Wirkung. KV 6.3 kann auch zur Protokollierung der Beiträge der anderen Lernenden verwendet werden. In diesem Fall erhalten die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer je zwei Exemplare der Kopiervorlage. : Herrndorf // .schick (Auszug) p-1 n ^ In Aufgabe 5 geht es um Tschicks Interpretation der Keunergeschichte und die verschie-r denen Reaktionen darauf. Diese sollen die Lernenden mit ihren eigenen Interpretationsvorschlägen aus Aufgabe 1 vergleichen und so unterschiedliche Deutungsprozesse er-KV 6.4, S.96 fahren und reflektieren. Die Fragen auf KV 6.4 sollen von den Lernenden in Partner- oder Gruppenarbeit bearbeitet und anschließend im Plenum besprochen werden. Brechts „Das Wiedersehen" wird bei Tschick zum Kriminalthriller, was den Text für ihn spannend und verständlich macht (-» hier lassen sich Parallelen zur Goethe/Plenzdorf-Einheit herstellen). Kaltwasser zeigt keine Reaktion, er kommentiert die Interpretation nicht und gibt auch keine Zensur: Hier können Sie mit den Lernenden diskutieren, welche Reaktionen sie aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen erwarten würden und was dieses Nicht-Reagieren zu bedeuten hat. Der Erzähler, Maik, reagiert mit einer gewissen Überraschung auf Tschicks Interpretation und die mangelnde Reaktion Kaltwassers, die fast schon als Bewunderung gesehen werden kann, wenn man sie mit der eher herablassenden Beschreibung Tschicks und den negativen Vorahnungen bezüglich seines Aufgerufenwerdens zu Beginn des Kapitels vergleicht (siehe auch Aufgabe 1). Im Anschluss können die Reaktionen der Lernenden selbst zu einer spannenden Diskussion führen, die Sie auch als Debatte gestalten können, bei der die Lernenden einzelne (nicht unbedingt ihre eigenen) Standpunkte vertreten und begründen müssen, beispielsweise die Forderung nach einer besonders schlechten oder guten Zensur. Und zum Abschluss der Diskussion kommen Sie auf das Konzept der .richtigen' Interpretation zu sprechen - gibt es so etwas überhaupt und wenn ja, ist sie bei Google zu finden? Hier wird einerseits Herrndorfs Ironie auffallen, andererseits eröffnet sich die Möglichkeit, mit den Lernenden allgemein darüber zu sprechen, ob und inwiefern normative Interpretationen literarischer Texte im ....... Unterricht die Lust am Lesen fördern oder behindern können. Die Lernenden schreiben in Gruppenarbeit ein Theater-/Filmskript für den gesamten Textauszug (KV 6.1) und inszenieren anschließend die Szene unter Einbezug der anderen Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer (-» dieser Aufgabentyp findet sich in ähnlicher Form auch in den Einheiten zu Cirak, Kafka, Bichsei). Die Lernenden arbeiten in kleinen Gruppen, interpretieren den Text und müssen Bedeutungen und Interpretationen untereinander aushandeln. Im Anschluss werden die verschiedenen Transformationen vorgestellt und im Plenum verglichen und diskutiert. Zur Vorbereitung und Protokollierung können die Kopiervorlagen zur Entwicklung eines Storyboards und zur Dokumentation des Filmprojekts aus dem -» Kafka-Kapitel verwendet werden. Bei der abschließenden Reflexion sollen die Lernenden auf die folgenden Fragen achten, die Sie an die Tafel schreiben können: Wie haben Sie die Rollen besetzt und aufgeteilt? Warum? ■ Gibt es Elemente der Jugendsprache in Ihrer Inszenierung? Welche? Wie unterscheidet sich Ihre Film-/Theaterszene von der literarische- ,:'=:e" 90 Wolfgang Herrndorf .7' [schick (Auszug) ^CQ p Im Vergleich zu dem Textausschnitt und/oder den Dramatisierungen bzw. Verfilmungen der Lernenden bietet sich die 2015 entstandene Verfilmung des Romans „Tschick" von Fatih Akin an. Hier eignen sich vor allem die Perspektive, aus der die Geschichte im Film geschildert wird, und die Verwendung von jugendsprachüchen Elementen gut zur Diskussion. Eine ebenso reizvolle Diskussion kann der Vergleich des Textes mit einem Auszug aus KV 6.5, S. 97 dem autobiografischen Roman „Crazy" von Benjamin Lebert (1999) (KV 6.5) ergeben, in dem der erst 16-jährige Autor von seiner Zeit in einem Internat erzählt und dabei viele für Jugendliche relevante Themenbereiche, wie etwa das Erwachsenwerden und die Pubertät, behandelt. Hier lässt sich die Sprachverwendung vergleichen, auch im Hinblick auf ihre Wirkung und (vermeintliche) Authentizität: Wie bei Herrndorf handelt es sich hier um eine Kunstsprache, deren Verhältnis zum eigenen Sprachgebrauch reflektiert werden kann. Lebert setzt jugendsprachliche Ausdrücke ebenso gezielt ein wie Herrndorf, allerdings kennzeichnet sich seine Sprache durch einen extrem kurzen Satzbau, der eine Art Bewusstseinsstrom des Erzählers suggeriert. Die Lernenden können aber auch allgemeiner Parallelen und Unterschiede zwischen den beiden Protagonisten herausarbeiten (etwa bei einem Vergleich der beiden ersten Kapitel). Zum Sprachvergleich lässt sich auch ein Auszug aus Feridun Zaimoglus „Abschaum - KV 6.6, S.98/99 die wahre Geschichte von Ertan Ongun" (1997) (KV 6.6) heranziehen, in dem mit ausdrucksstarker Sprache die Erlebnisse eines drogenabhängigen und kriminellen Deutschtürken erzählt werden. Auch hier handelt es sich um eine Kunstsprache, allerdings ist Zaimoglu wesentlich radikaler und konsequenter, was den Einsatz von sprachlichen Mitteln (einschließlich Orthografie, Satzbau und Satzmelodie) betrifft. Literaturhinweise zu diesem Kapitel Möbius, T. (2014): Textanalyse und Interpretation zu Wolfgang Herrndorf, Tschick: Alle erforderlichen Infos für Abitur, Matura, Klausur und Referat plus Musteraufgaben mit Lösungsansätzen (3. Aufl.), Hollfeld: Bange. 91 Wolfgang Herrndorf//Tschick (Auszug) Auf einen Blick Phase Lerneraktivität Material Dem Text begegnen ^ Die Lernenden lesen den Anfang des Kapitels, die Wiedergabe der Keunergeschichte „Das Wiedersehen" von Bertolt Brecht und besprechen mögliche Interpretationen. Buchcover KV 6.1: Keunergeschichte (Zeile 1-2 des Textausschnitts) Den Text lesen ^ Als Hausaufgabe oder im Unterricht lesen die Lernenden den Auszug vollständig, identifizieren dabei Erzähltechniken und sprachliche Mittel und diskutieren im Anschluss deren Wirkung. KV 6.1: Lesetext „Wolfgang Herrndorf: Tschick" KV 6.2: Arbeitsblatt „Die Geschichte lesen" Jugendsprache begegnen und erforschen ^ Die Lernenden recherchieren Merkmale und Funktionen von Jugendsprache, präsentieren und diskutieren Beispiele und setzen diese in Bezug zum Text. Online-Recherche Transformation und Textproduktion Die Lernenden geben den Text unter Verwendung oder Änderung jugendsprachlicher Elemente aus einer anderen Perspektive wieder und erfahren und reflektieren die damit verbundenen Bedeutungswechsel. KV 6.3: Schreibprotokoll Eine Interpretation interpretieren ^ Die Interpretation der Keunergeschichte durch Tschick und deren Wirkung werden untersucht und zu den Reaktionen der Lernenden in Bezug gesetzt. KV 6.4: Arbeitsblatt „Eine Interpretation interpretieren" Inszenierung einer Film-/Theaterszene ^ Die Lernenden transformieren den Romanauszug in eine Film- oder Theaterszene, stellen sie vor und reflektieren darüber. aus dem Kafka-Kapitel: KV 7.5: „Storyboard" KV 7.6: „Filmprotokoll" Ergänzungstexte: „Tschick" (Film von Fatih Akin), „Crazy" (Benjamin Lebert), „Abschaum" (Feridun Zaimoglu) ^ Ein Ausschnitt aus dem Film „Tschick" und Auszüge aus den Romanen „Crazy" und „Abschaum" werden von den Lernenden gesehen bzw. gelesen und mit „Tschick" verglichen. KV 6.5: „Benjamin Lebert: Crazy" KV 6.6: „Feridun Zaimoglu: Die Spielhallen-Überfall-Story" 92 RAINER E. WICKE Kopiervorlagen Hueber Verlag VORWORT Zwischendurch mal... schüierorientiert mit literarischen Texten arbeiten Wie der bereits in dieser Reihe erschienene Band Zwischendurch mal... Gedichte befasst sich auch die vorliegende Publikation mit dem Einsatz literarischer Texte im fremdsprachigen Deutschunterricht; hier stehen jedoch kürzere Geschichten im Mittelpunkt der Arbeit. Dies hat seinen Grund, denn zum einen wurden die hier enthaltenen Kurzgeschichten ausgewählt, um das häufig von ausländischen Deutschlehrerinnen und -lehrern geäußerte Argument zu entkräften, dass man aufgrund der Lehrbucharbeit und des damit verbundenen Zeitdrucks nicht zusätzlich literarische Texte im Unterricht einsetzen kann. Erfahrungsgemäß lässt sich kein Lehrbuch - und sei es noch so gut - Seite für Seite und Aufgabe für Aufgabe einsetzen. Auch hier müssen bestimmte Inhalte besonders betont und erweitert werden, z.B. weil sie im Leben der Schüler eine bestimmte Bedeutung haben. Andere Kapitel, Texte oder Aufgaben können und müssen dagegen ausgelassen werden, weil sich ein Bezug zur Lebenswelt der Schüler nicht herstellen lässt oder weil ein bestimmtes Thema nicht relevant für sie ist. Diese Erweiterung von Themen bzw. das Füllen von entstehenden Lücken können durch den Einsatz von Literatur erreicht werden. Lehrwerksarbeit und Literaturbehandlung schließen sich nicht grundsätzlich gegenseitig aus, vielmehr können diese sich sinnvoll ergänzen (Ünal, 2010, S. VII). Das Thema Schule und Unterricht wird z.B. oft und gern in gängigen Lehrwerken behandelt, und somit kann eine sehr kurze Geschichte wie Nicht versetzt von Peter Weiss unkompliziert in die Lehrbucharbeit integriert werden, denn deren Thematik nimmt die Schülererfahrungen sehr ernst. Der zeitliche Aufwand für die Behandlung dieser Geschichte dürfte eine Unterrichtseinheit von fünfundvierzig Minuten - im Extremfall eine Doppelstunde - nicht überschreiten. Ähnlich verhält es sich mit dem Thema Umweltschutz, das in Edith Schreiber-Wiekes wunderbarer Kurzgeschichte Der Pelzmantel die Handlung weitgehend bestimmt. Wenn dieses Thema intensiver behandelt werden soll, kann Helga Schuberts Der Baum in diesem Zusammenhang ebenfalls sinnvoll eingesetzt werden. Wie aus diesen Beispielen hervorgeht, kann die vorliegende Sammlung interessierten Kolleginnen und Kollegen dabei behilflich sein, ihren Deutschunterricht durch die Aufnahme literarischer Kurztexte anzureichern und somit die mitunter etwas einseitige Lehrbucharbeit aufzulockern. Kombinationen dieser Art sind auch mit den restlichen Kurzgeschichten in diesem Band möglich. Aber dies bedeutet nicht zwingend, dass die Geschichten nur in Verbindung mit dem jeweiligen Lehrbuch Verwendung finden können, selbstverständlich sind diese auch ohne Anbindung an ein Lehrwerk einsetzbar. Andererseits soll jedoch auch der sogenannte „Literaturschock" abgefangen werden, der häufig an Schulen im Ausland (aber auch an denen in der Bundesrepublik Deutschland) registriert werden kann. Der Einsatz literarischer Texte erfolgt an diesen Schulen mitunter nur in bestimmten Jahrgangsstufen oder Klassen, weil dort entsprechende Kompetenzen vorausgesetzt werden oder die Bestimmungen zu einer Prüfung deren Einsatz fordern. Zwischendurch mal... kurze Geschichten bietet Schülern und Lehrern die Möglichkeit, bereits im Anfangsunterricht mit Texten zu arbeiten, um den Schülern im Verlauf ihrer Schulzeit den graduellen Erwerb sogenannter literarischer Kompetenzen frühzeitig r_ 5r~ögiichen: Ein derartiger Literaturschock droht immer dann, wenn Fremdsprachenlernende mit literarischen Texten in den ersten Lernjahren kaum konfrontiert sind, später jedoch plötzlich den Anforderungen des fremdsprachlichen Literaturunterrichts gerecht werden müssen. Aber dieser Schock lässt sich vermeiden, indem man von Anfang an Literatur in den Fremdsprachenunterricht integriert. (Ünal, 2010, S. 33 Daher wird bei dem Einsatz literarischer Texte davon ausgegangen, dass diese im Rahmen einer notwendigen systematischen Heranführung bereits einen Stellenwert in den unteren Jahrgangsstufen und Klassen haben. Hier werden die Grundlagen für den weiterführenden Unterricht gelegt (Wicke, 2012, S. 154). Die vorliegende Anthologie enthält daher auch Beispiele wie Franz Hohlers Der Verkäufer und der Eich; aber auch die bereits erwähnte Kurzgeschichte Nicht versetzt von Peter Weiss. Diese Texte - wie andere auch - lassen sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits relativ früh einsetzen, sofern die entsprechenden Deutschkenntnisse vorhanden sind. Natürlich setzen Kurzgeschichten wie z.B. Heinrich Bolls Anekdote von der Senkung der Arbeitsmoral oderTibor Derys Liebe schon (literarische) Vorkenntnisse und einen bestimmten Sprachstand bei den Schülern voraus, sodass diese nur mit fortgeschrittenen Lernern einsetzbar sind. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Bearbeitung solcher Texte den Teilnehmern, die durch die regelmäßige Konfrontation mit literarischen Texten über entsprechende Erfahrungen verfügen, keine nennenswerten Schwierigkeiten bereiten dürfte. Zwischendurch mal... kurze Geschichten basiert auf dem Konzept, literarische Texte so aufzubereiten, dass sie den Lemern einen individuellen Zugang ermöglichen bzw. Anknüpfungspunkte an deren Lebenserfahrungen und Interessen berücksichtigen: Die Konfrontation der eigenen Welt mit der fremden Welt bringt den Leser zur Reflektion der Fremdheit und der eigenen Erfahrungswelt. Man sagt auch: Die eigenen Normen werden konfrontiert mit den im Text vermittelten. Die eine Kultur, die des Lesers, tritt in einen Dialog mit der anderen, der des Textes. (Ünal, 2010, s. 19) Daher bieten Fragen des Umweltschutzes, wie sie in Der Pelzmantel angesprochen werden, Aspekte der kindlichen Erziehung in Tucholskys Glosse Wo kommen die Löcher im Käse her? oder die Begegnung mit anderen Menschen in unserer heutigen Gesellschaft in Federica de Cescos Spaghetti für zwei Möglichkeiten des interkulturellen Vergleichs und der persönlichen Stellungnahme. Durch die Bereitstellung unterschiedlicher Aufgaben wird den Teilnehmern darüber hinaus die Möglichkeit gegeben, dem Text selbstständig einen Sinn zu geben bzw. eigenverantwortlich Deutungsversuche zu unternehmen: Wenn wir die Lektüre literarischer Texte als ein Ereignis betrachten, das von dem Vorverständnis und den Erwartungen der Leser ausgeht, dann bedeutet dies für das Verstehen, Lehren und die Entwicklung von Aufgaben, dass der Leser befähigt wird, Erwartungen aufzubauen, Deutungshypothesen zu entwickeln, Ergänzungen vorzunehmen, Andeutungen zu vervollständigen, zwischen den Zeilen zu lesen und Schlussfolgerungen zu ziehen. (Bredella, 2007, S. 79) Wie aus diesem Zitat hervorgeht, wurde Zwischendurch mal... kurze Geschichten so angelegt, dass die Bedürfnisse, Erwartungen und Interessen der Lernenden - analog zur Fremdsprachendidaktik der letzten dreißig Jahre - in den Mittelpunkt der Arbeit gestellt werden (Bredella, 2010, S. XXXV). Im Rahmen des handlungsorientierten Lernens erhalten die Teilnehmer daher Gelegenheit, mit den ausgewählten Texten produktiv umzugehen, indem sie kreativ an und mit diesen arbeiten, Produkte erstellen und somit eigene Deutungsversuche einbringen und nicht mit einer idealtypischen Interpretation belehrt werden: Der handtungs- und produktionsorientierte Ansatz, der in den letzten Jahrzehnten die Literaturdidaktik dominierte, entwickelte sich u.a. als Reaktion auf ein einseitig analytischinterpretierendes Vorgehen im Literaturunterricht und als Reaktion auf ein Unterrichtsgespräch, das dem Ziel diente, die „richtige" Deutung des Textes zu vermitteln. (O'Sullivan/Rösler, 2013, S. 141) Es kann mit gutem Gewissen davon ausgegangen werden, dass die Teilnehmer durch die in Zwischendurch mal... kurze Geschichten vorgeschlagenen Arbeitsformen, Methoden und Techniken und durch das kreative, verändernde, fantasievolle Eingreifen in den Text selbstständig Sinnbildungen vornehmen können und bessere Einsichten als durch interpretierende Monologe des Lehrers erhalten (vgl. Bredeila, 2012, S. 49 und Ünal, 2010, S. 18). Der Verfasser dieses Vorworts ist sich dessen bewusst, dass ein solcher rezeptionsästhetischer Ansatz, bei dem die Teilnehmer selbst Verantwortung für den eigenen Lernprozess übernehmen, die Lehr-und Lerntradition in manchen Ländern sicherlich nicht total infrage stellen, aber durchaus verändern werden wird. Aber wer Veränderungen erreichen will, muss eben auch neue Wege beschreiten: Um offene Prozesse gestalten zu können, kann man nicht auf Routinen und Standards zurückgreifen, sondern muss man sich etwas Neues einfallen lassen, muss man ausgetretene Pfade verlassen und Neues realisieren. (Brater et al., 2011, S. 71) Dazu will die vorliegende Publikation ebenfalls Mut machen, nämlich den Versuch zu unternehmen, in der Vergangenheit bewährte Verfahren bei der Behandlung literarischer Texte durchaus zu übernehmen, aber auch Aspekte eines lernerorientierten offenen Literaturunterrichts in den Deutschunterricht einfließen zu lassen. (Literarische) Kompetenzen, persönliche Haltungen usw. entwickeln sich erst bei der praktischen Erprobung neuer Verfahren und in der Auseinandersetzung mit konkreten Erfahrungen (a. a. 0., S. 273). Die Einführung von sogenannten Bildungsstandards hat nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch im Ausland einen Entwicklungsprozess ausgelöst, der von der Input- zur Outputorientierung geführt hat: Es geht seitdem weniger darum, welchen Stoff die Schüler lernen sollen, als darum, was sie nachher können sollen. Das ist nur vordergründig dasselbe. In der Praxis führt es oft dazu, dass Lehrer ihre Klassen auf das Beherrschen bestimmter Fertigkeiten trainieren, die in den Standards festgelegt sind - vor allem fürs Abitur. Und ihnen gezwungenermaßen mehr die Essenz und weniger den Geist von Literatur, Sprache oder auch Mathematik beibringen, ihnen mehr den Nutzen und weniger den Selbstzweck von Bildung ans Herz legen, den ziellosen Spaß an ihr. (Fritzen, 2013, S. 8) Inzwischen mehren sich die kritischen Stimmen zu der weitgehend utilitaristisch geprägten Standardisierung nach PISA und der Tendenz, global vergleichbare Standards zu setzen. Dies wird in einem Gespräch deutlich, das der Journalist Christian Füller mit Julian Nida-Rümelin, dem ehemaligen Kulturstaatsminister der Bundesregierung und jetzigen Philosophie-Professor an der Universität München, geführt hat: Wenn Sie genau hinschauen, erkennen Sie, dass das ganze PISA-Programm auf berufliche Verwertbarkeit und nicht auf Persönlichkeitsbildung ausgerichtet ist: Warum bezieht sich Lesekompetenz in den Testfragen fast ausschließlich auf Gebrauchstexte und nicht etwa auf literarische Texte? (Füller, 2013) In diesem Gespräch spricht sich Nida-Rümelin ebenfalls deutlich für die Entwicklung von Lesekompetenz der Schüler in Fremdsprachen aus, um ein noch besseres Verständnis von anderen Kulturen zu erhalten. Ein erklärtes Ziel von Zwischendurch mal... kurze Geschichten ist es daher auch, den Lernenden bei der Entwicklung und bei dem Ausbau fremdsprachiger literarischer und sprachlicher Kompetenzen neue Wege aufzuzeigen, ohne dass diese ausschließlich durch den Lehrer gesteuert werden. Es gilt, den Erwerb der fremden Sprache zu fördern, indem die Schüler sich (induktiv) zusätzliche Kenntnisse aneignen, um ihre sogenannte kulturelle und ästhetische Diskursfähigkeit zu fördern, die in Studium und Beruf vorausgesetzt werden (Bredella, 2010, S. 4, und Frederking et al., 2013, S. 132). Daher werden bei der Bearbeitung der Texte auch Kunstbilder und Fotos, z.B. in Tibor Derys Liebe oder in Helga Schuberts Der Baum und Ilse Aichingers Das Fenstertheater eingesetzt, um Aspekte des fächerüber-greifenden Unterrichts zu berücksichtigen (Wicke, Rottmann, 2013, S. 4). Somit enthält das Buch auch "schlage zur zeichnerischen Umsetzung von Inhalten der Texte oder zur Anfertigung von Collagen zu Persorten, um den Lernenden Gelegenheit dazu zu geben, Aspekte ihrer künstlerischen Vorbildung " - "A"'z'i einfließen zu lassen. Auf manchen Leser wird es befremdlich wirken, dass die einzelnen Texte immer wieder durch vorgeschlagene Aufgaben und Aktivitäten unterbrochen werden bzw. dass die Lektüre erst nach deren Bearbeitung fortgesetzt werden sollte. Diese Strukturierung wurde bewusst vorgenommen, um gewährleisten zu können, dass die Motivation der Lernenden, sich mit den Texten zu befassen, nicht durch die Konfrontation mit sogenannten „Bleiwüsten" schwindet. Daher wurden Aufgaben eingebaut, die die Lernenden schon im Leseprozess zur Auseinandersetzung mit dem Gelesenen anregen und zum Weiterlesen animieren (Suhrkamp, 2007, S. 178). Die Werkzeuge zur Arbeit mit literarischen Texten (als kostenloser Download erhältlich unter https:// shop.hueber.de/de/zwischendurch-mal-kurze-geschichten.htmt#musterseiten) helfen interessierten Leserinnen und Lesern dabei, Texte ihrer eigenen Wahl entsprechend aufzubereiten. Somit soll professionellen Lerngemeinschaften die Arbeit im Sinn einer didaktischen Werkstatt erleichtert werden. Allen Lesern wünsche ich bei der Nutzung von Zwischendurch mal... kurze Geschichten viel Erfolg. Odenthal, Februar 2014 Rainer E. Wicke DANK Lothar Bredeila und Hans Hunfeld danke ich für die jahrelange Diskussion über den Einsatz literarischer Texte im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht und vor allen Dingen für ihre Unterstützung. Sowohl von Bredellas rezeptionsästhetischem Ansatz als auch von Hunfelds Skeptischer Hermeneutik gingen wertvolle Impulse aus, die die Didaktisierungen in Zwischendurch mal... kurze Geschichten wesentlich beeinflusst haben. Auch der grenzüberschreitende professionelle Austausch mit Cigdem Ünal, Hacettepe Universität, Ankara/Türkei hat mich in meiner Arbeit sehr bestätigt. Rainer Domisch (ehemals Fachberater der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen in Helsinki/Finnland) und Krystyna Götz (ehemalige Fachberaterin in Warschau und jetzige Fachschaftsberaterin der Zentralstelle in Krakau/Polen) bin ich zu Dank für die Erprobung in Seminaren verpflichtet. Dank gebührt auch der Bildungskooperation Deutsch des Goethe-Instituts, die mir die Erprobung einzelner Texte in inländischen Landeskunde/Methodik-Seminaren in der praktischen Arbeit mit ausländischen Deutschlehrerinnen und -lehrern ermöglicht hat. Der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen danke ich für den Einsatz der Texte in Vorbereitungs- und Fortbildungsseminaren im In- und Ausland. Beatrix Solf (ehemals Goethe-Schule, Buenos Aires/Argentinien) danke ich für ihre Ideen zu Kurt Marlis Happy End, die ich in etwas veränderter Form einbezogen habe. Zu ganz besonderem Dank bin ich aber den Schülerinnen und Schülern der neunten Klasse der Deutschen Schule Barcelona verpflichtet, in der ich Happy End während eines Vorbereitungslehrgangs der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (2012) im Unterricht erfolgreich ausprobieren konnte. 1 FRANZ HOHLER EINE FLUGZEUGGESCHICHTE In einem Flugzeug löschten während eines sehr unruhigen Fluges plötzlich drei Buchstaben einer Leuchtschrift aus. Die Aufforderung NO SMOKING hieß jetzt NO KING. Dem schenkte niemand Beachtung, bis die Passagiere bemerkten, dass trotz der Ankündi-5 gung, man werde jetzt bald landen, das Flugzeug nicht landete. Einigen Leuten schien es, der Ankunftsort sei erreicht, und sie glaubten, ihn bereits tief unter sich wahrzunehmen, tiefer unten, als die Stadt eigentlich bei einem Anflug hätte sein müssen. Es machte sich jetzt auch eine gewisse Hast unter den Stewardessen 10 bemerkbar, man sah, dass sich zwei etwas zuflüsterten und sich dann die dritte zur Pilotenkabine begab. Als sie wieder herauskam, war sie sehr bleich, und ihre Lippen zitterten, als sie sagte: „Ist zufällig ein König unter den Passagieren?" In der ersten Klasse erhob sich ein kleiner, dunkler, kraushaariger 15 Herr mit einer goldumrandeten Brille und stellte sich als König eines afrikanischen Landes vor, das wie Basotho oder Basoko tönte. Die Stewardess batihn, mit ihr nach hinten zu kommen. Dort sprach sie sehr eindringlich mit ihm, aber so leise, dass niemand verstand, was sie sagte. Man sah nur, wie sich gleich 20 darauf eine Luke im Boden öffnete, durch die der König in aufrechter Haltung, wenn auch mit etwas traurigem Blick, hinaussprang. Hierauffiel die Leuchtschrift ganz aus, und das Flugzeug landete mit geringer Verspätung an dem zur Ankunft vorgesehenen Ort. Franz Hohler (geboren 1943 in Biel) ist Schriftsteller, Kabarettist und Liedermacher. -Seine Geschichten schildern oft Alltagsbeobachtungen, die plötzlich ins Absurde kippen Lesen Sie Abschnitt 1 der Geschichte und diskutieren Sie die folgenden Fragen in einer Gruppe. Stellen Sie Ihre Ergebnisse im Plenum vor. Warum wurden die Stewardessen unruhig? Was berichtet die dritte Stewardess den Piloten? Wie reagieren diese? Lesen Sie Abschnitt 2. Entwerfen Sie zu zweit das Gespräch der Stewardess mit dem Herrn. Präsentieren Sie das Gespräch im Plenum. Äußern Sie Vermutungen, wie die Geschichte endet, und schreiben Sie ein eigenes Ende. Vergleichen Sie Ihren Text mit dem Ende der Geschichte von Franz Hohler. 9 KOPIERVORLAGE Abschnitt 1 In einem Flugzeug löschten während eines sehr unruhigen Fluges plötzlich drei Buchstaben einer Leuchtschrift aus. Die Aufforderung NO SMOKING hieß jetzt NO KING. Dem schenkte niemand Beachtung, bis die Passagiere bemerkten, dass trotz der Ankündi-5 gung, man werde jetzt bald landen, das Flugzeug nicht landete. Einigen Leuten schien es, der Ankunftsort sei erreicht, und sie glaubten, ihn bereits tief unter sich wahrzunehmen, tiefer unten, als die Stadt eigentlich bei einem Anflug hätte sein müssen. Es machte sich jetzt auch eine gewisse Hast* unter den Stewardessen 10 bemerkbar, man sah, dass sich zwei etwas zuflüsterten und sich dann die dritte zur Pilotenkabine begab. * -e Hast, - = -e Eile, - Abschnitt 2 Als sie wieder herauskam, war sie sehr bleich, und ihre Lippen zitterten, als sie sagte: „Ist zufällig ein König unter den Passagieren?" In der ersten Klasse erhob sich ein kleiner, dunkler, kraushaariger 15 Herr mit einer goldumrandeten Brille und stellte sich als König eines afrikanischen Landes vor, das wie Basotho oder Basoko tönte. Die Stewardess bat ihn, mit ihr nach hinten zu kommen. Dort sprach sie sehr eindringlich mit ihm, ... ----------...........-------.........--------......-----..........----- Ende ... aber so leise, dass 20 niemand verstand, was sie sagte. Man sah nur, wie sich gleich darauf eine Luke im Boden öffnete, durch die der König in aufrechter Haltung, wenn auch mit etwas traurigem Blick, hinaussprang. Hierauffiel die Leuchtschrift ganz aus, und das Flugzeug landete mit geringer Verspätung an dem zur Ankunft vorgesehenen Ort. 66