„Ist das Literatur? ... Was ist denn Literatur?" Ein Rückblick und Ausblick auf die Rolle der Literatur im Unterricht Deutsch als Fremdsprache Simone Schiedermair 1. „Ist das Literatur? ... Was ist denn Literatur?" Ich möchte meinen Beitrag, der einen Überblick über die Rolle der Literatur in Deutsch als Fremdsprache geben soll, mit einem längeren Zitat aus einem literarischen Text beginnen, mit einer Passage aus dem 1999 erschienenen Roman „Crazy" von Benjamin Lebert.1 Hier findet sich auch das Zitat aus dem Titel meines Beitrags: „Ist das Literatur? ... Was ist denn Literatur?". In diesem Textabschnitt wird eine Szene in einem Zugabteil beschrieben, in einem Intercity zwischen Rosenheim und München, abends zwischen 21 und 22 Uhr. Der Ich-Erzähler, der sechzehnjährige Benjamin, und seine Freunde Kugli, Troy, Florian, Felix und Janosch, alle Internatsschüler auf Schloss Neuseelen, haben einer spontanen Idee folgend ohne Erlaubnis das Internat verlassen, im Dorf den Bus nach Rosenheim genommen, sich dort Fahrkarten für den Zug besorgt und sind nun auf dem Weg nach München. Als Lesende sehen wir die sechs Jugendlichen im Zug sitzen: Janoschs Finger fahren über sein schwarzes Polohemd. In seinem Gesicht glitzert die Freiheit. Er freut sich auf München. Ich sehe wieder aus dem Fenster. Am Horizont glimmen die roten Lichter eines Fliegers in der Dunkelheit. Wohin er seine Passagiere wohl bringen mag? Weiter vorne, bei den Schienen haben vier Jugendliche ein Feuer gemacht. Gemütlich sitzen sie auf einer Erhöhung und rauchen. Schnell rasen wir an ihnen vorbei. [...] Ich greife nach meinem Rucksack und hole einen Schokoriegel und meine Lektüre hervor. Draußen sehe ich ein paar Sterne. Das Flugzeug ist verschwunden. Ich umklammere das Buch mit beiden Händen. Streiche mit den Daumen darüber. Das Deckblatt fühlt sich glatt und griffig an. Ich liebe es, über Bücher zu streichen. Das gibt mir so ein beruhigendes Gefühl. Das Gefühl, daß etwas in dieser Welt noch festgehalten werden kann. Obgleich alles so 1 Der Roman hat autobiographische Züge. Benjamin Lebert hat ihn als 16-Jähriger geschrieben. 15 Simone Schiedermair schnell vorbeirinnt. Dieses Gefühl habe ich besonders bei neuen Büchern. Und das Buch hier ist neu. Ich habe es von meinem Vater gekriegt. F,s ist ein Taschenbuch. Er sagt, es sei das beste Buch, das jemals über das Leben geschrieben worden ist. Aus dem hinteren Teil lugt noch der Kassenzettel hervor. 7,90 DM. Vielen Dank für den Einkauf. Ihr Bücherladen Lehmkuhl. Mein Vater hat mir dieses Buch beim letzten Heimfahrwochenende gegeben. Es riecht noch ziemlich frisch. Ein schöner Geruch. [...] Rechts an der Seite heißt es in weißer, dicht gedrängter Schrift: Der alte Mann und das Meer von Ernest Hemingway. Ein toller Titel, finde ich. Der schmeckt gleich nach etwas. Da möchte man sofort lesen. Und das tue ich auch. Langsam schlage ich das Buch auf. [...] Ich beginne zu lesen. [...] Die Buchstaben und Sätze fliegen mir zu. Es ist ein schönes Buch. Jeder Ausdruck, jede Bemerkung trifft in mein Herz. [...] Es ist wirklich ein sagenhaftes Buch. Ich habe noch nicht einmal ein Viertel gelesen, da breche ich schon in Tränen aus. Ergriffen presse ich das Taschenbuch an meine Brust. Ich danke meinem Vater, daß er mir dieses Buch gekauft hat. Und ich danke Emest Hemingway dafür, daß er so eine Geschichte erzählen kann. Ich schneuze in ein Taschenruch. Janosch schaut lachend zu mir herüber. [.,.] „Was hast du denn da gelesen?" fragt Janosch dann. „Der alte Mann und das Meer", antworte ich. „Der alte Mann und das Meer, wie?" fragt Janosch und faltet seine Hände zusammen. „Das soll ja ziemlich gut sein. Meinst du, du kannst mir daraus vorlesen? Einfach so? Zum Spaß? Wir haben ja sowieso noch ein wenig zu fahren. Außerdem möchte ich mal Literatur gelesen haben." „Ist das Literatur?" frage ich. „Ich schätze schon", antwortet Janosch." „Was ist denn Literatur?" frage ich. „Literatur ist, wenn du ein Buch liest und unter jeden Satz ein Häkchen setzen könntest - weil es eben stimmt", erklärt Janosch. „Weil es eben stimmt?" wiederhole ich. „Das verstehe ich nicht." [kursiv i.O., S. Sch.] (Lebert 2009: 139-142) Und dann verfolgen wir als Lesende noch eine weitere Romanseite lang (ebd.: 143), wie Benjamin und sein Freund Janosch darüber diskutieren, was wohl Literatur ist und ob man das überhaupt wissen kann, wenn man - wie Janosch - nur zwei Bücher gelesen hat. Schließlich stellt Janosch den Sinn der Diskussion über Literatur in Frage und plädiert dafür, stattdessen Literatur zu lesen: „Und außerdem glaube ich, ist das alles zu kompliziert. Davon verstehen „Ist dns Literatur? ... Wtis ist denn Literatur?" nicht einmal Leute etwas, die etwas davon verstehen müßten. Warum machen wir uns also Gedanken darüber? Laß uns einfach lesen. Aus Freude am Lesen. Und aus Freude am Verstehen, [kursiv i. O., S. Sch.]" (Lebert 2009:143) Also liest der Ich-Erzähler Benjamin, der beim Vorlesen in der Schule immer steckenbleibt, Hemingways Text ,,[l]aut und verständlich [...] vor" (ebd.) und alle Jungs im Abteil hören zu, alle „haben ihre Ohren gespitzt. Mit großen Augen gaffen sie mich an. [... j Die Wangen der Jungen sind rot. Sogar Janosch schnauft laut. Wild schüttelt er den Kopf. Seine Augen platzen fast. Ein dunkles Rot glüht in seinen Ohren. Hastig greift er nach dem Hemingway-Roman." (ebd.: 144) Als Benjamin am Ende des Romans angekommen ist, greift sein Freund Janosch nach dem Buch, auch Felix leiht es sich aus, „liest die wichtigsten Stellen noch einmal. [...] In seinem Gesicht ist ein Leuchten." (ebd.) So würde man sich das auch für die Arbeit mit Literatur im universitären und schulischen Kontext wünschen. Man wählt einen Text aus, und es gelingt, die Studierenden oder die Schülerinnen und Schüler für die Faszination des Textes zu gewinnen. Sie lesen sich den Text gegenseitig laut vor, lesen mit weit offenen Augen und roten Wangen, brechen in Tränen aus, lesen die wichtigsten Stellen mehrmals, leihen sich das Buch aus, haben ein Leuchten im Gesicht, bedanken sich beim Autor und bei der Person, die ihnen das Buch gegeben hat, streichen über den Einband des Buches, weil ihnen das ein Gefühl der Geborgenheit gibt. Doch die Erfahrungen bei der Arbeit mit Texten in unterrichtlichen Zusammenhängen - im muttersprachlichen wie im fremdsprachlichen Literaturunterricht - haben meist nur wenig Ähnlichkeit mit dieser Szene der sechs ausgebüchsten Internatsschüler auf der nächtlichen Zugfahrt nach München. Und so stellt sich für die Literaturvermittlung in der fachwissenschaftlichen Diskussion wie in der unterrichtlichen Praxis kontinuierlich die grundlegende Frage: Warum und wie und welche Literatur sollte man im Unterricht, im Fremdsprachenunterricht, im Unterricht Deutsch als Fremdsprache verwenden? Auf diese Frage gibt es verschiedene Antworten, und dies nicht zuletzt wegen der disziplinar unterschiedlichen Zugänge. In meinem Beitrag möchte ich einen fachhistorischen Überblick aus der Perspektive der Hochschuldisziplin Deutsch als Fremdsprache geben. Wie im Titel bereits angekündigt, geht es dabei zunächst um einen Rückblick auf seit langem etablierte Konzepte, auf deren Basis eine Vielzahl von Unterrichtsmaterialien und Unterrichtsformen entwickelt wurden. Gleichzeitig geht es um einen Ausblick auf neuere Konzepte, für die teilweise gilt, dass sie für unterrichtliche Zusammenhänge noch auszuarbeiten sind, dass konkrete Materialien und methodische Vorschläge noch kaum oder gar nicht vorliegen. 16 17 Simone Schiedermair „Ist das Literatur? Was ist denn Literatur?" Es verbindet sich natürlich ein gewisses Wagnis mit dem Vorhaben eines solchen Überblicks, laufen solche Darstellungen doch immer Gefahr, zu vereinfachen, da sie den komplexen Diskursnetzen wissenschaftlicher Diskussion nicht gerecht werden können. So sind die Ausführungen lediglich als Vorschlag zu verstehen, wie man die fach wissenschaftliche Diskussion zur Literatur und zur Literaturvermittlung in Deutsch als Fremdsprache zusammenfassend vorstellen könnte. Dabei gehe ich im Folgenden von drei Zusammenhängen aus, über die sich m. E. weite Teile der Fachdiskussion erfassen lassen - Literatur und Grammatik bzw. Literatur und Sprache, Literatur und Kultur bzw. Literatur und Gesellschaft, Literatur und Interkulturalität bzw. Literatur und Fremdheit. 2. Literatur und Grammatik bzw. Literatur und Sprache Zentraler Aspekt für die fachwissenschaftliche Diskussion zur Relevanz von Literatur in Deutsch als Fremdsprache ist die spezifische Sprachlichkeit literarischer Texte. Wie Harald Weinrich schon sehr früh in der Fachdiskussion in seinem 1981 erschienenen Artikel „Von der Langeweile des Sprachunterrichts"2 ausführt, nutzt die Literatur Strategien, die dem Fremdsprachenunterricht entgegen kommen, und literarische Texte sind damit als Unterrichtsgegenstand interessant. Mit ihren Verfremdungstechniken lenken sie die Aufmerksamkeit der Lesenden bzw. Lernenden auf beides, auf Sprache und Inhalt, durch sie wird „Interesse für die Sprache erzeugt, Interesse für die Sache jedoch nicht ausgeschlossen" (Weinrich 1985: 237). Literarische Texte werden in diesem Sinne zu einem Remedium im auf Alltagskommunikation ausgerichteten Sprachunterricht, der mit der ausschließlichen Konzentration auf die Formseite der Sprache in der Langeweile zu enden drohe (ebd.: 226). In den Verfremdungsverfahren der literarischen Texte sieht Weinrich also einen Vorteil für den Fremdsprachenunterricht. Mit Bezug auf Viktor Sklovskijs in „Die Kunst als Verfahren" (1916) ausgearbeitete Bestimmung der literarischen Sprache über die „Qualität der Fremdheit" (ebd.: 238), argumentiert er für eine „wohldosierte Fremdheit" (ebd.: 240) im Fremdsprachenunterricht, die eine intensivierte und damit differenzierte Wahrnehmung ermöglicht. Als Beispiel dienen ihm hier Texte der Konkreten Poesie, deren markierte Sprache häufig auf 2 Ursprünglich handelt es sich um Harald Weinrichs Antrittsvorlesung am Institut für Deutsch als Fremdsprache der Ludwig-Maximilians-Universität München, gehalten am 30.05.1979. Sie wurde zunächst in der „Zeitschrift für Pädagogik" 27 (1981), 169-185, veröffentlicht. Ich beziehe mich hier auf die leicht veränderte Fassung des Artikels, die in dem Band „Wege der Sprachkultur" (1985) von Harald Weinrich erschienen ist. grammatische Paradigmen hinweist. Auch Dietrich Krusche und Rüdiger Krechel empfehlen die Arbeit mit Texten der Konkreten Poesie - etwa mit „Konjugation" von Rudolf Steinmetz (1974): Ich gehe du gehst er geht sie geht es geht. Geht es? Danke - es geht. In ihrer 1984 erstmals erschienenen Sammlung „Anspiel. Konkrete Poesie im Unterricht Deutsch als Fremdsprache" präsentieren Krusche und Krechel dieses Gedicht und mehr als sechzig weitere Texte, die in dieser Hinsicht für den Sprachunterricht geeignet sind. Von den sechs Lernzielen, die sie in ihren Vorschlägen zum Einsatz dieser Textsammlung formulieren, sind zwei direkt auf die sprachliche Dimension der Texte bezogen, nämlich die Ziele 5 „Einführung und Wiederholung von Wortschatz" und 6 „Anspielen von Grammatik" (Krusche; Krechel 61992: 80-83). Literatur in dieser Form hat in den 1980er Jahren auch Eingang in die Lehrwerke gefunden. So finden sich eine Reihe von Texten aus der Sammlung von Krusche und Krechel in dem 1986 in erster Auflage erschienen Lehrbuch „Deutsch aktiv" von Gerd Neuner, Theo Scherling, Reiner Schmidt und Heinz Wilms: Rudolf Otto Wiemers Texte „empfindungswörter" (ebd.: 56) und „unbestimmte Zahlwörter" (ebd.: 85) und eine Variation zu „besitzanzeigendes fürwort" (ebd.: 115), sowie Burckhard Garbes „LEHR REICH" (ebd.: 70) und Ernst Jandls „fünfter sein" und „Markierung einer Wende" (ebd.).3 Aspekte dieser frühen Konzepte zur Rolle literarischer Texte im Unterricht Deutsch als Fremdsprache finden sich durchaus noch in den heutigen Argumentationen bzw. Vermittlungsvorschlägen und Lehrmaterialien. So argumentiert Gerlind Belke (2007, 2011) ähnlich wie Weinrich bzw. Krusche und Krechel, dass literarische Texte durch ihre Spezifik, i.e. ihre Literarizität die „Aufmerksamkeit des Lernenden auf die Sprache selbst [lenken und] [...] so das Wahrnehmungsvermögen für die verwendeten sprachlichen Mittel [schärfen]" (Belke 2011: 16). Wie diese, so sieht auch Belke einen spezifischen Vorteil bei der Arbeit mit literarischen Texten darin, „dass sich die in poetischen Texten enthaltenen sprachlichen Strukturen in weit nachhaltigerer Weise einprägen, als das bei den primär an realen Inhalten orientierten Texten 3 Ich beziehe mich hier auf die 14. Auflage, erschienen 1996. Simone Sclüedermair 7 aus dem kommunikativen Alltag der Fall ist" (Belke 2011:16). Auch aus ihrer Sicht bietet sich für eine intensive Auseinandersetzung mit der Formseite der Sprache insbesondere die Arbeit mit konkreter Poesie an, aber auch mit experimenteller Lyrik und anderen sprachspielerischen Texten. Denn solche Texte nutzen sehr intensiv grammatische Strukturen, wiederholen sie mit jeweils anderen Ergänzungen und sind damit geeignet, dass die Lernenden Vorgegebenes einüben und gleichzeitig selbst produktiv sind. Bei dem von ihr entwickelten Vorgehen, das Belke „generatives Schreiben" nennt, produzieren die Lernenden auf der Basis von vorgegebenen Texten ihre eigenen Texte. So sind die verwendeten Gedichte und sprachspielerischen Texte vor allem Ausgangsmaterial für die eigene kreative Arbeit der Lernenden. In Belkes Unterricht haben die Lernenden beispielsweise Gedichte geschrieben, die analog zu „es geht" in dem Text „Konjugation" mit „es friert" oder „es fehlt" arbeiten (ebd.: 19): ich friere du frierst er friert sie friert es friert Friert es? Letzte Nacht hat es in den Bergen gefroren! ich fehle du fehlst er fehlt sie fehlt es fehlt Woran fehlt es? An allem! Dieses Vorgehen fordert und ermöglicht beides, vorgegebene Strukturen erkennen und individuelle Kreativität einbringen. Das Potential des ästhetischen Spiels literarischer Texte nutzen auch Wolf gang Rug und Andreas Tomaszewski in ihrer für Lernende gedachten „Grammatik mit unSinn und Verstand" (1993) bzw. „Grammatik mit Sinn und Verstand" (2009). Hier sollen neben anderen auch literarische Texte explizit als Gegenmittel zu der - ich zitiere aus dem Vorwort - ,,eifrige[n] Mühe" und dem ,,angestrengte[n] Ernst der Arbeit" beim Grammatiklernen dienen, in ihnen „blinken dem Lerner und Leser immer wieder intelligenter Witz und blanker Unsinn entgegen" (Rug; Tomaszewski 2009: 3). In dieser Grammatik, die für Lernende auf höherem Sprachniveau gedacht ist, wird in jedem Kapitel ein anderes grammatisches Phänomen vorgestellt. Jedes Kapitel beginnt mit einer oder mit zwei Seiten, auf denen literarische und andere kurze Texte gesammelt sind, in denen das grammatische Phänomen dieses Kapitels intensiv genutzt wird. Außerdem werden auch innerhalb der Kapitel literarische Texte verwendet. So wird beispielsweise zur Illustration des grammatischen Gegenstands Konjunktiv II das Gedicht „Mondnacht" von Joseph von Eichendorff verwendet (ebd.: 56): „Ist das Literatur? ... Was ist denn Literatur?" Es war, als hätt' der Himmel, Die Erde still geküsst Dass sie im Blütenschimmer Von ihm nur träumen müsst' Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus Flog durch die stillen Lande Als flöge sie nach Haus. An anderen Stellen werden literarische Texte für Übungsaufgaben genutzt; so soll etwa der Konjunktiv I geübt werden mit der Übertragung des kurzen Prosatextes „Kleine Fabel" von Franz Kafka in die indirekte Rede. (Rüg; Tomaszewski 2009: 108): „Ach", sagte die Maus, „die Welt wird immer enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte. Ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe." - „Du mußt nur die Laufrichtung ändern", sagte die Katze und fraß sie auf. Die beiden zuletzt genannten Ansätze (Belke und Rüg; Tomaszewski), die vor allem auf die grammatische Dimension der Sprache ausgerichtet sind, reflektieren nur bedingt die spezifische Sprachlichkeit literarischer Texte. Zugespitzt könnte man sagen, dass sie lediglich die Tatsache berücksichtigen, dass literarische Texte aus grammatischen Strukturen und Wörtern bestehen, dass es ihnen aber weniger um die Auseinandersetzung mit Literatur geht, als um das Erlernen von Grammatik. Literatur wird hier zur methodischen Strategie gegen ermüdende Sprachübungen. Die Spezifik literarischer Texte und die Spezifik literarischer bzw. poetischer Sprache ist dagegen die Grundlage für das Konzept, das Michael Dob-stadt und Renate Riedner in den letzten Jahren ausgearbeitet haben. Anknüpfend an Roman Jakobsons Bestimmung der poetischen Funktion der Sprache als „Einstellung auf die BOTSCHAFT als solche, die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen [Hervorh. i. O.; S. Sch.]" (Jakobson 2005: 92), also auf das ,Wie', erhält in ihrem Ansatz die Form eine eigene Relevanz. Zentral ist dabei der Begriff der ,Literarizität', also das „Literarische der Literatur" (Dobstadt; Riedner 2011b: 69). Laut Dobstadt und Riedner fallen „[djarunter [...] die Form, das Aussehen, der Klang des sprachlichen Zeichens; aber auch seine Position auf dem Papier, im Text oder außerhalb des Textes: in Diskursen, in der (Literatur-)Geschichte usw." (ebd.: 69). An zwei Beispielen sei verdeutlicht, welche Aspekte von literarischen Texten dadurch in den Blick kom- 20 21 Simone Schieiiermnir men. Dobstadt und Riedner zeichnen an dem folgenden Gedicht von Hilde Domin nach, wie der Rhythmus an der Bedeutungsbildung beteiligt ist:4 Das Gefieder der Sprache Das Gefieder der Sprache streicheln Worte sind Vögel mit ihnen davonfliegen Dobstadt und Riedner zufolge evoziert der Wechsel von Hebung und Senkung, i. e. von betonten und unbetonten Silben, in den ersten drei Versen die Vorstellung von einer streichelnden Bewegung, die am Ende des vierten Verses mit der Gleichmäßigkeit von zwei unbetonten Silben zu einer Bewegung wird, die dem Fliegen gleicht. Damit findet sich die mit den Verben „streicheln" und „fliegen" aufgerufene Semantik auch in der rhythmischen Dimension des Gedichtes, die Form ist an der Bedeutungsgenerierung beteiligt. Wie an diesem ersten Beispiel bereits deutlich, ist die Kategorie der Form, das ,Wie' bei diesem Ansatz nicht auf grammatische Strukturen beschränkt, sondern erhält in all ihren Dimensionen eine grundsätzliche Relevanz für die Bedeutungsbildung. Wie an der Bearbeitung eines zweiten Gedichts gezeigt werden soll, kann auch die ganz konkrete äußere Form, i. e. das Schriftbild, an der Bedeutungsbildung beteiligt sein. Dies wird besonders deutlich an Dob-stadts Besprechung von Johann Wolfgang Goethes Gedicht „Ein Gleiches" bzw. „Wandrers Nachtlied" aus dem Jahr 1780: Ein Gleiches Über allen Gipfeln Ist Ruh', In allen Wipfeln Spürest Du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur! Balde Ruhest du auch.5 Dobstadt (2009: 24) stellt zunächst fest, dass die Ausdrücke „Gipfel", „Wipfel", „Vögelein", „du" eine „semantische Äquivalenzreihe" bilden, die als 4 Das Gedicht wird nach Dobstadt und Riedner (2011a) zitiert. Sie verweisen auf folgende Ausgabe: Domin, Hilde (1987): Gesammelte Gedichte. Frankfurt a.M.: S. Fischer. Inder 12. Auflage, erschienen 2008, findet sich das Gedicht auf 5. 272. 5 Das Gedicht wird nach Dobstadt (2009) zitiert. Es findet sich in der Münchner Ausgabe von J. W. Goethes sämtlichen Werken (siehe Literaturverzeichnis) in Band 2.1 auf S. 53. 22 „Ist das Literatur? ... Was ist denn Literatur?" Aufwärtsbewegung von der unbelebten Natur über Flora und Fauna zum Menschen führt. Gleichzeitig bedeutet diese Aufwärtsbewegung aber in der beschriebenen Szene eine Abwärtsbewegung des Blickes und wird auch auf dem Papier als Abwärtsbewegung realisiert. Die Form, hier die Position des sprachlichen Zeichens auf dem Papier, konterkariert gängige Muster von Bedeutung und mit diesem Irritationsmoment wird die scheinbar feste Verbindung zwischen Zeichen und Bedeutung in Frage gestellt. Die Vielschichtigkeit und Komplexität literarischer Texte wird deutlich, „das, was man - mit einem Ausdruck aus dem Umkreis des Poststrukturalismus - ihre Unlesbarkeit nennen könnte" (Dobstadt; Riedner 2011a: 13); d.h. ein literarischer Text bietet Argumente für unterschiedliche Lesarten. Was hier für literarische Texte gezeigt wurde, gilt grundsätzlich für Sprache. Wie Dobstadt und Riedner (2011a: 12) ausführen, „greift [sie] auf bereits hergestellte Bedeutung zurück, bringt diese Bedeutung aber auch immer wieder in die Schwebe, setzt sie in Bewegung und stellt sie in Frage." Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht die Frage nach Bedeutungsbildungs-prozessen, nach deren Dynamik und Flexibilität, die es in der Arbeit mit literarischen Texten zu verstehen gilt und die darüber hinaus verstanden werden müssen als grundsätzliche Prinzipien von Sprache und Wirklichkeitskonstruktionen: Es dürfte sich schnell zeigen, dass auch der nicht-literarische Text, literarisch gelesen, Vielschichtigkeit, ja sogar Abgründigkeit offenbaren kann. Dies gilt letztlich aber auch für die vermeintlich objektive Wirklichkeit selbst. [...] Das ist der Grund für die Annahme, dass es einem an der Literatur geschulten Blick leichter fällt, die Realität in ihrer Widersprüchlichkeit, Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit wahrzunehmen und mit ihr zurechtzukommen. (Dobstadt; Riedner 2011a: 12)6 Damit wird der Arbeit mit Literatur eine Relevanz zugeschrieben, die weit über die Grenzen des Unterrichts von Deutsch als Fremdsprache hinausgeht. An der konkreten sprachlichen Form des einzelnen literarischen Textes und den damit verbundenen Bedeutungsbildungsprozessen sind auch die 6 Vgl. auch den Ansatz von Ciaire Kramsch (2006), bei dem es um die Förderung von „symbolischer Kompetenz" bzw. „symbolic competence" geht. Als die drei Hauptkomponenten symbolischer Kompetenz bestimmt Kramsch „the production of complexitiy, the tolerance of ambiguity, and an appreciation of form as meaning" (ebd.: 251). Das grundlegende Rechnen mit Komplexität und Ambiguität, mit dem bedeutungsgenerierenden Potential von Sprache (ebd.) kann besonders bei der Arbeit mit literarischen Texten deutlich werden: „Through literature, they [= the learners] can learn the full meaning making potential of language." 23 Simone Schiedermair späteren Arbeiten von Dietrich Krusche ausgerichtet. Er orientiert sich an den sprachwissenschaftlichen Kategorien der funktionalen Pragmatik, die er für den Bereich Deutsch als Fremdsprache fruchtbar macht. Dabei interessiert er sich vor allem für die Verwendungsweisen deiktischer Ausdrücke in literarischen Texten.7 An diese Überlegungen wurde im Fach verschiedentlich angeknüpft.8 So sind etwa meine Vorschlage zur Arbeit mit Literatur in Deutsch als Fremdsprache darauf ausgerichtet, neben den deiktischen Ausdrücken auch andere sprachliche Mittel zu berücksichtigen. Eine Ausweitung auf andere sprachliche Ausdrücke vergrößert m. E. die Möglichkeiten, im Fach mit Analysen auf dieser linguistischen Basis zu arbeiten. Mit dem Blick auf die unterschiedlichen Funktionen, die einzelnen sprachlichen Mitteln von der funktionalen Pragmatik zugeordnet werden - etwa Bezeichnen, Orientieren, Fokussieren - können die Texte differenziert untersucht werden; dabei kommen auch Aspekte jenseits von semantischer Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit in den Blick. Wirkungen wie Verwirrung und Distanzierung werden beschreibbar und können dadurch auch beachtet werden. An einem Beispiel sei wieder angedeutet, wie eine solche Analyse aussehen kann, an dem kleinen Prosatext mit der Nummer „10" aus dem 1988 erschienenen Band „Zur Frage der Himmelsrichtungen" von Reinhard Lettau. Die hier versammelten 52 Kurzprosastücke reflektieren u. a. die Erfahrungen, die mit Fremdbegegnungen, mit dem Aufenthalt in fremden Ländern, dem Reisen und dem Massentourismus verbunden sind.9 10 Als wir das nächste Dorf noch erfinden mußten, war dort mehr los. Heute kennen wir uns: „Wir kommen gerade von übera//her, wo wir alles gesehen haben, und fahren überallhin, wo wir mit allen sprechen. Wir haben dort, wo wir alles gekauft haben, allen alles mitgebracht, was wir vorher bei den andern gekauft haben, die damals gerade da waren, wo wir jetzt sind. Es ist folgendermaßen: Da, wo wir jetzt sind, kommen die Leute her, die jetzt gerade dort sind, wo wir herkommen!" Als wir das nächste Dorf noch erfinden mußten, war dort mehr los. Wie an den Markierungen mit Fettdruck schon deutlich, gibt es im Text auffällig viele deiktische Ausdrücke: wir, uns, dort, hin, her, damals, da, jetzt.10 Der sprachwissenschaftlichen Bestimmung zufolge dienen deiktische Aus- 7 Siehe Krusche (1995). 8 Siehe Riedner (1996). Die Hervorhebungen mit Fett- und Kursivdruck finden sich nicht im Original Sie sollen der besseren Nachvollziehbarkeit der folgenden Analyse dienen. Die Temporaldeixeis der Verbmorphologie und die Verben „kommen" und mitgebracht", die auch deiktische Qualitäten haben, sind nicht markiert. ,,/sf das Literatur? ... Was ist denn Literatur?" drücke zur Orientierung.11 Sie strukturieren die Situation, geben Informationen zur situationeilen Grundorientierung, zu Ort (hier, dort), Zeit (jetzt, damals) und Person (wir, ihr). In diesem Text werden die Deixeis jedoch so verwendet, dass diese Funktion ad absurdum geführt wird und sich so in ihr Gegenteil wendet, sie stiftet Verwirrung. Die Orientierung geht verloren, nicht zuletzt die räumliche. So wird die Möglichkeit der Begegnung in Frage gestellt: Obwohl „wir uns kennen", „wir mit allen sprechen", „wir allen alles mitbringen", sind doch die anderen immer da, wo „wir" gerade nicht sind. Die beschriebene Flexibilität in Bezug auf den Raum scheint nicht nur verwirrend zu sein, sondern auch einen Verlust an Lebensqualität zu bedeuten. Trotz hoher Mobilität, wie sie etwa kennzeichnend für den Massentourismus ist, haben sich die Möglichkeiten der Begegnung mit anderen und anderem nicht erhöht. Es ist nichts mehr „los" im erreichbaren „nächsten Dorf". Anders als in Zeiten eingeschränkter Mobilität, als „wir das nächste Dorf noch erfinden mussten", erübrigen sich nun Kreativität und Phantasie durch die Möglichkeit, selbst dorthin zu fahren. Im unerreichbaren, lediglich durch „Erfindung" konkret werdenden „nächsten Dorf war mehr los". Für diese Textwirkung sind auch weitere sprachliche Mittel und deren spezifische Verwendung in diesem Text verantwortlich. So fällt auf, dass für das ebenfalls sehr häufig in diesem Text vorkommende - oben zur Hervorhebung kursiv gedruckt -Quantifikativum „all-" kein Denotatbereich angegeben wird. Es gibt keinen semantischen Anhaltpunkt für die Lesenden, nur eine vage Vorstellung von „überall, alle, alles". Das leere Quantifikativum wird so zum Zeichen für den Massentourismus, für die fehlende Spezifik der Touristenziele, der Touristenströme und der sie begleitenden Waren- bzw. Souvenirströme. Wie an diesem einen Text angedeutet, gewinnen die Texte in dem Lettau-Bändchen ihre Bedeutung nicht allein durch das kritische Aufgreifen und Charakterisieren typischer Elemente des modernen Massentourismus, sondern durch das Umsetzen der Thematik in sprachliche Mittel.12 Wie bei Dobstadt und Riedner ist auch hier die Frage nach der Relevanz der Form für die Bedeutungsbildungsprozesse, die durch die literarischen Texte ausgelöst werden, zentral. Während die am Anfang des Kapitels vorgestellten Ansätze auf die Verwendung literarischer Texte für die Vermittlung von Grammatik zielen, geht es in diesen beiden Konzepten um den Einblick in die spezifische Sprachlichkeit literarischer Texte und um deren Relevanz für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache. 11 Zur funktional-pragmatischen Bestimmung der Deixis und zur Verwendung dieser Kategorie zur Analyse literarischer Texte siehe Ehlich (1982). 12 Siehe dazu ausführlicher Schiedermair (2010a: 224-228). Eine ähnliche Analyse zu einem Text von Roman Ehrlich findet sich in Schiedermair (2014a). 24 25 Simone Schiedermair 3. Literatur und Kultur bzw. Literatur und Gesellschaft In Deutsch als Fremdsprache wurde der Zusammenhang zwischen Literatur und Kultur bzw. Literatur und Landeskunde lange Zeit so verstanden, dass literarische Texte „authentisches Material zur Vermittlung von landeskundlichen Inhalten" (Ewert; Riedner; Schiedermair 2011: 8) zur Verfügung stellen. So wird an prominenter Stelle, als These 14 in den ABCD-Thesen von 1990, formuliert: Der Umgang mit literarischen Texten leistet einen wichtigen Beitrag zur Erschließung deutschsprachiger Kultur(en). Mit Hilfe von Literatur können die Unterschiede von eigener und fremder Wirklichkeit und subjektiver Einstellung bewußt gemacht werden, zumal literarische Texte gerade dadurch motivieren, daß sie ästhetisch und affektiv ansprechen. (ABCD-Thesen 1990:17) Von dem hier skizzierten Konzept sind weite Teile der fachwissenschaftlichen Diskussion inzwischen abgekommen, auch wenn es in der unterrichtlichen Praxis und in Fortbildungen für das Unterrichten im Bereich Deutsch als Fremdsprache durchaus noch zu finden ist. So wird etwa in der weiterhin gebräuchlichen Fernstudieneinheit „Landeskunde und Literaturdidaktik" von Monika Bischof, Viola Kessling und Rüdiger Krechel, die 1999 in der ersten Auflage erschienen ist, ein Abschnitt aus Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz" (erschienen 1929) dazu genutzt, um Armut und Not Anfang des 20. Jahrhunderts im Winter in der Großstadt (Bischof; Kessling; Krechel 52007:11) zu besprechen.13 Leitend in der gegenwärtigen Diskussion sind stattdessen Überlegungen zur gesellschaftlichen Funktion von Literatur, wie sie etwa Hartmut Böhme 1998 in seinem Beitrag „Zur Gegenstandsfrage der Germanistik und Kulturwissenschaft" formuliert hat. Böhme (ebd.: 480) folgend wird literarisches Erzählen als eine „ausgezeichneter] Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften [Hervoh. i. O.; S. Sch.]" verstanden. Ausgangspunkt ist nicht die Vorstellung, dass literarische Texte gesellschaftliche Zusammenhänge oder kulturelle Formen unverändert abbilden, und im Unterricht diese scheinbar direkten Abbildungen der Realität dann rekonstruiert werden. Im Anschluss an kulturwissenschaftliche Ansätze geht man stattdessen davon aus, dass sie „in komplexer Weise [...] Bezug auf außerliterarische Realitäten und Diskurszusammenhänge [nehmen], die sie reflektieren - reflektieren im doppelten Wortsinrt von widerspiegeln' und vergleichendem Prüfen'" (Ewert; Riedner; Schiedermair 2011: 8). Aus dieser spezifischen Kontextverbundenheit literarischer Texte ergibt sich ein kritisches Potential, das literarischen Texten als Vgl. zum Vorgehen von Bischof, Kessling und Krechel auch Altmayer; Dobstadt; Riedner (2014: 7L). „Ist das Literatur? ... Was ist denn Literatur?" „Trägern gesellschaftlicher Diskurse" (Ewert; Riedner; Schiedermair 2011: 8) eine besondere Bedeutung zukommen lässt, die es auch im Bereich Deutsch als Fremdsprache zu berücksichtigen gilt. Literarische Texte werden verstanden als gesellschaftliches Erzählen, das im Unterricht zum Gegenstand von kritisch reflektierendem Nachvollziehen wird. Almut Hille, Sabine Jambon und Marita Meyer weisen im Vorwort zu ihrem Band „Globalisierung - Natur - Zukunft erzählen" (2015: 7) auch auf die Relevanz des Imaginationspotenti-ais literarischer Texte hin. Mit Rückgriff auf Robert Musils Unterscheidung von „Wirklichkeitssinn" und „Mögllchkeitssinn" führen sie aus, dass der Möglichkeitssinn dazu „befähigen" könnte, „katastrophale Entwicklungen zu imaginieren, aber auch neue und ungewohnte Handlungsspielräume für einen guten Umgang mit der Welt zu entdecken".14 Künstlerische Werke und also auch Literatur können einen Beitrag zu dieser Imaginationstätigkeit leisten: „Konkrete Handlungsanweisungen dürfen wir kaum von ihnen erwarten, aber Denkanstöße und emotionale Berührungen, Perspektivenwechsel und experimentelle Formen der Darstellung." (ebd.: 8f.) Die Auseinandersetzung mit literarischen Texten wird verstanden als Auseinandersetzung mit verschiedenen Weltzugängen, die in den Erzählungen zugänglich und einsehbar werden.15 Das Lesen literarischer Texte wird so zur intensivierten Auseinandersetzung mit Aushandlungsprozessen von /Wirklichkeiten', mit Logiken und Mustern, mit denen die Texte die Lesenden affirmativ oder kritisch konfrontieren. Es wird also nicht gefragt, wovon die Texte handeln, sondern was sie verhandeln. Auch für Lehre und Forschung in Rahmen von Deutsch als Fremdsprache gilt es, gesellschaftliche Aushandlungsprozesse in diesem Sinne nachzuvoll-ziehen, wie es beispielsweise in dem bereits erwähnten Band von Hille, Jambon und Meyer für die Arbeit mit literarischen Texte der Gegenwartsliteratur vorgeschlagen wird. So stellt hier etwa Marc Esser in seinem Beitrag „Von Käfern und Pinguinen, Robotern und Keyboys. Ökologische Verhandlungen in der deutschen Popmusik seit den 1970er Jahren" vor, wie mit Popmusik gearbeitet werden kann, um „herauszufinden auf welche Weise Enti täten wie Umwelt und Natur gesellschaftlich konstruiert, verhandelt und weitergedacht werden (Esser 2015:109), wirkt sie doch wie ein „Seismograph für gegenwärtig gültige und marginalisierte Diskurse" (ebd.). Mit Bezug auf Wolfgang Hallets „Konzept des Textuellen Netzes" plädiert er dafür, das Zusammenspiel verschiedener Texte zu nutzen, denn „die aktive und konstruktive Auseinandersetzung mit einem Text oder Diskurs über das intertextuelle Zusam- 14 Hille, Jambon und Meyer verweisen hier auf Harald Welzer „Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand" (2013:172f.). 15 Vgl. hierzu und zum Folgenden meine Ausführungen in Schiedermair (2014b: 5f.). 26 27 Simone Schiedermair menspiel von Ähnlichkeiten, Gegensätzen, Zitaten und Verweisen [kann] zu einem besseren Verständnis komplex verwobener Zusammenhänge verhelfen" (Esser 2015: 123). Im gleichen Band versteht Jens Grimstein Literatur als Verständigungsinstrument, etwa zur Sensibilisierung für globale Arbeitsverhältnisse, wie er in seinem Beitrag „Die Gespensterarbeit der Globalisierung. Poetik als Schauermanagement bei Kathrin Röggla und Alexander Kluge" ausführt. Auch eine Auseinandersetzung mit literarischen Texten unter dem Aspekt „Bildung, Zugänge zu Bildung, Bildung und Integration" wären m. E. im Zusammenhang von Deutsch als Fremdsprache lohnenswert. Nicht zuletzt zeigt sich die Virulenz dieses Themas darin, dass in den letzten Jahren vermehrt literarische Texte erschienen sind, die den Bildungsroman und die damit verbundenen Konzepte von Bildung auf unterschiedliche Weise aufrufen, etwa Uwe Teilkamps „Der Turm" (2008), Jan Brandts „Gegen die Welt" (2011) und Judith Schalanskys „Der Hals der Giraffe" (2011).16 Zu nennen ist hier auch das in literarischen Texten intensiv verhandelte Thema der Migration, das unter dem Stichwort „Migrationsliteratur" im Bereich Deutsch als Fremd-und Zweitsprache seit Jahren intensiv bearbeitet wird, siehe dazu etwa den Beitrag von Michael Ewert in diesem Band.17 In dieser Perspektive werden literarische Texte verstanden als „gesellschaftliches Erzählen", als Ort gesellschaftlich ausgehandelter Selbstverständigung18. Als ein solcher Ort gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse werden sie auch zu einem zentralen Ort für die Erforschung von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen; und indem sie in diesem Sinne kulturelle bzw. gesellschaftliche Logiken analysiert, wird Literaturwissenschaft zur Kulturwissenschaft. Wie Altmayer, Dobstadt und Riedner (2014: 8) in ihrem Artikel „Literatur in sprach- und kulturbezogenen Lehr- und Lernprozessen im Kontext von DaF/DaZ"19 ausführen, hebt eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft die „Deutungs- und Diskursabhängigkeit jeder gesellschaftlichen Wirklichkeit" hervor. Sie hat weniger diese ,Wirklichkeit' selbst als vielmehr die Prozesse bzw. Praktiken, die Medien/Diskurse und insbesondere die kulturellen Ressourcen beziehungsweise Wissensordnungen zum Gegenstand [...], die die ,landeskundliche Wirklichkeit' überhaupt erst konstituieren (ebd.: 8). 16 Siehe dazu auch mein Beitrag in dem Band von Hille, Jambon, Meyer (Schiedermair 2015). 17 Siehe dazu außerdem mit dem Fokus auf Deutsch als Zweitsprache verschiedene Arbeiten von Heidi Rösch (1992, 2013, 2016). 18 Vgl. Voßkamp (2008). 19 Es handelt sich hier um einen Überblicksartikel, der eine Einführung gibt in den Themenschwerpunkt zur Rolle der Literatur in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache der Zeitschrift „Deutsch als Fremdsprache. Zeitschrift zur Theorie und Praxis des Faches Deutsch als Fremdsprache". ,,/sf das Literatur? ... Was ist denn Literatur?" 4. Literatur und Interkulturalität bzw. Literatur und Fremdheit I >ir Kategorie der Fremde deutet auf einen dritten Zusammenhang, der seit der Etablierung von Deutsch als Fremdsprache als Hochschulfach intensiv diskutiert wird. Geht man wieder an den Anfang der Fachdiskussion zurück, rücken vor allem die interkulturellen Lesergespräche in den Blick, wie sie maßgeblich Dietrich Krusche in den 1980er und 1990er Jahren entwickelt hat.20 Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die zentrale Rolle, die den Lesenden von der rezeptions- und wirkästhetischen Theoriebildung Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre zugeschrieben wurde21. Diese geht davon aus, dass das literarische Werk im Zusammenspiel zwischen Text und Lesenden entsteht Die Konkretisation der Texte variiert in Abhängigkeit von den jeweiligen Dispositionen der Lesenden und kann also von Leser/in zu Leser/in und von Lektüre zu Lektüre unterschiedlich sein: Bedeutungen literarischer Texte [...] sind das Produkt einer Interaktion von Text und Leser und keine im Text versteckten Größen, die aufzuspüren allein der Interpretation vorbehalten bleibt. Generiert der Leser die Bedeutung eines Textes, so ist es nur zwangsläufig, wenn diese in einer je individuellen Gestalt erscheint. (Iser 1971: 7) Der Grundgedanke, dass literarische Texte vor dem Hintergrund je unterschiedlicher Vorverständnisse gelesen und verstanden werden, wurde in den 1980er Jahren in der allgemeinen Literaturdidaktik zu der bis heute verbreiteten Unterrichtspraxis eines produktions- und handlungsorientierten Litera-lurunterrichts ausgearbeitet. Elisabeth Paefgen (2006: 139) schlägt folgende Unterscheidung der beiden Schwerpunkte „Produktionsorientierung" und „ Handlungsorientierung" vor: 1. Wenn die Produktionsorientierung akzentuiert wird und an erster Stelle steht, sind in den meisten Modellen vor allem schreibende Arbeitsformen gemeint. Literarische Texte dienen als Ausgangs- und Zielpunkt der ästhetischen Schüleraktivität, die Herstellung eigener poeti-sierender Texte soll einer Intensivierung des literarischen Verstehens dienen. Analyse literarischer und Produktion eigener Texte können, müssen aber nicht verbunden werden. 20 Siehe zu diesem Diskussionszusammenhang auch Wierlacher (1985). Ich beziehe mich hier auf den leicht überarbeiteten Nachdruck von 1990. 21 Siehe dazu die Texte von Hans Robert Jauß (1967) und Wolfgang Iser (1971). 28 29 Simone Schiedermair 2. Wenn die Handlungsorientierung betont wird, sind zumeist nicht schreibende Arbeiten, sondern auch szenische, graphisch-bildliche, musikalische, körpersprachliche, vortragende, spielerische und ähnliche Inszenierungen zu literarischen Texten gemeint [...]. Affektive Lernziele - wie Freude, Lust, Spaß - und Erhalt der Motivation stehen im Vordergrund. Literarische Texte dienen als Sprungbrett für die gestaltenden Aktivitäten der Schüler, werden aber nicht unbedingt auf Inhalt und Form hin untersucht. Den Gefühlen der Schüler wird viel Raum zugestanden. Erkenntnisprozesse laufen eher nebenbei. [Hervorh. i.O., S. Sch.] Für die Theoriebildung und die Unterrichtspraxis in Deutsch als Fremdsprache, die systematisch die Kategorie der Fremde einbeziehen, bedeutet eine so konzipierte Leserrolle, dass auch die Leseerfahrungen von fremdsprachlichen und fremdkulturellen Lesenden gleichberechtigt berücksichtigt werden können. Diese Konzeption hat in die Fachdiskussion vor allem durch den einflussreichen Beitrag „Literatur im Anfängerunterricht" von Bernd Kast Eingang gefunden, der 1994 in der auf die Praxis ausgerichteten Zeitschrift „Fremdsprache Deutsch" erschienen ist. Kast spricht vom „[rjezeptionsdidak-tische[n] und leserorientiertefn] Ansatz" (1994: 7) und bringt den für Zusammenhänge des fremdsprachlichen Literaturunterrichts zentralen Aspekt der Theorie auf den Punkt: „Ein Text hat immer zwei ,Autoren': einen, der den Text schreibt und einen, der den Text rezipiert. Im Dialog zwischen Text und Leser entsteht Sinn." (Kast 1994: 7). Dabei geht es nicht um „den Leser f...] als abstraktes Wesen, sondern in seiner jeweiligen Einmaligkeit, einen Leser oder eine Leserin aus Fleisch und Blut, [...] den konkreten einzelnen Leser in Japan, in Kenia und in den USA." (Kast 1994: 7f.) Diese Interpretation eines rezeptionsästhetischen Ansatzes22 für Deutsch als Fremdsprache findet mit der seit 1997 bereits in sechs Auflagen erschienenen Einführung „Deutsch als Fremdsprache" von Hans-Werner Huneke und Wolfgang Steinig23 sehr große Verbreitung. Hier wird der Bezug zu den theoretischen Überlegungen zur Wirk- und Rezeptionsästhetik allerdings nicht eigens thematisiert oder reflektiert2,1; stattdessen liegt der Fokus auf den Konsequenzen für die unterrichtliche Praxis: Kast spricht nicht von Wirkästhetik, nur von Rezeptionsästhetik. Dies gilt für weite Teile ^ der fachwissenschaftlichen Diskussion in Deutsch als Fremdsprache. 20131997 Ünmer W'eder neU6n' auCh neu bearbeiteten Auflagen erschienen, zuletzt 24 Jauß wird gar nicht erwähnt. Von Iser wird der Hinweis erwähnt, dass literarische Texte weit mehr auf Ergänzungen durch die Lesenden angewiesen sind als sog. Gebrauchstexte (Hi mol/n. C(-^;.^; „ im o. um (Huneke; Steinig 2013:110). ,,/si das Literatur? ... Was ist denn Literatur?" I W]as bedeutet diese rezeptionsästhetische Liberalität für den Unterricht? Zunächst nur so viel, dass nun nach Herzenslust gedeutet werden darf, was möglicherweise die Lerner dazu animiert, sich freier und ungezwungener gegenüber den Texten zu äußern, aber auch manchen verunsichern kann, für den die Beschäftigung mit Literatur dann einem willkürlichen Stochern im Nebel gleichzukommen scheint. [...] Literarische Texte bleiben nicht mehr ,unberührt', sondern werden modifiziert, zerschnitten, mit einem anderen Ende versehen, als Vorlage für eigene Texte genommen, szenisch umgesetzt, vertont, in Collagen gestaltet. [...] Der fremde Text wird vom Lerner nicht mehr nur im Kopf, sondern mit Herz und Hand nach Gutdünken [...] weiter konkretisiert, verfremdet und so neu ästhetisiert. [Hervorh. i. O., S. Sch.] (Huneke; Steinig 2013: Ulf.) Wie oben in dem Zitat von Paefgen schon deutlich, ist von Seiten der muttersprachlichen Literaturdidaktik immer wieder kritisch formuliert worden, dass literarische Texte damit auf die Funktion eines „Sprungbretts" (s.o.) für tue Kreativität der Lernenden reduziert werden.2:i Trotz dieser Kritik wird der Ansatz jedoch weiterhin verwendet. Ein anderer Status wird dem Text von literaturdidaktischen Konzepten zugeschrieben, die im Fach Deutsch als Fremdsprache ebenfalls sehr früh au f der Basis rezeptions- und wirkästhetischer Theoriebildung entwickelt wurden. Dazu gehören die oben erwähnten interkulturellen Lesergespräche. Sie verstehen den Text als Ort, an dem die Plausibilität unterschiedlicher Lektüren ausgehandelt wird, die sich aus der sprachlich und kulturell unterschiedlichen Herkunft seiner Lesenden ergeben. Wie im produktions- und hand-lungsorientierten Ansatz wird von dieser zentralen Rolle der Lesenden aus auch den fremdsprachlichen bzw. hemdkulturellen Lesenden das Recht auf eine eigene Lesart zugesprochen. Anders als dort, geht es aber auf dieser Basis nicht um eine Auseinandersetzung mit dem Text vor dem Hintergrund der individuellen, auch fremdkulturellen Kreativität, sondern um die Ausarbeitung kulturabhängiger Positionen. Zielpunkt ist die Verständigung über kulturspezifische Lektüren in interkulturellen Lesergesprächen. So stehen die Lesarten in ihrer Unterschiedlichkeit im Fokus der Lesergespräche. Auch hier möchte ich das Vorgehen mit einem Beispiel verdeutlichen. In seinem kleinen Band „Kafka in Japan. Goethe am Äquator. Deutsche Literatur im Ausland" (1982 bzw. 1993: 16-19)26 führt Krusche aus, wie ein solches Lesergespräch 25 Siehe dazu aus der Perspektive der Englischdidaktik Nünning; Surkamp (2010: 65), ausführlich zum produktions- und handlungsorientierten Literaturunterricht außerdem Spinner (2006). 26 Ich beziehe mich hier auf die 2. Auflage von 1993. 30 31 Simone Schiedernmir verläuft. In einem Literaturseminar mit Studierenden aus unterschiedlichen Herkunftsländern wurde Kafkas Kurzprosatext „Heimkehr" (1920) gelesen: Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinanderverfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht, an der Küchentür zu klopfen, nur von der Feme horche ich, nur von der Feme horche ich stehend, nicht so, daß ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.27 Ein Ich kommt offensichtlich nach langem Aufenthalt in der Fremde zurück auf den Hof seiner Familie und zögert, in die Küche einzutreten, in der seine Eltern sitzen. Nach der gemeinsamen Lektüre wurde die Frage gestellt, warum das Ich nicht durch die Tür geht. Es sollte in Gruppen diskutiert werden, die nach Herkunftsländern zusammengestellt wurden. Die Ergebnisse wurden dann auf die kulturelle Herkunft der Studierenden bezogen. So nannten die Studierenden aus der Gruppe der Studierenden aus deutschsprachigen sowie west- und nordeuropäischen Ländern als Grund für das Zögern vor der Tür die Erinnerung an schlechte Erfahrungen in der Kindheit und eine aus dieser Zeit vorhandene Angst vor dem Vater. Die Gruppe aus süd- und südosteuropäischen Ländern sah eine Plausibilität für das Verhalten des Ich darin, dass es nicht in seine Heimat zurück möchte, wo es keinen Fortschritt gibt. Die Studierenden aus Herkunftsländern außerhalb Europas argumentierten, dass sich das Ich in der Fremde verändert hat und dass es seinen Eltern die Veränderung nicht zumuten möchte. Wiedergabe nach Kafka (1992b: 320f.); in der kritischen Ausgabe Kafka (1992a: 572f.) „Istdas Literatur? ... Was ist denn Literatur?' Auch dieses Konzept hat im Fach große Aufmerksamkeit bekommen und wird folglich an zentraler Stelle, i.e. im „Internationalen Handbuch Deutsch als Fremd- und Zweitsprache" (Ehlers 2001: 1338f. und 2010: 1533f.) vorgestellt28. In ihrem Beitrag „Literarische Texte im Deutsch als Fremd- und Zweit-sprache-Unterricht: Gegenstände und Ansätze" (2010) bespricht Swantje Eh-lers den Ansatz der interkulturellen Lesergespräche im Abschnitt „Hermeneutik des kulturell Fremden" (ebd.: 1533f.). Dem Vorgehen dieser interkultu-ii'llcn Hermeneutik hält sie zugute, dass es mit der „Thematisierung fremdkultureller Leseweisen, Perspektiven und Rezeptionsbedingungen [...] eine hcrmeneutische Reflexion des Verstehens unter kulturräumlichen Bedingungen ausgelöst" (ebd.: 1534) hat. Sie wirft ihm aber kritisch vor, dass es „keine konkreten Fragestellungen der literarischen Praxis" bearbeitet hat und den „Nachweis kulturspezifischer Lektüren" (ebd.) nicht erbringen konnte29. In der Fachdiskussion wird außerdem der homogenisierende Kulturbegriff kritisiert, den das Konzept impliziert30. Auch wenn die hier referierte Kritik in ihrer Pauschalität der Komplexität des Ansatzes nicht im Einzelnen gerecht wird, so kann doch festgehalten werden, dass die gegenwärtige Fachdiskussion zumindest im Hinblick auf den Kulturbegriff anders ausgerichtet ist. Wie Michael Ewert (2011: 17) mit Rückgriff auf Ortrud Gutjahr31 ausführt, gilt es „den Kulturbegriff nicht auf Herkunft und Zugehörigkeit [...] zu fixieren", sondern damit verbundene Vorstellungen von Einheitlichkeit „zurückzuweisen zugunsten eines dialogischen, prozessualen und offenen Kulturbegriffs". Es gilt, „kulturelle Formationen" nicht als „naturgegebene Entitäten, sondern als historisch gewachsene und veränderbare Phänomene" (ebd.: 17) zu verstehen. Ewert plädiert für eine Literaturwissenschaft im Fach Deutsch als Fremdsprache, die an der in-lerkulturellen Literaturwissenschaft orientiert ist und nicht nach binären Konstellationen von Eigenem und Fremdem fragt, sondern Textlektüren entwickelt, die von der „Relationalität der Fremdheit" als der „Grunderkenntnis der Alteritätsforschung" ausgeht (ebd.: 24). In Bezug auf literarische Texte wird Fremdheit nicht als Fremdheit aufgrund von historischem oder kulturräumlichem Abstand gesehen, sondern als „elementares Charakteristikum von Literatur" (ebd.: 19): „Literatur ist per se inter- und transkultureller Natur. 28 Weitere Ansätze, die sich auf die Theoriebildung von Wirk- und Rezeptionsästhetik beziehen, haben für Deutsch als Fremdsprache Ingrid Mummert (2006) und im Rahmen der Fachdidaktik Englisch Lothar Bredella (2002) vorgelegt. 29 Siehe eine Einschätzung zu Ehlers Kritik Schiedermair (2014: 36, Fußnote 2). Außerdem der Hinweis von Krusche (1995: 91), dass es ihm nicht um die „Identifikation von kulturtypischen Rezeptionsbedingungen" geht, „sondern um ein [...] Redinen mit Rezeptionsdifferenz [Hervorh. i. O.; S. Sch.]". M Siehe dazu ausführlich Riedner (2010). 3' Ewert verweist hier auf Gutjahr (2002: 352). 32 33 Simone Schiedermair „Ist das Literatur? Was ist denn Literatur?" Die Literarizität von Literatur lässt sich nämlich geradezu als Durchformung, Ausgestaltung, Fixierung, Umschreibung und Transformation von Interkultu-ralität auffassen" (Ewert 2011:18). Wie eine so ausgerichtete Arbeit mit literarischen Texten aussehen kann, zeigt Ewert etwa in dem hier zitierten Beitrag „Die Fremdheit der Literatur. Ein Beitrag zur Interkulturellen Literaturwissenschaft mit einem Ausblick auf Fontane" (2011) und in seinem Beitrag „Migration und Literatur. Mehr- und transkulturelle Literatur in Deutschland -ein Laboratorium transnationaler Realitäten" im vorliegenden Band. Wie sich diese theoretische Basis in der konkreten Arbeit mit literarischen Texten im Unterricht Deutsch als Fremdsprache umsetzen lässt, sei kurz an dem oben zitierten Kafka-Text skizziert. Dieser Text lässt sich auch im Hinblick auf die genannten xenologischen Aspekte lohnend lesen. Es geht dann nicht um die Frage nach dem Grund für das Verhalten des Ich, in deren Beantwortung der Aspekt der Fremde relevant wird, nämlich in Form kulturspezi-fischer Lesarten. Vielmehr geht es um die Auseinandersetzung damit, welche Aspekte von Fremdheit und welche Optionen des Umgangs mit Fremdheit der Text verhandelt. So stellt die auch bei Ewert betonte Relationalität der Al-terität ein zentrales Moment in diesem Text dar: „Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man." Aber nicht nur der Grad der Fremdheit ist flexibel zu denken. Dass es sich bei Fremde um einen relationalen Begriff handelt, wird auch daran deutlich, dass nicht nur das Ich für die anderen fremd ist, auch die anderen sind für das Ich fremd: „Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will." Und drittens wird die Relationalität darin deutlich, dass früher Vertrautes bzw. sehr Vertrautes, dem Ich nun als fremd erscheint: die eigenen Eltern, das Elternhaus, die Spielgeräte aus der Kindheit, die Gewohnheiten aus der Kindheit wie Kaffee kochen und in der Küche sit- Als theoretische Grundlage für eine solche Arbeit mit literarischen Texten bieten sich die Texte von Ortfried Schäffter (1991), Bernhard Waldenfels (1997) und Ortrud Gutjahr (2002) an. Auf diese wird auch in der interkulturellen Literaturwissenschaft zurückgegriffen.32 5. „Ist das Literatur?" - Oder geht es um Grammatik, Landeskunde, interkulturelle kommunikation? Für die drei skizzierten Zusammenhänge - Literatur und Grammatik bzw. Sprache, Literatur und Kultur bzw. Gesellschaft, Literatur und Interkulturali-l.'it bzw. Fremdheit - stellt sich als gemeinsam heraus, dass die jeweils früh .iiisgearbeiteten Ansätze dazu tendieren, literarische Texte im Unterricht I >eutsch als Fremdsprache als didaktischen Kniff zu nutzen, als methodisches Mittel gegen die potentielle Langeweile im Sprachunterricht. Zugespitzt könnte man zusammenfassen, dass es in den zunächst vorgestellten Ansätzen unter dem Aspekt Literatur und Sprache um Grammatik geht (Weinrich, Kru-sche; Krechel, Deutsch aktiv, Rüg; Tomaszewski, Belke). Bei den zuerst diskutierten Ansätzen zum Zusammenhang von Literatur und Gesellschaft (ABCD-Thesen, Bischof; Kessling; Krechel) steht die Frage im Vordergrund, wie sich I .andeskunde interessant unterrichten lässt; literarischen Texten wird hier das Potential zugeschrieben, einen emotionalen Zugang zu den landeskundlichen Inhalten der zielsprachlichen Länder zu ermöglichen. Bei den früheren Ansätzen zu Literatur und Fremdheit geht es um die interkulturelle Kommunika-lion (Krusche, Mummert, Bredella). Die jüngeren Arbeiten und die aktuelle Diskussion fragen dagegen verstärkt nach dem spezifisch Literarischen der literarischen Texte. Dabei werden für den ersten Zusammenhang Antworten gefunden, die mit Bezug auf Sklovskij und Jakobson sowie sprachwissenschaftliche Kategorien der Funktionalen Pragmatik auf die spezifische Sprachlichkeit literarischer Texte fo-kussieren (Dobstadt, Riedner, Schiedermair). Für den zweiten Zusammenhang steht als das Literarische das spezifische Verhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft im Mittelpunkt (siehe die Beiträge in Hille; Jambon; Meyer). Für den dritten Zusammenhang wird die Literarizität an der Fremdheit der Texte festgemacht (Ewert). Im Hinblick auf alle drei Bereiche rückt die Verfremdung im Sinne Sklovskij in den Blick als Verfahren der Kunst, das Deau-tomatisierung bewirkt, denn Automatisierung macht unsichtbar, „Automatisierung frißt die Dinge, die Kleidung, die Möbel, die Frau und den Schrecken des Krieges" (Sklovskij 1994: 15). Kunst verfremdet, um die automatisierte Wahrnehmung zu unterbrechen. Literarische Texte tun dies durch ihre spezifische Sprachverwendung und ihren spezifischen Wirklichkeitsbezug und durch das damit erzeugte Wahrnehmungspotential. 32 Zur Bezugnahme auf Waldenfels, Gutjahr und Schäffter in der interkulturellen Literaturwissenschaft siehe Michael Hofmann (2006); vor allem auf Waldenfels bezieht sich Andrea Leskovec (2011). 34 35 Simone Schiedermair Literatur ABCD-Thesen (1990): Zur Rolle der Landeskunde im Deutschunterricht. In: IDV-Rundbrief 45, September 1990, 15-18. Altmayer, Claus; Dobstadt, Michael; Riedner, Renate (2014): Literatur in sprach- und kulturbezogenen Lehr- und Lernprozessen im Kontext DaF/ DaZ. Eine Einführung in den Themenschwerpunkt. In: Deutsch als Fremdsprache 1 (2014), 3-10. Belke, Gerlind (22009a, ED 2007) (Hrsg.): Mit Sprache(n) spielen. Kinderreime, Gedichte und Geschichten für Kinder zum Mitmachen und Selbermachen. Textsammlung. Hohengehren: Schneider. 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Wenn sich dabei neben der in der Literaturdidaktik weithin verbreiteten Kompetenzorientierung ein emphatischer Literaturbegriff abzeichnen sollte, ist das ein erwünschter Nebeneffekt. Einleitung Weltweit sind derzeit mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht vor Gewalt und Not. Sinnbild dieser Krise ist das aus der Vogelperspektive aufgenommene, nur vom Meer umgebene Boot, überfüllt mit Hilfesuchenden. Obwohl die Bootsflüchtlinge, gemessen an der Gesamtzahl ihrer Schicksalsgenossen, nur eine relativ kleine Gruppe ausmachen und die Passage über das Meer meist nur eine kurze Etappe sehr viel längerer Fluchtwege bildet, hat das Bild Symbol Charakter. Es repräsentiert nämlich neben Hoffnungen und Gefährdungen den zwischenstaatlichen Status der Betroffenen. Sie können bestenfalls im Rahmen eines Staates Schutz finden. Ein solcher Zustand unterwirft aber auch das Staatensystem als Ganzes der Kritik. „Deutschland bietet sich", wie Hans Magnus Enzensberger notiert, als Exempel an für ein Land, das seine heutige Population riesigen Wanderbewegungen verdankt. Seit den ältesten Zeiten ist es hier aus den verschiedensten Gründen zu einem fortwährenden Austausch von Bevölkerungs-gruppen gekommen. Schon aufgrund ihrer geographischen Lage sind die Deutschen, ebenso wie die Österreicher, ein besonders bunt gemischtes Volk. (Enzensberger 1992: 48) 40 41 Simone Schiedermair (Hrsg.) Literaturvermittlung Texte, Konzepte, Praxen in Deutsch als Fremdsprache und den Fachdidaktiken Deutsch, Englisch, Französisch Judicium F - -! iniverzita Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-86205-497-8 © IUDICIUM Verlag GmbH München 2017 Druck- und Bindearbeiten: ROSCH-BUCH Druckerei GmbH, Scheßlitz Bei der Umschlaggestaltung wurde das Tagungsplakat (erstellt von Katja Kottwitz) verwendet. Printed in Germany Imprime en Allemagne www.iudicium.de Inhaltsverzeichnis Simone SCHIEDERMAIR Zur Einführung. Literaturvermittlung in internationaler und interdisziplinärer Perspektive 7 Deutsch als Fremdsprache Simone SCHIEDERMAIR „Ist das Literatur? ... Was ist denn Literatur?" - Ein Rückblick und Ausblick auf die Rolle der Literatur im Unterricht Deutsch als Fremdsprache 15 Michael EwERT Literatur und Migration. Mehr- und transkulturelle Literatur in deutscher Sprache - ein Laboratorium transnationaler Realitäten 41 Renate RlEDNER Narrativität und literarisches Erzählen im Fremdsprachenunterricht 58 Almut Hille „Dresden war eine wunderbare Stadt, voller Kunst und Geschichte ..." Autobiografische Texte und (Erinnerungs-)Diskurse in der Ausbildung von Lehrkräften für das Fach Deutsch als Fremdsprache 77 Germanistik in Skandinavien Tngvild folkvord „Wählen tue ich keine Sprache" - Georges-Arthur Goldschmidts mehrsprachige Erinnerungsarbeit 105 Karen bauer und Lise Sandvik Digitales Geschichtenerzählen und Geschichte erzählen. Erinnerungsarbeit im Unterricht Deutsch als Fremdsprache 121 Linda Karlsson Hammarfelt Ein verwässertes Konzept? Nachhaltigkeit und die Undine im Universitätsfach Tyska 143 Moritz Schramm Probleme und Perspektiven. Zur Stellung der deutschsprachigen Literatur im dänischen Universitätsbetrieb 162 5 Inhaltsverzeichnis Fachdidaktik Deutsch, Englisch, Französisch Ricarda freudenberg Literaturvermittlung als interdisziplinäre Aufgabe. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Kooperationsseminare nach dem Praxissemester 189 Laurenz Volkmann Funktionen literarischer Texte. Perspektiven der Englischdidaktik 206 Daniela caspari Sündenfall Kompetenzorientierung? Zu Funktion und Stellenwert literarischer Texte im Fremdsprachenunterricht vor und nach Einführung der Bildungsstandards 223 Markus Rauh „Es wird Zeit, die Metapher aus der Umklammerung durch den Lyrik-unterricht herauszuholen". Literarisches, sprachliches und medienästhetisches Lernen 247 Zu den Autorinnen und Autoren 269 Zur Einführung LITERATURVERMITTLUNG IN INTERNATIONALER UND INTERDISZIPLINÄRER PERSPEKTIVE Simone SCHIEDERMAIR In den letzten Jahren wurde die Diskussion über die Rolle der Literatur und der Literaturwissenschaft im Bereich Deutsch als Fremdsprache mit neuer Intensität aufgenommen. Dabei legen die einschlägigen Publikationen, die etwa seit dem Jahr 2010 erscheinen, den Schwerpunkt auf die Frage nach der Anschlussfähigkeit an aktuelle Theoriediskussionen in Literatur- und Kultur Wissenschaft sowie an sprachwissenschaftliche Konzepte, die eine Berücksichtigung der konkreten Sprachlichkeit literarischer Texte erlauben. Auf dieser Basis wurden vielfältige Möglichkeiten einer Neukonturierung des Arbeitsgebietes entworfen mit durchaus unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Einig ist man sich in der gegenwärtigen fachwissenschaftlichen Diskussion jedoch darin, dass sich die Rolle von Literatur im Fremdsprachenunterricht nicht auf die Nutzung für Fremdzwecke reduzieren lässt, wie etwa für die Grammatik- und Landeskundevermittlung, als Sprech- und Schreibanlass oder als Material für den Erwerb von interkultureller Kompetenz. Stattdessen gutes, die Spezifik literarischer Texte, ihre Literarizität, ins Zentrum der Uber-legungen zu rücken. Damit gewinnen Kategorien wie Verfremdung und Fremde, Deautomatisierung und Ambivalenz, Heterogenität und Multipers-pektivität, Diskursivität und Narrativiät, Medialität und Form an Bedeutung. Mit einem erweiterten Textbegriff, etwa im Hinblick auf unterschiedliche Medien wie Internet oder auf Formen des Erzählens in unterschiedlichen (institutionellen) Zusammenhängen, und mit einem Textbegriff, der die spezifische Bezogenheit literarischer Texte auf gesellschaftliche Diskurse und das daraus erwachsende kritische Potential berücksichtigt, weitet sich außerdem das Feld potentiell interessanter Texte. In den bereits vorliegenden Publikationen wird vor allem die grundlegende Aufgabe einer Bestandsaufnahme der theoretischen Zugänge bearbeitet. Daran anschließend gilt es, mit stärkerem Fokus auf die Vermittlung zu fragen, wie diese Konzepte für die konkreten unterrichtlichen Praxiszusammenhänge Kontur gewinnen können. Diese Fragen werden im vorliegenden Band aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert. Zunächst bietet der Band Beiträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem Bereich 6 7