Die Gäste aber nahmen die Brettchen ernsthaft in Empfang. Manche tauschten sie um. Der eine liebte die Profilform des Schweines, der andere oder — wenn es sich um eine Dame handelte - die andere zog dem ordinären Hausschwein den geheimnisvolleren Fisch vor. Sie rochen an den Brettchen, schoben sie hin und her, und der Wirt Schmuh wartete, nachdem er auch die Gäste auf der Galerie bedient hatte, bis jedes Brettchen zur Ruhe gekommen war. Dann — und alle Herzen warteten auf ihn — dann zog er, einem Zauberer nicht unähnlich, das Deckchen fort: Ein zweites Deckchen deckte den Korb. Darauf aber lagen, mit dem ersten Blick nicht erkenntlich, die Küchenmesser. Wie zuvor mit den Brettchen ging Schmuh nun mit den Messern reihum. Doch machte er seine Runde schneller, steigerte jene Spannung, die ihm erlaubte, die Preise zu erhöhen, machte keine Komplimente mehr, ließ es nicht zum Umtausch der Küchenmesser kommen, eine gewisse wohldosierte Hast fuhr in seine Bewegungen, »Fertig, Achtung, los!« rief er, riß das Tuch vom Korb, griff hinein in den Korb, verteilte, teilte aus, streute unters Volk, war der milde Geber, versorgte seine Gäste, gab ihnen Zwiebeln, Zwiebeln, wie man sie goldgelb und leicht stilisiert auf seinem Shawl sah, Zwiebeln gewöhnlicher Art, Knollengewächse, keine Tulpenzwiebeln, Zwiebeln, wie sie die Hausfrau einkauft, Zwiebeln, wie sie die Gemüsefrau verkauft, Zwiebeln, wie sie der Bauer oder die Bäuerin oder die Magd pflanzt und erntet, Zwiebeln, wie sie, mehr oder weniger getreu abgemalt, auf den Stilleben holländischer Kleinmeister zu sehen sind, solche und ähnliche Zwiebeln verteilte der Wirt Schmuh unter seine Gäste, bis alle die Zwiebel hatten, bis man nur noch die Kanonenöfen bullern, die Karbidlampen singen hörte. So still wurde es nach der großen Zwiebelausteilung - und Ferdinand Schmuh rief »Bittschön, die Herrschaften!« warf das eine Ende seines Shawls über die linke Schulter, wie es Skiläufer vor der Abfahrt tun, und gab damit ein Signal. \ Man enthäutete die Zwiebeln. Sieben Häute sagt man der Zwiebel nach. Die Damen und Herren enthäuteten die Zwiebeln mit den Küchenmessern. Sie nahmen den Zwiebeln die erste, dritte, blonde, goldgelbe, rostbraune, oder besser: zwie-belfarbene Haut, häuteten, bis die Zwiebel gläsern, grün, weißlich, feucht, klebrig wäßrig wurde, roch, nach Zwiebel roch und dann schnitten sie, wie man Zwiebeln schneidet, schnitten geschickt oder ungeschickt auf Hackbrettchen, die die Profile von Schweinen und Fischen hatten, schnitten in diese und jene Richtung, daß der Saft spritzte oder sich der Luft über der Zwiebel mitteilte - es mußten die älteren Herren, die mit Küchenmessern nicht umgehen konnten, vorsichtig sein, daß sie sich nicht in die Finger schnitten; schnitten sich aber manche und merkten es nicht - dafür die Damen um so geschickter, nicht alle, aber doch jene Damen, die zu Hause die Hausfrau abgaben, die da wußten, wie man die Zwiebel schneidet, etwa für Bratkartoffeln oder für Leber mit Apfel und Zwiebelringen; doch in Schmuhs Zwiebelkeller gab es weder noch, nichts gab es da 2u~essen, und wer was_essen._ wollte, der mußte woanders hingehen, ins »Fischl« und nicht in den Zwiebelkeller, denn da wurden nur Zwiebeln geschnitten. Und warum das? Weil der Keller so hieß und was Besonderes war, weil die-iSwü^bel, die geschnittene Zwiebel, wenn man genauQnnschaut . J. nein, Schmuhs Gäste sahen nichts mehr oder eirnge_s^rien nichts mehr, denen liefen die Augen über, nicht weil die Herzen so voll waren; denn es ist gar nicht gesagtfdaß bei vollem Herzen sogleich auch das Auge überlaufen muß, manche schaffen das nie, besonders während der letzten oder verflossenen Jahrzehnte, deshalb wird unser Jahrhundert spätereinmal das tränenlose Jahrhundert genannt werden, obgleich sovieTXeid~ällenthalben - und genau aus diesem tränenlosen Grunde gingen Leute, die es sich leisten konnten, in Schmuhs Zwiebelkeller, ließen sich vom Wirt ein Hackbrettchen - Schwein oder Fisch -, ein Küchenmesser für achtzig Pfennige und eine ordinäre Feld-Garten-Küchenzwie- Húb t 648 649 r 1 Kl h ^ bei für zwölf Mark servieren, schnitten die klein und kleiner, bis der Saft es schaffte, was schaffte? Schaffte, was die Welt und das Leid dieser Welt nicht schafften: die runde menschliche Träne. Da wurde geweint. Da wurde endlich wieder einmal geweint. Anständig geweint, hemmungslos geweint, frei weg geweint. Da floß es und schwemmte fort. Da kam der Regen. PjUÜfiL der. Tau-, Schleusen fallen Oskar ein, die geöffnet werden. Dammbrüche bei Springflut. Wie heißt doch der Fluß, der jedes Jahr über die Ufer tritt, und die Regierung tut nichts dagegen ? Und nach dem Naturereignis für zwölf Mark achtzig spricht der Mensch, der sich ausgeweint hat. Zögernd noch, erstaunt über die eigene nackte Sprache, überließen sich die Gäste des Zwiebelkellers nach dem Genuß der Zwiebeln ihren Nachbarn auf den unbequemen, rupfenbespannten Kisten, ließen sich ausfragen, wenden, wie man Mäntel wendet. Oskar jedoch, der mit Klepp und Scholle tränenlos unter der quasi Hühnerleiter saß, will diskret bleiben, will aus all den Offenbarungen, Selbstanklagen, Beichten, Enthüllungen, Geständnissen nur die Geschichte des Fräulein Pioch erzählen, die ihren Herrn Vollmer immer wieder verlor, deshalb ein steinern Herz und tränenlos Aug' bekam und immer wieder Schmuhs teuren Zwiebelkeller aufsuchen mußte, I Wir begegneten einander, sagte Fräulein Pioch, nachdem sie geweint hatte, in der Straßenbahn. Ich kam aus dem Geschäft -sie besitzt und leitet eine vorzügliche Buchhandlung -, der Wagen war vollbesetzt und Willy - das ist der Herr Vollmer -trat mir heftig auf den rechten Fuß. Ich konnte nicht mehr stehen, und wir liebten uns beide auf den ersten Blick. Da ich auch nicht mehr gehen konnte, bot er mir seinen Arm an, begleitete oder besser, trug mich nach Hause und pflegte von jenem Tage an liebevoll jenen Fußnagel, der sich unter seinem Tritt blauschwarz verfärbt hatte. Aber auch sonst ließ er es mir gegenüber nicht an Liebe fehlen, bis der Nagel sich vom rechten großen Zeh löste und dem Wachstum eines neuen Zehnagels nichts mehr im Wege stand. Von jenem Tage an, da der taube Zehnagel abfiel, erkaltete auch seine Liebe. Wir litten I beide unter dem Schwund. Da machte Willy, weil er immer j[ noch an mir hing, auch weil wir beide soviel Gemeinsames I hatten, jenen schrecklichen Vorschlag: Laß mich deinen linken 1 großen Zeh treten, bis dessen Nagel rotblau, dann blauschwarz f wird. Ich gab nach, und er tat es. Sofort war ich wieder im i vollen Genuß seiner Liebe, durfte die genießen, bis auch der I linke Nagel des linken großen Zehs wie ein welkes Blatt abfiel; ?' und abermals erlebte unsere Liebe den Herbst. Jetzt wollte I; Willy meinen rechten großen Zeh, dessen Nagel inzwischen f nachgewachsen war, treten, um mir wieder in Liebe dienen zu ► dürfen. Doch ich erlaubte es ihm nicht. Sagte, wenn deine I Liebe wirklich groß und echt ist, muß sie auch einen Zehnagel I überdauern können. Er verstand mich nicht und verließ mich. 1 Nach Monaten begegneten wir einander im Konzertsaal. Nach § der Pause setzte er sich ungefragt neben mich, da neben mir f noch ein Platz frei war. Als der Chor während der neunten f Symphonie zu singen anhob, schob ich ihm meinen rechten 1 Fuß hin, von dem ich zuvor den Schuh abgestreift hatte. Er trat I zu, und ich störte dennoch nicht das Konzert. Nach sieben Wochen verließ mich Willy abermals. Noch zweimal durften ■■ wir uns wenige Wochen lang haben, da ich noch zweimal, einmal den linken, dann den rechten großen Zeh hinhielt. Heute sind beide Zehen verkrüppelt. Die Nägel wollen nicht mehr nachwachsen. Dann und wann besucht mich Willy, sitzt vor mir auf dem Teppich, starrt erschüttert, voller Mitleid mit mir und mit sich selbst, doch ohne Liebe tränenlos auf die beiden nagellosen Opfer unserer Liebe. Manchmal sage ich zu ihm: Komm, Willy, wir gehen zu Schmuh in den Zwiebelkeller, weinen wir uns mal richtig aus. Aber bis jetzt hat er nie mitkommen wollen. Der Arme weiß also nichts von der ij großen Trösterin Träne. Später - und Oskar verrät das nur, um die Neugierigen unter Ihnen zu befriedigen - kam auch Herr Vollmer, ein Radiohändler übrigens, zu uns in den Keller. Sie weinten gemeinsam 6fo 2 65i ■ ben war, zum Schluß die letzten aus den Davits gesprungenen Rettungsboote. »Zufrieden fetzt. Vafcr?» Danach, kein Wort mehr. Sein Blick suchte das vergitterte Fenster, blieb daran hängen. Ich habe weißnichtmehrwas gequasselt. Irgendwas Positives. »Man soll nie aufgeben« oder »Laß uns noch einmal gemeinsam von vorne anfangen« oder irgendeinen Stuß, amerikanischen Filmen nachgeplappert: »Ich bin stolz auf dich.« Auch als ich ging, hatte mein Sohn kein Wort übrig. ! Wenige Tage später, nein tags darauf hat mir jemand -er, in dessen Namen ich krebsend vorankam - dringlich geraten,"l)nT50ü^el5^rfö^ sich per Mausklick ein passendes Schlußwort. Bis dahin hatte ich enthaltsam gelebt: nur was der Beruf forderte, ab und zu ein Porno, mehr nicht. Seitdem Ronny saß, herrschte ja Funkstille. Auch gab es keinen David mehr. Mußte lange surfen. Hatte zwar oft den Namen des verfluchten Schiffes im Window, aber nichts Neues oder abschließend Endgültiges. Doch dann kam es dicker als befürchtet. Unter besonderer Adresse stellte sich in deutscher und englischer Sprache eine Website vor, die als »www.kameradschaft-konrad-polaie.&e.de« für jemanden warb, dessen Haltung und Gedankengut vorbildlich seien, den deshalb das verhaßte System eingekerkert habe. »Wir glauben an Dich, wir warten auf Dich, wir folgen Dir...« Undsoweitef undsoweiter. Das hört nicht auf. Nie hört das auf i ""~ ******* 216 1 1 Also brachte ich von meiner Polenreise einen Vorrat an Fundsachen nach Paris mit: aufschäumendes Brausepulver, Karfreitagslärm und Teppichklopfstangen, den Fluchtweg des Geldbriefträgers, der den Kampf um die Polnische Post überlebt hatte, Schulwege hin und zurück, was die städtische Bibliothek an Zeitungsjahrgängen aufbewahrt hatte, die Kinoprogramme im Herbst neununddreißig. Zudem Geflüster in Beichtstühlen, Inschriften auf Grabsteinen, den Geruch der Ostsee und Bernsteinkrümel, die zwischen Brösen und Glettkau entlang dem Wellensaum zu finden waren. So kam alles zu Wort und blieb frisch, weil in Paris wie unter einer Käseglocke aufgehoben. So erschöpfte ich mich und war dennoch nicht leergelöffelt, schrieb zwar noch eigenhändig, war aber mittlerweile Werkzeug nur und hörig meinen Figuren, besonders der einen, die -weißnichtwarum - Oskar hieß. Uberhaupt weiß ich wemg darüber zu sagen, wie etwas entstand und entsteht; es sei denn, ich müßte lügen... Und als ich im Oktober des gleichen Jahres von Paris über München in irgendein bayerisches oder schwäbisches Nest namens Großholzleute reiste, um dort vor der versammelten Gruppe 47 die Kapitel »Der weite Rock« und »Fortuna Nord« zu lesen, wurde dem Autor eines annähernd fertigen Romans der Preis der Gruppe zugesprochen. Viertausendfünfhundert Mark kamen zusammen, spontan von Verlegern gespendet: mein erstes großes Geld, das mir half, in Ruhe alles noch einmal in die Olivetti zu tippen, sozusagen ins reine. Außerdem trug uns das Preisgeld einen formschönen Plattenspieler der Firma Braun ein, genannt »Schneewittchensarg«, den ich in München nach erster Rundfunk- 47 lesung kaufte und nach Paris brachte, auf dem wir Stra-winskys »Frühlingsopfer« und Bartöks »Blaubart« hörten, immer wieder. Nun waren wir nicht mehr arm und konnten uns Kalbsleber und Schallplatten kaufen. In Paris tanzten Anna und ich offen und eng. In Paris waren wir glücklich und ahnten nicht, wie lange noch. In Paris kam de Gaulle an die Macht und lernte ich, die Knüppelgewalt der französischen Polizei zu fürchten. In Paris wurde ich zusehends politischer. In Paris setzten sich vor fließender Wand etliche Tuberkulome in meiner Lunge fest, die erst in Berlin auskuriert wurden. In Paris liefen mir die Zwillinge auf der Avenue d'Italie in verschiedene Richtung davon, so daß ich nicht wußte, wem zuerst hinterdrein. In Paris war Paul Celan nicht zu helfen. In Paris war bald kein Bleiben mehr. [/Und als dann im Herbst neunundfünfzig der Roman »Die Blechtrommel« in erster Auflage erschien, fuhren Anna und ich von Paris aus zur Frankfurter Buchmesse, wo wir bis in den Morgen hinein tanzten. Und als wir im Jahr drauf Paris hinter uns ließen und abermals, nun als Familie, in Berlin Wohnung in einer Halbruine nahmen, begann ich in der Karlsbader Straße, wo mir von fünf Zimmern eines zustand, sofort wieder zu zeichnen und zu schreiben, denn mit meiner Olivetti, dem Hochzeitsgeschenk, hatte ich schon von Paris aus neuen Anlauf genommen... f So lebte ich fortan von Seite zu Seite und zwischen Buch und Buch. Dabei blieb ich mwendig/reict) an Figuren. Doch davon zu erzählen, fehlt es an Zwiebeln und Lust. I Sag schon, Paulchen, ob du... Geht in Ordnung, wenn sie bei dir, wo du doch von Beruf Fotograf bist und bestimmt... War wirklich okay, wenn du... Nix sag ich. Glaubt mir sowieso keiner. Wetten, daß er den Kasten in Sicherheit gebracht hat, vielleicht versteckt irgendwo in Brasilien... Stimmts, Faulchen? Wolltest bestimmt im Regenwald letzte Indianer mit Mariechens Box knipsen, und was an Bäumen noch übrig geblieben ist. Also, wo ist sie hin? Jadoch, verdammt, wo? Hört endlich auf. Paulchen wird schon wissen, warum er mit keinem Wort... Jeder hat Heimlichkeiten. Ich sag euch ja auch nicht alles. Keiner sagt alles. Und unser Väterchen schon gar nicht. Außerdem gabs keine Neuigkeiten mehr aus der Dunkelkammer zu erzählen, seitdem es kein Mariechen und keine Box mehr gab und danach alles langweilig wurde, nur noch normal lief. Weshalb jetzt Schluß sein sollte. Schluß ist! Für mich sowieso, weil ich nämlich und zwar sofort in die Klinik... Hab Nachtdienst wie gestern schon. Da hatten wir fünf Geburten, jede unkompliziert. Nur eine Mutter war deutscher Herkunft. Die vier anderen kamen von überall... Will übrigens Schnappschüsse von den fünf Babys machen. Will ich jetzt immer nach jeder Geburt... 210 Und zwar mit einer Box, die ich mir kürzlich auf dem Flohmarkt... War nicht mal billig, sieht aber aus wie die von eurer alten Marie. Steht sogar Agfa drauf. Die Mütter freuen sich bestimmt, wenn ich Knipsfotos von ihren Babys... Mach ich, weil sowas für die Erinnerung gut ist, aber auch als Hebamme, rein berufsmäßig, wie Lara sagen würde, und weil man so vielleicht sehen kann, was aus den Babys später, viel später mal... »"■"Los, Atze, stell ab, sonst gehts weiter und weiter, endlos so weiter... .. .weil unsrem Vater immer noch nejGeschichte... ... denn nur er, nie wir... Aber nichts hat er mehr zu sagen. Erwachsen blicken die Kinder streng. Sie weisen auf ihn mit Fingern. Das Wort wird dem Vater entzogen. Laut und mit Nachhall rufen die Töchter, die Söhne: »Das sind nur Mjuxhcn, Märchen...« - »Stimmt«, hält er leise dagegen, »doch sind es eure, die ich euch erzählen ließ.« Schnelle Blicke wechseln. Halbsätze zerkaut, verschluckt: beteuerte Liebe, aber auch Vorwürfe, die schon seit längerer Zeit vorrätig lagern. Schon soll nicht gelten, was auf Schnappschüssen gelebt wurde. Schon heißen die Kinder, wie sie richtig heißen. Schon schrumpft der Vater, will sich verflüchtigen. Schon regt sich flüsterndVer-dacht, er, nur er habe Mariechen beerbt und die Box - wie anderes auch - bei sich versteckt: für später, weil immer noch was in ihm tickt, das abgearbeitet werden muß, solang er noch da ist... / 211 r ■ Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, läßt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann. ! Mein PflegeTkann also gar nicht mein Feind sein. Liebgewonnen habe ich ihn, erzähle dem Gucker hinter der Tür, sobald er mein Zimmer betritt, Begebenheiten aus meinem Leben, damit er mich trotz des ihn hindernden Guckloches kennenlernt. Der Gute scheint meine Erzählungen zu schätzen, denn sobald ich ihm etwas vorgelogen habe, zeigt er mir, um sich erkenntlich zu geben, sein neuestes Khotengebilde. Ob er ein Künstler ist, bleibe dahingestellt. Eine Ausstellung seiner Kreationen würde jedoch von der Presse gut aufgenommen werden, auch einige Käufer herbeilocken. Er knotet ordinäre Bindfäden, die er nach den Besuchsstunden m den Zimmern seiner Patienten sammelt und entwirrt, zu vielschichtig verknorpelten Gespenstern, taucht diese dann in Gips, läßt sie erstarren und spießt sie mit Stricknadeln, die auf Holzsöckelchen befestigt sind. Oft spielt er mit dem Gedanken, seine Werke farbig zu gestalten. Ich rate davon ab, weise auf mein weißlackiertes Metallbett hin und bitte ihn, sich dieses vollkommenste Bett bunt bemalt vorzustellen. Entsetzt schlägt er dann seine Pflegerhände über dem Kopf zusammen, versucht in etwas zu starrem Gesicht allen Schrecken gleichzeitig Ausdruck zu geben und nimmt Abstand von seinen farbigen Plänen. Mein weißlackiertes metallenes Anstaltsbett ist also ein Maßstab. Mir ist es sogar mehr: mein Bett ist das endlich erreichte Ziel, mein Trost ist es und könnte mein Glaube werden, wenn mir die Anstaltsleitung erlaubte, einige Änderungen vorzunehmen: das Bettgitter möchte ich erhöhen lassen, damit mir niemand mehr zu nahe tritt. 6 Einmal in der Woche unterbricht ein Besuchstag meine zwischen weißen Metallstäben geflochtene Stille. Dann kommen sie, die mich retten wollen, denen es Spaß macht, mich zu lieben, die sich in mir schätzen, achten und kennenlernen möchten. Wie blind, nervös, wie unerzogen sie sind. Kratzen mit ihren Fingernagelscheren an meinem weißlackierten Bettgitter, kritzeln mit ihren Kugelschreibern und Blaustiften dem Lack langgezogene unanständige Strichmännchen. Mein Anwalt stülpt jedesmal, sobald er mit seinem Hallo das Zimmer sprengt, den Nylonhut über den linken Pfosten am Fußende meines Bettes. Solange sein Besuch währt - und Anwälte wissen viel zu erzählen -, raubt er mir durch diesen Gewaltakt das Gleichgewicht und die Heiterkeit. Nachdem meine Besucher ihre Geschenke auf dem weißen, mit Wachstuch bezogenen Tischchen unter dem Anemonenaquarell deponiert haben, nachdem es ihnen gelungen ist, mir ihre gerade laufenden oder geplanten Rettungsversuche zu unterbreiten und mich, den sie unermüdlich retten wollen, vom hohen Standard ihrer Nächstenliebe zu überzeugen, finden sie wieder Spaß an der eigenen Existenz und verlassen mich. Dann kommt mein Pfleger, um zu lüften und die Bindfäden der Geschenkpackungen einzusammeln. Oftmals findet er nach dem Lüften noch Zeit, an meinem Bett sitzend, Bindfäden aufdröselnd, so lange Stille zu verbreiten, bis ich die • Stille Bruno und Bruno die Stille nenne. Bruno Münsterberg - ich meine jetzt meinen Pfleger, lasse das Wortspiel hinter mir - kaufte auf meine Rechnung fünfhundert Blatt Schreibpapier. Bruno, der unverheiratet, kin- I derlos ist und aus dem Sauerland stammt, wird, sollte der Vorrat nicht reichen, die kleine Schreibwarenhandlung, in der auch Kinderspielzeug verkauft wird, noch einmal aufsuchen und mir den notwendigen unlinierten Platz für mein hoffentlich genaues Erinnerungsvermögen beschaffen. Niemals hätte ich meine Besucher, etwa den Anwalt oder Klepp, um diesen Dienst bitten können. Besorgte, mir verordnete und von der bewegten Wasserfläche aufsteigend, in der Tausende lebend oder tot in ihren Schwimmwesten hingen. Aus halbvollen und überfüllten Booten, von engbesetzten Flößen, die von Wellen gehoben wurden, in Wellentälern verschwanden, von überall her stieg gebündelt der Schrei auf und steigerte sich mit dem plötzlich einsetzenden, dann jäh erstickten Heulen der Schiffssirene zu grauenhafter Zweistimmigkeit. Ein nie gehörter, ein kollektiver Endschrei, von dem Mutter sagte und weiterhin sagen wird: »Sonjeschrai kriegste nich mehr raus äussern Jehör...« Die Stille danach soll nur noch von meinem Gequengel irritiert worden sein. Kaum abgenabelt, lag auch ich still. Als der Kapitän als Zeuge des Untergangs ordnungsgemäß den Zeitpunkt im Bordbuch vermerkt hatte, begann die Besatzung des Torpedobootes wiederum, Überlebende aus der See zu fischen. •f ' Aber das stimmt alles nicht. Mutter lügt. Bin sicher, daß ich nicht auf der Lowe... Die Uhrzeit war nämlich... Weil schon, als der zweite Torpedo... Und bei den ersten Wehen Doktor Richter keine Spritze, sondern gleich die Geburt... Ging glatt. Geboren auf schräger, rutschender Pritsche. Alles war schräg, als ich... Nur schade, daß Doktor Richter nicht Zeit fand, auch noch die Urkunde: geboren am, an Bord von, mit genauer Zeitangabe handschriftlich... Jadoch, nicht auf einem Torpedoboot, sondern auf dem verfluchten, auf den Blutzeugen getauften, vom Stapel gelassenen, einst weißgläiizenden, beliebten, kraftdurchfreudeför-dernden, klassenlosen, dreimal vermaledeiten, überladenen, kriegsgrauen, getroffenen, immerfort sinkenden Schiff wurde ich aus Kopf- und in Schräglage geboren. Und mit dem abgenabelten Säugling, der gewickelt und in Schiffseigner Wolldecke verpackt wurde, ist Mutter dann, gestützt auf Doktor Richter und Stationsschwester Helga, ins rettende Boot. Aber sie will keine Niederkunft auf der Gustbff. Lügt sich zwei Matrosen zusammen, die mich in der Kajüte des Maschinenoffiziers abgenabelt haben. Dann wieder soll es der Doktor gewesen sein, der aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht an Bord des Torpedobootes war. Selbst Mutter, die sonst alles mit Bestimmtheit weiß, schwankt in ihrer Meinung und läßt, außer den »zwai Mariners« und dem »Onkel Dokter, der mir auffe Justloff noch ne Spritze verpaßt hat«, einen weiteren Geburtshelfer aktiv werden: der Kapitän der Löwe, Paul Prüfe, soll mich abgenabelt haben. Da ich meine Geburtsversion, die, zugegeben, eher eine Vision ist, nicht belegen kann, halte ich mich an die von Heinz Schön überlieferten Fakten, nach denen Doktor Richter nach Mitternacht von dem Torpedoboot übernommen wurde. Erst dann ist er bei der Geburt eines anderen Kindes tätig geworden. Sicher bleibt aber, daß der Bordarzt der Gustlqff nachträglich meinen Geburtsschein, datiert auf den 30. Januar 1945, wenn auch ohne genaue Uhrzeit, ausgestellt hat. Zu meinem Vornamen jedoch hat mir Kapitänleutnant Prüfe verholfen. Mutter will darauf bestanden haben, daß ich Paul, »jenau wie der Käpten vonne Leewe«, und unvermeidbar mit Nachnamen Pokriefke heißen sollte. Später haben mich die Jungs in der Schule und bei der FDJ, aber auch Journalisten aus meinem Bekanntenkreis »Peepee« gerufen; und mit P Punkt P Punkt unterzeichne ich meine ArtikeL_/ Der Junge übrigens, der zwei Stunden nach meiner Geburt, also am .31. Januar, auf dem Torpedoboot geboren wurde, hieß fortan auf Wunsch seiner Mutter und des rettenden Schiffes wegen mit Vornamen »Leo«. H7 b>&9 1 »Warum erst jetzt?« sagte jemand, der nicht ich bin. Weil Mutter mir immer wieder... Weil ich wie damals, als der Schrei überm Wasser lag, schreien wollte, aber nicht konnte... Weil die Wahrheit kaum mehr als drei Zeilen... Weil jetzt erst... Noch haben die Wörter Schwierigkeiten mit mir. Jemand, der keine Ausreden mag, nagelt mich auf meinen Beruf fest. Schon als junger Spund hätte ich, fix mit Worten, bei einer Springer-Zeitung volontiert, bald gekonnt die Kurve gekriegt, später für die »taz« Zeilen gegen Springer geschunden, mich dann als Söldner von Nachrichtenagenturen kurz gefaßt und lange Zeit freiberuflich all das zu Artikeln verknappt, was frisch vom Messer gesprungen sei: Täglich Neues. Neues vom Tage. Mag schon sein, sagte ich. Aber nichts anderes hat unsereins gelernt. Wenn ich jetzt beginnen muß, mich selber abzuwickeln, wird alles, was mir schiefgegangen ist, dem Untergang eines Schiffes eingeschrieben sein, weil nämlich, weil Mutter damals hochschwanger, weil ich überhaupt nur zufällig lebe. \ Und schon bin ich abermals jemand zu Diensten, darf aber vorerst von meinem bißchen Ich absehen, denn diese Geschichte fing lange vor mir, vor mehr als hundert Jahren an, und zwar in der mecklenburgischen Residenzstadt Schwerin, die sich zwischen sieben Seen erstreckt, mit der Die Häute unter der Haut i i Ob heute oder Vorjahren, lockend bleibt die Versuchung, sich in dritter Person zu Verkappen: Als er annähernd zwölf zählte, doch immer noch liebend gern auf Mutters Schoß saß, begann und endete etwas. Aber läßt sich, was anfing, was auslief, so genau auf den Punkt bringen? Was mich betrifft, schon.}' Auf engem Raunrmirde meine Kindheit beendet, als dort, wo ich aufwuchs, an verschiedenen Stellen zeitgleich der Krieg ausbrach. Er begann unüberhörbar mit den Breitseiten eines Linienschiffes und dein Anflug von Sturzkampfflugzeugen über dem Hafenvorort Neufahrwasser, dem als polnischer Militärstützpunkt die Westerplatte gegenüberlag, zudem entfernter mit den gezielten Schüssen zweier Panzerspähwagen beim Kampf um die Polnische Post in der Danziger Altstadt und nahbei verkündet aus unserem Radio, dem Volksempfänger, der im Wohnzimmer auf dem Büfett seinen Platz hatte: mit ehernen Worten wurde in einer Parterrewohnung, die Teil eines dreistöckigen Mietshauses im Langführer Labesweg war, das Ende meiner Kinderjahre ausgerufen. Sogar die Uhrzeit wollte unvergeßlich sein. Ab dann herrschte auf dem Flugplatz des Freistaates, nahe der Schokoladenfabrik Baltic, nicht nur ziviler Betrieb. Aus den Dachluken des Mietshauses gesehen, stieg überm Freihafen schwärzlich Rauch auf, der sich unter fortgesetzten Angriffen und bei leichtem Wind aus Nordwest erneuerte. 7 Was sich verkapselt hat i Ein Wort ruft das andere. Schulden und Schuld. Zwei Wörter, so nah beieinander, so fest im Nährboden der deutschen Sprache verwurzelt, doch ist dem erstgenannten mit Abzahlung - und sei es in Raten, wie es die Pumpkundschaft meiner Mutter tat - abmildernd beizukommen; die nachweisbare wie die verdeckte oder nur zu vermutende Schuld jedoch bleibt. Immerfort tickt sie und ist selbst auf Reisen ins Nirgendwo als Platzhalter schon da. Sie sagt ihr Sprüchlein auf, fürchtet keine Wiederholungen, läßt sich gnädig auf Zeit vergessen und überwintert Jn Träumen. Sie bleibt als Bodensatz, ist als Fleck nicht zu tilgen, als Pfütze nicht aufzulecken. Sie hat von früh auf gelernt, gebeichtet in einer Ohrmuschel Zuflucht zu suchen, sich als verjährt oder längst vergeben kleiner als klein, zu einem Nichts zu machen, und steht dann doch, sobald die Zwiebel Pelle nach Pelle geschrumpft ist, dauerhaft den jüngsten Häuten eingeschrieben: mal in Großbuchstaben, mal als Nebensatz oder Fußnote, mal deutlich lesbar, dann wieder in Hieroglyphen, die, wenn überhaupt, nur mühsam zu entziffern sind. Mir gilt leserlich die knappe Inschrift: Ich schwieg. Weil aber so viele geschwiegen haben, bleibt die Versuchung groß, ganz und gar vom eigenen Versagen abzusehen, ersatzweise die allgemeine Schuld einzuklagen oder nur uneigentlich in dritter Person von sich zu sprechen: Er war, sah, hat, sagte, er schwieg... Und zwar in sich hinein, wo viel Platz ist für Versteckspiele. Sobald ich mir den Jungen von einst, der ich als Dreizehnjähriger gewesen bin, herbeizitiere, ihn streng ins Verhör nehme und die Verlockung spüre, ihn zu richten, womöglich wie einen Fremden, dessen Nöte mich kaklassen, abzuurteilen, sehe ich einen mittelgroßen Bengel in kurzen Hosen und Kniestrümpfen, der ständig grimassiert. Er weicht mir aus, will nicht beurteilt, verurteilt werden. Er flüchtet auf Mutters Schoß. Er ruft: »Ich war doch ein Kind nur, nur ein Kind...« Ich versuche, ihn zu beruhigen, und bitte ihn, mir beim Häuten der Zwiebel zu helfen, aber er verweigert Auskünfte, will sich nicht als mein frühes Selbstbild ausbeuten lassen. Er spricht mir das Recht ab, ihn, wie er sagt, »fertigzumachen«, und zwar »von oben herab«. Jetzt verkneift er die Augen zu Sehschlitzen, preßt und verzieht die Lippen, bringt den Mund in unruhige Schief-, läge und arbeitet an seiner Grimasse, während er zugleichj über Büchern hockt, weg ist, nicht einzuholen^! Ich sehe ihn lesen. Das, nur das tut er mit Ausdauer. Dabei stöpselt er beide Ohren mit den Zeigefingern, um in enger Wohnung gegen den fröhlichen Lärm der Schwester abgeschirmt zu sein. Jetzt trällert sie, kommt näher. Er muß aufpassen, denn gern schlägt sie ihm das Buch zu, will mit ihm spielen, immer nur spielen, ist ein Wirbelwind. Nur auf Distanz ist ihm seine Schwester lieb. Bücher waren ihm von früh an die fehlende Latte im Zaun, seine Schlupflöcher in andere Welten. Doch sehe ich ihn auch Grimassen schneiden, wenn er nichts tut, nur zwischen den Möbeln des Wohnzimmers rumsteht und dabei so abwesend zu sein scheint, daß die Mutter ihn anrufen muß: »Wo biste nu schon wieder? Was denkste dir jetzt wieder aus?« 36 37 Die Gäste aber nahmen die Brettchen ernsthaft in Empfang. Manche tauschten sie um. Der eine liebte die Profilform des Schweines, der andere oder - wenn es sich um eine Dame handelte - die andere zog dem ordinären Hausschwein den geheimnisvolleren Fisch vor. Sie rochen an den Brettchen, schoben sie hin und her, und der Wirt Schmuh wartete, nachdem er auch die Gäste auf der Galerie bedient hatte, bis jedes Brettchen zur Ruhe gekommen war. Dann — und alle Herzen warteten auf ihn — dann zog er, einem Zauberer nicht unähnlich, das Deckchen fort: Ein zweites Deckchen deckte den Korb. Darauf aber lagen, mit dem ersten Blick nicht erkenntlich, die Küchenmesser. Wie zuvor mit den Brettchen ging Schmuh nun mit den Messern reihum. Doch machte er seine Runde schneller, steigerte jene Spannung, die ihm erlaubte, die Preise zu erhöhen, machte keine Komplimente mehr, ließ es nicht zum Umtausch der Küchenmesser kommen, eine gewisse wohldosierte Hast fuhr in seine Bewegungen, »Fertig, Achtung, los!« rief er, riß das Tuch vom Korb, griff hinein in den Korb, verteilte, teilte aus, streute unters Volk, war der milde Geber, versorgte seine Gäste, gab ihnen Zwiebeln, Zwiebeln, wie man sie goldgelb und leicht stilisiert auf seinem Shawl sah, Zwiebeln gewöhnlicher Art, Knollengewächse, keine Tulpenzwiebeln, Zwiebeln, wie sie die Hausfrau einkauft, Zwiebeln, wie sie die Gemüsefrau verkauft, Zwiebeln, wie sie der Bauer oder die Bäuerin oder die Magd pflanzt und eintet, Zwiebeln, wie sie, mehr oder weniger getreu abgemalt, auf den Stilleben holländischer Kleinmeister zu sehen sind, solche und ähnliche Zwiebeln verteilte der Wirt Schmuh unter seine Gäste, bis alle die Zwiebel hatten, bis man nur noch die Kanonenöfen bullern, die Karbidlampen singen hörte. So still wurde es nach der großen Zwiebelausteilung - und Ferdinand Schmuh rief »Bittschön, die Herrschaften!« warf das eine Ende seines Shawls über die linke Schulter, wie es Skiläufer vor der Abfahrt tun, und gab damit ein Signal. \ Man enthäutete die Zwiebeln. Sieben Häute sagt man der Zwiebel nach. Die Damen und Herren enthäuteten die Zwiebeln mit den Küchenmessern. Sie nahmen den Zwiebeln die erste, dritte, blonde, goldgelbe, rostbraune, oder besser: zwie-belfarbene Haut, häuteten, bis die Zwiebel gläsern, grün, weißlich, feucht, klebrig wäßrig wurde, roch, nach Zwiebel roch und dann schnitten sie, wie man Zwiebeln schneidet, schnitten geschickt oder ungeschickt auf Hackbrettchen, die die Profile von Schweinen und Fischen hatten, schnitten in diese und jene Richtung, daß der Saft spritzte oder sich der Luft über der Zwiebel mitteilte - es mußten die älteren Herren, die mit Küchenmessern nicht umgehen konnten, vorsichtig sein, daß sie sich nicht in die Finger schnitten; schnitten sich aber manche und merkten es nicht - dafür die Damen um so geschickter, nicht alle, aber doch jene Damen, die zu Hause die Hausfrau abgaben, die da wußten, wie man die Zwiebel schneidet, etwa für Bratkartoffeln oder für Leber mit Apfel und Zwiebelringen; doch in Schmuhs Zwiebelkeller gab es weder noch, nichts gab es da ztTessen, und wer was_ess.en._ wollte, der mußte woanders hingehen, ins »Fischl« und nicht in den Zwiebelkeller, denn da wurden nur Zwiebeln geschnitten. Und warum das? Weil der Keller so hieß und was Besonderes war, weil die-Zwyebel, die geschnittene Zwiebel, wenn man genauQiinschaut . J. nein, Schmuhs Gäste sahen nichts mehr oder emtge_sarien nichts mehr, denen liefen .„die Augen über, nicht weil die Herzen so voll waren; denn es ist gar nicht gesagt^claß bei vollem Herzen sogleich auch das Auge überlaufen muß, manche schaffen das nie, besonders während der letzten oder verflossenen Jahrzehnte, deshalb wird unser Jahrhundert spätereinmal das tränenlose Jahrhundert genannt werden, obgleich sovieTXeid~ällenthalben - und genau aus diesem tränenlosen Grunde gingen Leute, die es sich leisten konnten, in Schmuhs Zwiebelkeller, ließen sich vom Wirt ein Hackbrettchen - Schwein oder Fisch -, ein Küchenmesser für achtzig Pfennige und eine ordinäre Feld-Garten-Küchenzwie- Húb t 648 649 r 1 Kl h ^ bei für zwölf Mark servieren, schnitten die klein und kleiner, bis der Saft es schaffte, was schaffte? Schaffte, was die Welt und das Leid dieser Welt nicht schafften: die runde menschliche Träne. Da wurde geweint. Da wurde endlich wieder einmal geweint. Anständig geweint, hemmungslos geweint, frei weg geweint. Da floß es und schwemmte fort. Da_kamjderReggg. DaJjeL der. Tau-, Schleusen fallen Oskar ein, die geöffnet werden. Dammbrüche bei Springflut. Wie heißt doch der Fluß, der jedes Jahr über die Ufer tritt, und die Regierung tut nichts dagegen ? Und nach dem Naturereignis für zwölf Mark achtzig spricht der Mensch, der sich ausgeweint hat. Zögernd noch, erstaunt über die eigene nackte Sprache, überließen sich die Gäste des Zwiebelkellers nach dem Genuß der Zwiebeln ihren Nachbarn auf den unbequemen, rupfenbespannten Kisten, ließen sich ausfragen, wenden, wie man Mäntel wendet. Oskar jedoch, der mit Klepp und Scholle tränenlos unter der quasi Hühnerleiter saß, will diskret bleiben, will aus all den Offenbarungen, Selbstanklagen, Beichten, Enthüllungen, Geständnissen nur die Geschichte des Fräulein Pioch erzählen, die ihren Herrn Vollmer immer wieder verlor, deshalb ein steinern Herz und tränenlos Aug' bekam und immer wieder Schmuhs teuren Zwiebelkeller aufsuchen mußte, I Wir begegneten einander, sagte Fräulein Pioch, nachdem sie geweint hatte, in der Straßenbahn. Ich kam aus dem Geschäft -sie besitzt und leitet eine vorzügliche Buchhandlung -, der Wagen war vollbesetzt und Willy - das ist der Herr Vollmer -trat mir heftig auf den rechten Fuß. Ich konnte nicht mehr stehen, und wir liebten uns beide auf den ersten Blick. Da ich auch nicht mehr gehen konnte, bot er mir seinen Arm an, begleitete oder besser, trug mich nach Hause und pflegte von jenem Tage an liebevoll jenen Fußnagel, der sich unter seinem Tritt blauschwarz verfärbt hatte. Aber auch sonst ließ er es mir gegenüber nicht an Liebe fehlen, bis der Nagel sich vom rechten großen Zeh löste und dem Wachstum eines neuen Zehnagels nichts mehr im Wege stand. Von jenem Tage an, da der taube Zehnagel abfiel, erkaltete auch seine Liebe. Wir litten I beide unter dem Schwund. Da machte Willy, weil er immer j[ noch an mir hing, auch weil wir beide soviel Gemeinsames I hatten, jenen schrecklichen Vorschlag: Laß mich deinen linken 1 großen Zeh treten, bis dessen Nagel rotblau, dann blauschwarz f wird. Ich gab nach, und er tat es. Sofort war ich wieder im i vollen Genuß seiner Liebe, durfte die genießen, bis auch der I linke Nagel des linken großen Zehs wie ein welkes Blatt abfiel; ?' und abermals erlebte unsere Liebe den Herbst. Jetzt wollte I; Willy meinen rechten großen Zeh, dessen Nagel inzwischen f nachgewachsen war, treten, um mir wieder in Liebe dienen zu ► dürfen. Doch ich erlaubte es ihm nicht. Sagte, wenn deine I Liebe wirklich groß und echt ist, muß sie auch einen Zehnagel I überdauern können. Er verstand mich nicht und verließ mich. 1 Nach Monaten begegneten wir einander im Konzertsaal. Nach § der Pause setzte er sich ungefragt neben mich, da neben mir f noch ein Platz frei war. Als der Chor während der neunten f Symphonie zu singen anhob, schob ich ihm meinen rechten 1 Fuß hin, von dem ich zuvor den Schuh abgestreift hatte. Er trat I zu, und ich störte dennoch nicht das Konzert. Nach sieben Wochen verließ mich Willy abermals. Noch zweimal durften ■■ wir uns wenige Wochen lang haben, da ich noch zweimal, einmal den linken, dann den rechten großen Zeh hinhielt. Heute sind beide Zehen verkrüppelt. Die Nägel wollen nicht mehr nachwachsen. Dann und wann besucht mich Willy, sitzt vor mir auf dem Teppich, starrt erschüttert, voller Mitleid mit mir und mit sich selbst, doch ohne Liebe tränenlos auf die beiden nagellosen Opfer unserer Liebe. Manchmal sage ich zu ihm: Komm, Willy, wir gehen zu Schmuh in den Zwiebelkeller, weinen wir uns mal richtig aus. Aber bis jetzt hat er nie mitkommen wollen. Der Arme weiß also nichts von der ij großen Trösterin Träne. Später - und Oskar verrät das nur, um die Neugierigen unter Ihnen zu befriedigen - kam auch Herr Vollmer, ein Radiohändler übrigens, zu uns in den Keller. Sie weinten gemeinsam 6fo 2 65i ■ ben war, zum Schluß die letzten aus den Davits gesprungenen Rettungsboote. »Zufrieden jetzt. Vafcr?» Danach kein Wort mehr. Sein Blick suchte das vergitterte Fenster, blieb daran hängen. Ich habe weißnichtmehrwas gequasselt. Irgendwas Positives. »Man soll nie aufgeben« oder »Laß uns noch einmal gemeinsam von vorne anfangen« oder irgendeinen Stuß, amerikanischen Filmen nachgeplappert: »Ich bin stolz auf dich.« Auch als ich ging, hatte mein Sohn kein Wort übrig. ! Wenige Tage später, nein tags darauf hat mir jemand -er, in dessen Namen ich krebsend vorankam - dringlich geraten, online zu gehen. Er sagte,'vielleicKf finde sich per Mausklick ein passendes Schlußwort. Bis dahin hatte ich enthaltsam gelebt: nur was der Beruf forderte, ab und zu ein Porno, mehr nicht. Seitdem Ronny saß, herrschte ja Funkstille. Auch gab es keinen David mehr. Mußte lange surfen. Hatte zwar oft den Namen des verfluchten Schiffes im Window, aber nichts Neues oder abschließend Endgültiges. Doch dann kam es dicker als befürchtet. Unter besonderer Adresse stellte sich in deutscher und englischer Sprache eine Website vor, die als »www.kanieradschaft-konrad-pokxiefke.de« für jemanden warb, dessen Haltung und Gedankengut vorbildlich seien, den deshalb das verhaßte System eingekerkert habe. »Wir glauben an Dich, wir warten auf Dich, wir folgen Dir...« Undsoweitef undsoweiter. Das hört nicht auf. Nie hört das auf. i mmmm MB*®*':...... iillllL 216 3 Also brachte ich von meiner Polenreise einen Vorrat an Fundsachen nach Paris mit: aufschäumendes Brausepulver, Karfreitagslärm und Teppichklopfstangen, den Fluchtweg des Geldbriefträgers, der den Kampf um die Polnische Post überlebt hatte, Schulwege hin und zurück, was die städtische Bibliothek an Zeitungsjahrgängen aufbewahrt hatte, die Kinoprogramme im Herbst neununddreißig. Zudem Geflüster in Beichtstühlen, Inschriften auf Grabsteinen, den Geruch der Ostsee und Bernsteinkrümel, die zwischen Brösen und Glettkau entlang dem Wellensaum zu finden waren. So kam alles zu Wort und blieb frisch, weil in Paris wie unter einer Käseglocke aufgehoben. So erschöpfte ich mich und war dennoch nicht leergelöffelt, schrieb zwar noch eigenhändig, war aber mittlerweile Werkzeug nur und hörig meinen Figuren, besonders der einen, die -weißnichtwarum - Oskar hieß. Überhaupt weiß ich wemg darüber zu sagen, wie etwas entstand und entsteht; es sei denn, ich müßte lügen... Und als ich im Oktober des gleichen Jahres von Paris über München in irgendein bayerisches oder schwäbisches Nest namens Großholzleute reiste, um dort vor der versammelten Gruppe 47 die Kapitel »Der weite Rock« und »Fortuna Nord« zu lesen, wurde dem Autor eines annähernd fertigen Romans der Preis der Gruppe zugesprochen. Viertausendfünfhundert Mark kamen zusammen, spontan von Verlegern gespendet: mein erstes großes Geld, das mir half, in Ruhe alles noch einmal in die Olivetti zu tippen, sozusagen ins reine. Außerdem trug uns das Preisgeld einen formschönen Plattenspieler der Firma Braun ein, genannt »Schneewittchensarg«, den ich in München nach erster Rundfunk- 47 lesung kaufte und nach Paris brachte, auf dem wir Stra-winskys »Frühlingsopfer« und Bartöks »Blaubart« hörten, immer wieder. Nun waren wir nicht mehr arm und konnten uns Kalbsleber und Schallplatten kaufen. In Paris tanzten Anna und ich offen und eng. In Paris waren wir glücklich und ahnten nicht, wie lange noch. In Paris kam de Gaulle an die Macht und lernte ich, die Knüppelgewalt der französischen Polizei zu fürchten. In Paris wurde ich zusehends politischer. In Paris setzten sich vor fließender Wand etliche Tuberkulome in meiner Lunge fest, die erst in Berlin auskuriert wurden. In Paris liefen mir die Zwillinge auf der Avenue d'Italie in verschiedene Richtung davon, so daß ich nicht wußte, wem zuerst hinterdrein. In Paris war Paul Celan nicht zu helfen. In Paris war bald kein Bleiben mehr. [/Und als dann im Herbst neunundfünfzig der Roman »Die Blechtrommel« in erster Auflage erschien, fuhren Anna und ich von Paris aus zur Frankfurter Buchmesse, wo wir bis in den Morgen hinein tanzten. Und als wir im Jahr drauf Paris hinter uns ließen und abermals, nun als Familie, in Berlin Wohnung in einer Halbruine nahmen, begann ich in der Karlsbader Straße, wo mir von fünf Zimmern eines zustand, sofort wieder zu zeichnen und zu schreiben, denn mit meiner Olivetti, dem Hochzeitsgeschenk, hatte ich schon von Paris aus neuen Anlauf genommen... f So lebte ich fortan von Seite zu Seite und zwischen Buch und Buch. Dabei blieb ich mwendig/reict) an Figuren. Doch davon zu erzählen, fehlt es an Zwietieln und Lust. I Sag schon, Paulchen, ob du... Geht in Ordnung, wenn sie bei dir, wo du doch von Beruf Fotograf bist und bestimmt... War wirklich okay, wenn du... Nix sag ich. Glaubt mir sowieso keiner. Wetten, daß er den Kasten in Sicherheit gebracht hat, vielleicht versteckt irgendwo in Brasilien... Stimmts, Faulchen? Wolltest bestimmt im Regenwald letzte Indianer mit Mariechens Box knipsen, und was an Bäumen noch übrig geblieben ist. Also, wo ist sie hin? Jadoch, verdammt, wo? Hört endlich auf. Paulchen wird schon wissen, warum er mit keinem Wort... Jeder hat Heimlichkeiten. Ich sag euch ja auch nicht alles. Keiner sagt alles. Und unser Väterchen schon gar nicht. Außerdem gabs keine Neuigkeiten mehr aus der Dunkelkammer zu erzählen, seitdem es kein Mariechen und keine Box mehr gab und danach alles langweilig wurde, nur noch normal lief. Weshalb jetzt Schluß sein sollte. Schluß ist! Für mich sowieso, weil ich nämlich und zwar sofort in die Klinik... Hab Nachtdienst wie gestern schon. Da hatten wir fünf Geburten, jede unkompliziert. Nur eine Mutter war deutscher Herkunft. Die vier anderen kamen von überall... Will übrigens Schnappschüsse von den fünf Babys machen. Will ich jetzt immer nach jeder Geburt... 2IO Und zwar mit einer Box, die ich mir kürzlich auf dem Flohmarkt... War nicht mal billig, sieht aber aus wie die von eurer alten Marie. Steht sogar Agfa drauf. Die Mütter freuen sich bestimmt, wenn ich Knipsfotos von ihren Babys... Mach ich, weil sowas für die Erinnerung gut ist, aber auch als Hebamme, rein berufsmäßig, wie Lara sagen würde, und weil man so vielleicht sehen kann, was aus den Babys später, viel später mal... »"■"Los, Atze, stell ab, sonst gehts weiter und weiter, endlos so weiter... .. .weil unsrem Vater immer noch nejGeschichte... ... denn nur er, nie wir... Aber nichts hat er mehr zu sagen. Erwachsen blicken die Kinder streng. Sie weisen auf ihn mit Fingern. Das Wort wird dem Vater entzogen. Laut und mit Nachhall rufen die Töchter, die Söhne: »Das sind nur Mjuxhcn, Märchen...« - »Stimmt«, hält er leise dagegen, »doch sind es eure, die ich euch erzählen ließ.« Schnelle Blicke wechseln. Halbsätze zerkaut, verschluckt: beteuerte Liebe, aber auch Vorwürfe, die schon seit längerer Zeit vorrätig lagern. Schon soll nicht gelten, was auf Schnappschüssen gelebt wurde. Schon heißen die Kinder, wie sie richtig heißen. Schon schrumpft der Vater, will sich verflüchtigen. Schon regt sich flüsterndVerdacht, er, nur er habe Mariechen beerbt und die Box - wie anderes auch - bei sich versteckt: für später, weil immer noch was in ihm tickt, das abgearbeitet werden muß, scJang er noch da ist... / 211 r t ■ Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, läßt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann, f Mein Pfleger kann also gar nicht mein Feind sein. Liebgewonnen habe ich ihn, erzähle dem Gucker hinter der Tür, sobald er mein Zimmer betritt, Begebenheiten aus meinem Leben, damit er mich trotz des ihn hindernden Guckloches kennenlernt. Der Gute scheint meine Erzählungen zu schätzen, denn sobald ich ihm etwas vorgelogen habe, zeigt er mir, um sich erkenntlich zu geben, sein neuestes Khotengebilde. Ob er ein Künstler ist, bleibe dahingestellt. Eine Ausstellung seiner Kreationen würde jedoch von der Presse gut aufgenommen werden, auch einige Käufer herbeilocken. Er knotet ordinäre Bindfäden, die er nach den Besuchsstunden in den Zimmern seiner Patienten sammelt und entwirrt, zu vielschichtig verknorpelten Gespenstern, taucht diese dann in Gips, läßt sie erstarren und spießt sie mit Stricknadeln, die auf Holzsöckelchen befestigt sind. Oft spielt er mit dem Gedanken, seine Werke farbig zu gestalten. Ich rate davon ab, weise auf mein weißlackiertes Metallbett hin und bitte ihn, sich dieses vollkommenste Bett bunt bemalt vorzustellen. Entsetzt schlägt er dann seine Pflegerhände über dem Kopf zusammen, versucht in etwas zu starrem Gesicht allen Schrecken gleichzeitig Ausdruck zu geben und nimmt Abstand von seinen farbigen Plänen. Mein weißlackiertes metallenes Anstaltsbett ist also ein Maßstab. Mir ist es sogar mehr: mein Bett ist das endlich erreichte Ziel, mein Trost ist es und könnte mein Glaube werden, wenn mir die Anstaltsleitung erlaubte, einige Änderungen vorzunehmen: das Bettgitter möchte ich erhöhen lassen, damit mir niemand mehr zu nahe tritt. 6 Einmal in der Woche unterbricht ein Besuchstag meine zwischen weißen Metallstäben geflochtene Stille. Dann kommen sie, die mich retten wollen, denen es Spaß macht, mich zu lieben, die sich in mir schätzen, achten und kennenlernen möchten. Wie blind, nervös, wie unerzogen sie sind. Kratzen mit ihren Fingernagelscheren an meinem weißlackierten Bettgitter, kritzeln mit ihren Kugelschreibern und Blaustiften dem Lack langgezogene unanständige Strichmännchen. Mein Anwalt stülpt jedesmal, sobald er mit seinem Hallo das Zimmer sprengt, den Nylonhut über den linken Pfosten am Fußende meines Bettes. Solange sein Besuch währt - und Anwälte wissen viel zu erzählen -, raubt er mir durch diesen Gewaltakt das Gleichgewicht und die Heiterkeit. Nachdem meine Besucher ihre Geschenke auf dem weißen, mit Wachstuch bezogenen Tischchen unter dem Anemonenaquarell deponiert haben, nachdem es ihnen gelungen ist, mir ihre gerade laufenden oder geplanten Rettungsversuche zu unterbreiten und mich, den sie unermüdlich retten wollen, vom hohen Standard ihrer Nächstenliebe zu überzeugen, finden sie wieder Spaß an der eigenen Existenz und verlassen mich. Dann kommt mein Pfleger, um zu lüften und die Bindfäden der Geschenkpackungen einzusammeln. Oftmals findet er nach dem Lüften noch Zeit, an meinem Bett sitzend, Bindfäden aufdröselnd, so lange Stille zu verbreiten, bis ich die i Stille Bruno und Bruno die Stille nenne. Bruno Münsterberg - ich meine jetzt meinen Pfleger, lasse das Wortspiel hinter mir - kaufte auf meine Rechnung fünfhundert Blatt Schreibpapier. Bruno, der unverheiratet, kin- I derlos ist und aus dem Sauerland stammt, wird, sollte der Vorrat nicht reichen, die kleine Schreibwarenhandlung, in der auch Kinderspielzeug verkauft wird, noch einmal aufsuchen und mir den notwendigen unlinierten Platz für mein hoffentlich genaues Erinnerungsvermögen beschaffen. Niemals hätte ich meine Besucher, etwa den Anwalt oder Klepp, um diesen Dienst bitten können. Besorgte, mir verordnete und von der bewegten Wasserfläche aufsteigend, in der Tausende lebend oder tot in ihren Schwimmwesten hingen. Aus halbvollen und überfüllten Booten, von engbesetzten Flößen, die von Wellen gehoben wurden, in Wellentälern verschwanden, von überall her stieg gebündelt der Schrei auf und steigerte sich mit dem plötzlich einsetzenden, dann jäh erstickten Heulen der Schiffssirene zu grauenhafter Zweistimmigkeit. Ein nie gehörter, ein kollektiver Endschrei, von dem Mutter sagte und weiterhin sagen wird: »Sonjeschrai kriegste nich mehr raus äussern Jehör...« Die Stille danach soll nur noch von meinem Gequengel irritiert worden sein. Kaum abgenabelt, lag auch ich still. Als der Kapitän als Zeuge des Untergangs ordnungsgemäß den Zeitpunkt im Bordbuch vermerkt hatte, begann die Besatzung des Torpedobootes wiederum, Überlebende aus der See zu fischen. •f ' Aber das stimmt alles nicht. Mutter lügt. Bin sicher, daß ich nicht auf der Lowe... Die Uhrzeit war nämlich... Weil schon, als der zweite Torpedo... Und bei den ersten Wehen Doktor Richter keine Spritze, sondern gleich die Geburt... Ging glatt. Geboren auf schräger, rutschender Pritsche. Alles war schräg, als ich... Nur schade, daß Doktor Richter nicht Zeit fand, auch noch die Urkunde: geboren am, an Bord von, mit genauer Zeitangabe handschriftlich... Jadoch, nicht auf einem Torpedoboot, sondern auf dem verfluchten, auf den Blutzeugen getauften, vom Stapel gelassenen, einst weißglänzenden, beliebten, kraftdurchfreudeför-dernden, klassenlosen, dreimal vermaledeiten, überladenen, kriegsgrauen, getroffenen, immerfort sinkenden Schiff wurde ich aus Kopf und in Schräglage geboren. Und mit dem abgenabelten Säugling, der gewickelt und in Schiffseigner 146 Wolldecke verpackt wurde, ist Mutter dann, gestützt auf Doktor Richter und Stationsschwester Helga, ins rettende Boot. Aber sie will keine Niederkunft auf der Gustbff. Lügt sich zwei Matrosen zusammen, die mich in der Kajüte des Maschinenoffiziers abgenabelt haben. Dann wieder soll es der Doktor gewesen sein, der aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht an Bord des Torpedobootes war. Selbst Mutter, die sonst alles mit Bestimmtheit weiß, schwankt in ihrer Meinung und läßt, außer den »zwai Mariners« und dem »Onkel Dokter, der mir auffe Justloff noch ne Spritze verpaßt hat«, einen weiteren Geburtshelfer aktiv werden: der Kapitän der Löwe, Paul Prüfe, soll mich abgenabelt haben. Da ich meine Geburtsversion, die, zugegeben, eher eine Vision ist, nicht belegen kann, halte ich mich an die von Heinz Schön überlieferten Fakten, nach denen Doktor Richter nach Mitternacht von dem Torpedoboot übernommen wurde. Erst dann ist er bei der Geburt eines anderen Kindes tätig geworden. Sicher bleibt aber, daß der Bordarzt der Gustlqff nachträglich meinen Geburtsschein, datiert auf den 30. Januar 1945, wenn auch ohne genaue Uhrzeit, ausgestellt hat. Zu meinem Vornamen jedoch hat mir Kapitänleutnant Prüfe verholfen. Mutter will darauf bestanden haben, daß ich Paul, »jenau wie der Käpten vonne Leewe«, und unvermeidbar mit Nachnamen Pokriefke heißen sollte. Später haben mich die Jungs in der Schule und bei der FDJ, aber auch Journalisten aus meinem Bekanntenkreis »Peepee« gerufen; und mit P Punkt P Punkt unterzeichne ich meine ArtikeL_/ Der Junge übrigens, der zwei Stunden nach meiner Geburt, also am .31. Januar, auf dem Torpedoboot geboren wurde, hieß fortan auf Wunsch seiner Mutter und des rettenden Schiffes wegen mit Vornamen »Leo«. m h>ö? (»Warum erst jetzt?« sagte jemand, der nicht ich bin. Weil Mutter mir immer wieder... Weil ich wie damals, als der Schrei überm Wasser lag, schreien wollte, aber nicht konnte... Weil die Wahrheit kaum mehr als drei Zeilen... Weil jetzt erst... Noch haben die Wörter Schwierigkeiten mit mir. Jemand, der keine Ausreden mag, nagelt mich auf meinen Beruf fest. Schon als junger Spund hätte ich, fix mit Worten, bei einer Springer-Zeitung volontiert, bald gekonnt die Kurve gekriegt, später für die »taz« Zeilen gegen Springer geschunden, mich dann als Söldner von Nachrichtenagenturen kurz gefaßt und lange Zeit freiberuflich all das zu Artikeln ver-■ knappt, was frisch vom Messer gesprungen sei: Täglich Neues. Neues vom Tage. Mag schon sein, sagte ich. Aber nichts anderes hat unsereins gelernt. Wenn ich jetzt beginnen muß, mich selber abzuwickeln, wird alles, was mir schiefgegangen ist, dem Untergang eines Schiffes eingeschrieben sein, weil nämlich, weil Mutter damals hochschwanger, weil ich überhaupt nur zufällig lebe. S Und schon bin ich abermals jemand zu Diensten, darf aber vorerst von meinem bißchen Ich absehen, denn diese Geschichte fing lange vor mir, vor mehr als hundert Jahren an, und zwar in der mecklenburgischen Residenzstadt Schwerin, die sich zwischen sieben Seen erstreckt, mit der I Die Häute unter der Haut 7) t ' Ob heute oder Vorjahren, lockend bleibt die Versuchung, sich in dritter Person zu Verkappen: Als er annähernd zwölf zählte, doch immer noch liebend gern auf Mutters Schoß saß, begann und endete etwas. Aber läßt sich, was anfing, was auslief, so genau auf den Punkt bringen? Was mich betrifft, schon.} Auf engem Raum wurde meine Kindheit beendet, als dort, wo ich aufwuchs, an verschiedenen Stellen zeitgleich der Krieg ausbrach. Er begann unüberhörbar mit den Breitseiten eines Linienschiffes und dem Anflug von Sturzkampfflugzeugen über dem Hafenvorort Neufahrwasser, dem als polnischer Militärstützpunkt die Westerplatte gegenüberlag, zudem entfernter mit den gezielten Schüssen zweier Panzerspähwagen beim Kampf um die Polnische Post in der Danziger Altstadt und nahbei verkündet aus unserem Radio, dem Volksempfänger, der im Wohnzimmer auf dem Büfett seinen Platz hatte: mit ehernen Worten wurde in einer Parterrewohnung, die Teil eines dreistöckigen Mietshauses im Langführer Labesweg war, das Ende meiner Kinderjahre ausgerufen. Sogar die Uhrzeit wollte unvergeßlich sein. Ab dann herrschte auf dem Hugplatz des Freistaates, nahe der Schokoladenfabrik Baltic, nicht nur ziviler Betrieb. Aus den Dachluken des Mietshauses gesehen, stieg überm Freihafen schwärzlich Rauch auf, der sich unter fortgesetzten Angriffen und bei leichtem Wind aus Nordwest erneuerte. leOia Die Gäste aber nahmen die Brettchen ernsthaft in Empfang. Manche tauschten sie um. Der eine liebte die Profilform des Schweines, der andere oder - wenn es sich um eine Dame handelte - die andere zog dem ordinären Hausschwein den geheimnisvolleren Fisch vor. Sie rochen an den Brettchen, schoben sie hin und her, und der Wirt Schmuh wartete, nachdem er auch die Gäste auf der Galerie bedient hatte, bis jedes Brettchen zur Ruhe gekommen war. Dann — und alle Herzen warteten auf ihn — dann zog er, einem Zauberer nicht unähnlich, das Deckchen fort: Ein zweites Deckchen deckte den Korb. Darauf aber lagen, mit dem ersten Blick nicht erkenntlich, die Küchenmesser. Wie zuvor mit den Brettchen ging Schmuh nun mit den Messern reihum. Doch machte er seine Runde schneller, steigerte jene Spannung, die ihm erlaubte, die Preise zu erhöhen, machte keine Komplimente mehr, ließ es nicht zum Umtausch der Küchenmesser kommen, eine gewisse wohldosierte Hast fuhr in seine Bewegungen, »Fertig, Achtung, los!« rief er, riß das Tuch vom Korb, griff hinein in den Korb, verteilte, teilte aus, streute unters Volk, war der milde Geber, versorgte seine Gäste, gab ihnen Zwiebeln, Zwiebeln, wie man sie goldgelb und leicht stilisiert auf seinem Shawl sah, Zwiebeln gewöhnlicher Art, Knollengewächse, keine Tulpenzwiebeln, Zwiebeln, wie sie die Hausfrau einkauft, Zwiebeln, wie sie die Gemüsefrau verkauft, Zwiebeln, wie sie der Bauer oder die Bäuerin oder die Magd pflanzt und erntet, Zwiebeln, wie sie, mehr oder weniger getreu abgemalt, auf den Stilleben holländischer Kleinmeister zu sehen sind, solche und ähnliche Zwiebeln verteilte der Wirt Schmuh unter seine Gäste, bis alle die Zwiebel hatten, bis man nur noch die Kanonenöfen bullern, die Karbidlampen singen hörte. So still wurde es nach der großen Zwiebelausteilung - und Ferdinand Schmuh rief »Bittschön, die Herrschaften!« warf das eine Ende seines Shawls über die linke Schulter, wie es Skiläufer vor der Abfahrt tun, und gab damit ein Signal. \ Man enthäutete die Zwiebeln. Sieben Häute sagt man der Zwiebel nach. Die Damen und Herren enthäuteten die Zwiebeln mit den Küchenmessern. Sie nahmen den Zwiebeln die erste, dritte, blonde, goldgelbe, rostbraune, oder besser: zwie-belfarbene Haut, häuteten, bis die Zwiebel gläsern, grün, weißlich, feucht, klebrig wäßrig wurde, roch, nach Zwiebel roch und dann schnitten sie, wie man Zwiebeln schneidet, schnitten geschickt oder ungeschickt auf Hackbrettchen, die die Profile von Schweinen und Fischen hatten, schnitten in diese und jene Richtung, daß der Saft spritzte oder sich der Luft über der Zwiebel mitteilte - es mußten die älteren Herren, die mit Küchenmessern nicht umgehen konnten, vorsichtig sein, daß sie sich nicht in die Finger schnitten; schnitten sich aber manche und merkten es nicht - dafür die Damen um so geschickter, nicht alle, aber doch jene Damen, die zu Hause die Hausfrau abgaben, die da wußten, wie man die Zwiebel schneidet, etwa für Bratkartoffeln oder für Leber mit Apfel und Zwiebelringen; doch in Schmuhs Zwiebelkeller gab es weder noch, nichts gab es da zu~essen, und wer was_ess.en.-wollte, der mußte woanders hingehen, ins »Fischl« und nicht in den Zwiebelkeller, denn da wurden nur Zwiebeln geschnitten. Und warum das? Weil der Keller so hieß und was Besonderes war, weil die-Zwü^bel, die geschnittene Zwiebel, wenn man genauQunschaut . J. nein, Schmuhs Gäste sahen nichts mehr oder emfge_s^lien nichts mehr, denen liefen „die Augen über, nicht weil die Herzen so voll waren; denn es ist gar nicht gesagtfdaß bei vollem Herzen sogleich auch das Auge überlaufen muß, manche schaffen das nie, besonders während der letzten oder verflossenen Jahrzehnte, deshalb wird unser Jahrhundert spätereinmal das tränenlose Jahrhundert genannt werden, obgleich sovieTXeid~ällenthalben - und genau aus diesem tränenlosen Grunde gingen Leute, die es sich leisten konnten, in Schmuhs Zwiebelkeller, ließen sich vom Wirt ein Hackbrettchen - Schwein oder Fisch -, ein Küchenmesser für achtzig Pfennige und eine ordinäre Feld-Garten-Küchenzwie- Húb t 648 649 r 1 Kl h ^ bei für zwölf Mark servieren, schnitten die klein und kleiner, bis der Saft es schaffte, was schaffte? Schaffte, was die weit und das Leid dieser Welt nicht schafften: die runde menschliche Träne. Da wurde geweint. Da wurde endlich wieder einmal geweint. Anständig geweint, hemmungslos geweint, frei weg geweint. Da floß es und schwemmte fort. Da kam der Regen. DaJjfiL der. Tku-, Schleusen fallen Oskar ein, die geöffnet werden. Dammbrüche bei Springflut. Wie heißt doch der Fluß, der jedes Jahr über die Ufer tritt, und die Regierung tut nichts dagegen ? Und nach dem Naturereignis für zwölf Mark achtzig spricht der Mensch, der sich ausgeweint hat. Zögernd noch, erstaunt über die eigene nackte Sprache, überließen sich die Gäste des Zwiebelkellers nach dem Genuß der Zwiebeln ihren Nachbarn auf den unbequemen, rupfenbespannten Kisten, ließen sich ausfragen, wenden, wie man Mäntel wendet. Oskar jedoch, der mit Klepp und Scholle tränenlos unter der quasi Hühnerleiter saß, will diskret bleiben, will aus all den Offenbarungen, Selbstanklagen, Beichten, Enthüllungen, Geständnissen nur die Geschichte des Fräulein Pioch erzählen, die ihren Herrn Vollmer immer wieder verlor, deshalb ein steinern Herz und tränenlos Aug' bekam und immer wieder Schmuhs teuren Zwiebelkeller aufsuchen mußte, I Wir begegneten einander, sagte Fräulein Pioch, nachdem sie geweint hatte, in der Straßenbahn. Ich kam aus dem Geschäft -sie besitzt und leitet eine vorzügliche Buchhandlung -, der Wagen war vollbesetzt und Willy - das ist der Herr Vollmer -trat mir heftig auf den rechten Fuß. Ich konnte nicht mehr stehen, und wir liebten uns beide auf den ersten Blick. Da ich auch nicht mehr gehen konnte, bot er mir seinen Arm an, begleitete oder besser, trug mich nach Hause und pflegte von jenem Tage an liebevoll jenen Fußnagel, der sich unter seinem Tritt blauschwarz verfärbt hatte. Aber auch sonst ließ er es mir gegenüber nicht an Liebe fehlen, bis der Nagel sich vom rechten großen Zeh löste und dem Wachstum eines neuen Zehnagels nichts mehr im Wege stand. Von jenem Tage an, da der taube Zehnagel abfiel, erkaltete auch seine Liebe. Wir litten I beide unter dem Schwund. Da machte Willy, weil er immer j[ noch an mir hing, auch weil wir beide soviel Gemeinsames I hatten, jenen schrecklichen Vorschlag: Laß mich deinen linken 1 großen Zeh treten, bis dessen Nagel rotblau, dann blauschwarz f wird. Ich gab nach, und er tat es. Sofort war ich wieder im i vollen Genuß seiner Liebe, durfte die genießen, bis auch der I linke Nagel des linken großen Zehs wie ein welkes Blatt abfiel; ?' und abermals erlebte unsere Liebe den Herbst. Jetzt wollte I; Willy meinen rechten großen Zeh, dessen Nagel inzwischen f nachgewachsen war, treten, um mir wieder in Liebe dienen zu ► dürfen. Doch ich erlaubte es ihm nicht. Sagte, wenn deine I Liebe wirklich groß und echt ist, muß sie auch einen Zehnagel I überdauern können. Er verstand mich nicht und verließ mich. I Nach Monaten begegneten wir einander im Konzertsaal. Nach § der Pause setzte er sich ungefragt neben mich, da neben mir f noch ein Platz frei war. Als der Chor während der neunten f Symphonie zu singen anhob, schob ich ihm meinen rechten 1 Fuß hin, von dem ich zuvor den Schuh abgestreift hatte. Er trat I zu, und ich störte dennoch nicht das Konzert. Nach sieben Wochen verließ mich Willy abermals. Noch zweimal durften ■■ wir uns wenige Wochen lang haben, da ich noch zweimal, einmal den linken, dann den rechten großen Zeh hinhielt. Heute sind beide Zehen verkrüppelt. Die Nägel wollen nicht mehr nachwachsen. Dann und wann besucht mich Willy, sitzt vor mir auf dem Teppich, starrt erschüttert, voller Mitleid mit mir und mit sich selbst, doch ohne Liebe tränenlos auf die beiden nagellosen Opfer unserer Liebe. Manchmal sage ich zu ihm: Komm, Willy, wir gehen zu Schmuh in den Zwiebelkeller, weinen wir uns mal richtig aus. Aber bis jetzt hat er nie mitkommen wollen. Der Arme weiß also nichts von der ij großen Trösterin Träne. Später - und Oskar verrät das nur, um die Neugierigen unter Ihnen zu befriedigen - kam auch Herr Vollmer, ein Radiohändler übrigens, zu uns in den Keller. Sie weinten gemeinsam 6fo 2 65i ■ ben war, zum Schluß die letzten aus den Davits gesprungenen Rettungsboote. »Zufrieden jetzt. Vaters Danach kein Wort mehr. Sein Blick suchte das vergitterte Fenster, blieb daran hängen. Ich habe weißnichtmehrwas gequasselt. Irgendwas Positives. »Man soll nie aufgeben« oder »Laß uns noch einmal gemeinsam von vome anfangen« oder irgendeinen Stuß, amerikanischen Filmen nachgeplappert: »Ich bin stolz auf dich.« Auch als ich ging, hatte mein Sohn kein Wort übrig. ! Wenige Tage später, nein tags darauf hat mir jemand -er, in dessen Namen ich krebsend vorankam - dringlich geraten, online zu gehen. Er sagte,' vielleichTfinde sich per Mausklick ein passendes Schlußwort. Bis dahin hatte ich enthaltsam gelebt: nur was der Beruf forderte, ab und zu ein Porno, mehr nicht. Seitdem Ronny saß, herrschte ja Funkstille. Auch gab es keinen David mehr. Mußte lange surfen. Hatte zwar oft den Namen des verfluchten Schilfes im Window, aber nichts Neues oder abschließend Endgültiges. Doch dann kam es dicker als befürchtet. Unter besonderer Adresse stellte sich in deutscher und englischer Sprache eine Website vor, die als »www.kanieradschaft-konrad-pokxieike.de« für jemanden warb, dessen Haltung und Gedankengut vorbildlich seien, den deshalb das verhaßte System eingekerkert habe. »Wir glauben an Dich, wir warten auf Dich, wir folgen Dir...« Undsoweitef ündsoweiter. Das hört nicht auf. Nie hört das auf. i 216 3 1 ■■ :£..>..' ■ ■ Also brachte ich von meiner Polenreise einen Vorrat an Fundsachen nach Paris mit: aufschäumendes Brausepulver, Karfreitagslärm und Teppichklopfstangen, den Fluchtweg des Geldbriefträgers, der den Kampf um die Polnische Post überlebt hatte, Schulwege hin und zurück, was die städtische Bibliothek an Zeitungsjahrgängen aufbewahrt hatte, die Kinoprogramme im Herbst neununddreißig. Zudem Geflüster in Beichtstühlen, Inschriften auf Grabsteinen, den Geruch der Ostsee und Bernsteinkrümel, die zwischen Brösen und Glettkau entlang dem Wellensaum zu finden waren. So kam alles zu Wort und blieb frisch, weil in Paris wie unter einer Käseglocke aufgehoben. So erschöpfte ich mich und war dennoch nicht leergelöffelt, schrieb zwar noch eigenhändig, war aber mittlerweile Werkzeug nur und hörig meinen Figuren, besonders der einen, die -weißnichtwarum - Oskar hieß. Überhaupt weiß ich wemg darüber zu sagen, wie etwas entstand und entsteht; es sei denn, ich müßte lügen... Und als ich im Oktober des gleichen Jahres von Paris über München in irgendein bayerisches oder schwäbisches Nest namens Großholzleute reiste, um dort vor der versammelten Gruppe 47 die Kapitel »Der weite Rock« und »Fortuna Nord« zu lesen, wurde dem Autor eines annähernd fertigen Romans der Preis der Gruppe zugesprochen. Viertausendfünfhundert Mark kamen zusammen, spontan von Verlegern gespendet: mein erstes großes Geld, das mir half, in Ruhe alles noch einmal in die Olivetti zu tippen, sozusagen ins reine. Außerdem trug uns das Preisgeld einen formschönen Plattenspieler der Firma Braun ein, genannt »Schneewittchensarg«, den ich in München nach erster Rundfunk- 47 lesung kaufte und nach Paris brachte, auf dem wir Stra-winskys »Frühlingsopfer« und Bartöks »Blaubart« hörten, immer wieder. Nun waren wir nicht mehr arm und konnten uns Kalbsleber und Schallplatten kaufen. In Paris tanzten Anna und ich offen und eng. In Paris waren wir glücklich und ahnten nicht, wie lange noch. In Paris kam de Gaulle an die Macht und lernte ich, die Knüppelgewalt der französischen Polizei zu fürchten. In Paris wurde ich zusehends politischer. In Paris setzten sich vor fließender Wand etliche Tuberkulome in meiner Lunge fest, die erst in Berlin auskuriert wurden. In Paris liefen mir die Zwillinge auf der Avenue d'Italie in verschiedene Richtung davon, so daß ich nicht wußte, wem zuerst hinterdrein. In Paris war Paul Celan nicht zu helfen. In Paris war bald kein Bleiben mehr. [/Und als dann im Herbst neunundfünfzig der Roman »Die Blechtrommel« in erster Auflage erschien, fuhren Anna und ich von Paris aus zur Frankfurter Buchmesse, wo wir bis in den Morgen hinein tanzten. Und als wir im Jahr drauf Paris hinter uns ließen und abermals, nun als Familie, in Berlin Wohnung in einer Halbruine nahmen, begann ich in der Karlsbader Straße, wo mir von fünf Zimmern eines zustand, sofort wieder zu zeichnen und zu schreiben, denn mit meiner Olivetti, dem Hochzeitsgeschenk, hatte ich schon von Paris aus neuen Anlauf genommen... f So lebte ich fortan von Seite zu Seite und zwischen Buch und Buch. Dabei blieb ich inwendig/reict) an Figuren. Doch davon zu erzählen, fehlt es an ZwieEeln und Lust. I Sag schon, Paulchen, ob du... Geht in Ordnung, wenn sie bei dir, wo du doch von Beruf Fotograf bist und bestimmt... War wirklich okay, wenn du... Nix sag ich. Glaubt mir sowieso keiner. Wetten, daß er den Kasten in Sicherheit gebracht hat, vielleicht versteckt irgendwo in Brasilien... Stimmts, Faulchen? Wolltest bestimmt im Regenwald letzte Indianer mit Mariechens Box knipsen, und was an Bäumen noch übrig geblieben ist. Also, wo ist sie hin? Jadoch, verdammt, wo? Hört endlich auf. Paulchen wird schon wissen, warum er mit keinem Wort... Jeder hat Heimlichkeiten. Ich sag euch ja auch nicht alles. Keiner sagt alles. Und unser Väterchen schon gar nicht. Außerdem gabs keine Neuigkeiten mehr aus der Dunkelkammer zu erzählen, seitdem es kein Mariechen und keine Box mehr gab und danach alles langweilig wurde, nur noch normal lief. Weshalb jetzt Schluß sein sollte. Schluß ist! Für mich sowieso, weil ich nämlich und zwar sofort in die Klinik... Hab Nachtdienst wie gestern schon. Da hatten wir fünf Geburten, jede unkompliziert. Nur eine Mutter war deutscher Herkunft. Die vier anderen kamen von überall... Will übrigens Schnappschüsse von den fünf Babys machen. Will ich jetzt immer nach jeder Geburt... 210 Und zwar mit einer Box, die ich mir kürzlich auf dem Flohmarkt... War nicht mal billig, sieht aber aus wie die von eurer alten Marie. Steht sogar Agfa drauf. Die Mütter freuen sich bestimmt, wenn ich Knipsfotos von ihren Babys... Mach ich, weil sowas für die Erinnerung gut ist, aber auch als Hebamme, rein berufsmäßig, wie Lara sagen würde, und weil man so vielleicht sehen kann, was aus den Babys später, viel später mal... »"■"Los, Atze, stell ab, sonst gehts weiter und weiter, endlos so weiter... .. .weil unsrem Vater immer noch nejGeschichte... ...denn nur er, nie wir... Aber nichts hat er mehr zu sagen. Erwachsen blicken die Kinder streng. Sie weisen auf ihn mit Fingern. Das Wort wird dem Vater entzogen. Laut und mit Nachhall rufen die Töchter, die Söhne: »Das sind nur Mjuxhcn, Märchen...« - »Stimmt«, hält er leise dagegen, »doch sind es eure, die ich euch erzählen ließ.« Schnelle Blicke wechseln. Halbsätze zerkaut, verschluckt: beteuerte Liebe, aber auch Vorwürfe, die schon seit längerer Zeit vorrätig lagern. Schon soll nicJttf .gelten, was auf Schnappschüssen gelebt wurde. Schon heißen die Kinder, wie sie richtig heißen. Schon schrumpft der Vater, will sich verflüchtigen. Schon regt sich flüsterrjd.Verdacht, er, nur er habe Mariechen beerbt und die Box - wie anderes auch - bei sich versteckt: für später, weil immer noch was in ihm tickt, das abgearbeitet werden muß, sohrng er noch da ist... / 211 r r Der weite Rock Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, läßt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann, f Mein PflegeTkann also gar nicht mein Feind sein. Liebgewonnen habe ich ihn, erzähle dem Gucker hinter der Tür, sobald er mein Zimmer betritt, Begebenheiten aus meinem Leben, damit er mich trotz des ihn hindernden Guckloches kennenlernt. Der Gute scheint meine Erzählungen zu schätzen, denn sobald ich ihm etwas vorgelogen habe, zeigt er mir, um sich erkenntlich zu geben, sein neuestes Khotengebilde. Ob er ein Künstler ist, bleibe dahingestellt. Eine Ausstellung seiner Kreationen würde jedoch von der Presse gut aufgenommen werden, auch einige Käufer herbeilocken. Er knotet ordinäre Bindfäden, die er nach den Besuchsstunden m den Zimmern seiner Patienten sammelt und entwirrt, zu vielschichtig verknorpelten Gespenstern, taucht diese dann in Gips, läßt sie erstarren und spießt sie mit Stricknadeln, die auf Holzsöckelchen befestigt sind. Oft spielt er mit dem Gedanken, seine Werke farbig zu gestalten. Ich rate davon ab, weise auf mein weißlackiertes Metallbett hin und bitte ihn, sich dieses vollkommenste Bett bunt bemalt vorzustellen. Entsetzt schlägt er dann seine Pflegerhände über dem Kopf zusammen, versucht in etwas zu starrem Gesicht allen Schrecken gleichzeitig Ausdruck zu geben und nimmt Abstand von seinen farbigen Plänen. Mein weißlackiertes metallenes Anstaltsbett ist also ein Maßstab. Mir ist es sogar mehr: mein Bett ist das endlich erreichte Ziel, mein Trost ist es und könnte mein Glaube werden, wenn mir die Anstaltsleitung erlaubte, einige Änderungen vorzunehmen: das Bettgitter möchte ich erhöhen lassen, damit mir niemand mehr zu nahe tritt. 4a r 1 Einmal in der Woche unterbricht ein Besuchstag meine zwischen weißen Metallstäben geflochtene Stille. Dann kommen sie, die mich retten wollen, denen es Spaß macht, mich zu lieben, die sich in mir schätzen, achten und kennenlernen möchten. Wie blind, nervös, wie unerzogen sie sind. Kratzen mit ihren Fingernagelscheren an meinem weißlackierten Bettgitter, kritzeln mit ihren Kugelschreibern und Blaustiften dem Lack langgezogene unanständige Strichmännchen. Mein Anwalt stülpt jedesmal, sobald er mit seinem Hallo das Zimmer sprengt, den Nylonhut über den linken Pfosten am Fußende meines Bettes. Solange sein Besuch währt - und Anwälte wissen viel zu erzählen -, raubt er mir durch diesen Gewaltakt das Gleichgewicht und die Heiterkeit. Nachdem meine Besucher ihre Geschenke auf dem weißen, mit Wachstuch bezogenen Tischchen unter dem Anemonenaquarell deponiert haben, nachdem es ihnen gelungen ist, mir ihre gerade laufenden oder geplanten Rettungsversuche zu unterbreiten und mich, den sie unermüdlich retten wollen, vom hohen Standard ihrer Nächstenliebe zu überzeugen, finden sie wieder Spaß an der eigenen Existenz und verlassen mich. Dann kommt mein Pfleger, um zu lüften und die Bindfäden der Geschenkpackungen einzusammeln. Oftmals findet er nach dem Lüften noch Zeit, an meinem Bett sitzend, Bindfäden aufdröselnd, so lange Stille zu verbreiten, bis ich die Stille Bruno und Bruno die Stille nenne. Bruno Münsterberg - ich meine jetzt meinen Pfleger, lasse das Wortspiel hinter mir - kaufte auf meine Rechnung fünfhundert Blatt Schreibpapier. Bruno, der unverheiratet, kinderlos ist und aus dem Sauerland stammt, wird, sollte der Vorrat nicht reichen, die kleine Schreibwarenhandlung, in der auch Kinderspielzeug verkauft wird, noch einmal aufsuchen und mir den notwendigen unlinierten Platz für mein hoffentlich genaues Erinnerungsvermögen beschaffen. Niemals hätte ich meine Besucher, etwa den Anwalt oder Klepp, um diesen Dienst bitten können. Besorgte, mir verordnete 7 und von der bewegten Wasserfläche aufsteigend, in der Tausende lebend oder tot in ihren Schwimmwesten hingen. Aus halbvollen und überfüllten Booten, von engbesetzten Flößen, die von Wellen gehoben wurden, in Wellentälern verschwanden, von überall her stieg gebündelt der Schrei auf und steigerte sich mit dem plötzlich einsetzenden, dann jäh erstickten Heulen der Schiffssirene zu grauenhafter Zweistimmigkeit. Ein nie gehörter, ein kollektiver Endschrei, von dem Mutter sagte und weiterhin sagen wird: »Sonjeschrai kriegste nich mehr raus äussern Jehör...« Die Stille danach soll nur noch von meinem Gequengel irritiert worden sein. Kaum abgenabelt, lag auch ich still. Als der Kapitän als Zeuge des Untergangs ordnungsgemäß den Zeitpunkt im Bordbuch vermerkt hatte, begann die Besatzung des Torpedobootes wiederum, Überlebende aus der See zu fischen. •f . . , ' Aber das stimmt alles nicht. Mutter lügt. Bin sicher, daß ich nicht auf der Lowe... Die Uhrzeit war nämlich... Weil schon, als der zweite Torpedo... Und bei den ersten Wehen Doktor Richter keine Spritze, sondern gleich die Geburt... Ging glatt. Geboren auf schräger, rutschender Pritsche. Alles war schräg, als ich... Nur schade, daß Doktor Richter nicht Zeit fand, auch noch die Urkunde: geboren am, an Bord von, mit genauer Zeitangabe handschriftlich... Jadoch, nicht auf einem Torpedoboot, sondern auf dem verfluchten, auf den Blutzeugen getauften, vom Stapel gelassenen, einst weißgläiizeiiden, beliebten, kraftdurchfreudeför-dernden, klassenlosen, dreimal vermaledeiten, überladenen, kriegsgrauen, getroffenen, immerfort sinkenden Schiff wurde ich aus Kopf- und in Schräglage geboren. Und mit dem abgenabelten Säugling, der gewickelt und in Schiffseigner Wolldecke verpackt wurde, ist Mutter dann, gestützt auf Doktor Richter und Stationsschwester Helga, ins rettende Boot. Aber sie will keine Niederkunft auf der Gustbff. Lügt sich zwei Matrosen zusammen, die mich in der Kajüte des Maschinenoffiziers abgenabelt haben. Dann wieder soll es der Doktor gewesen sein, der aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht an Bord des Torpedobootes war. Selbst Mutter, die sonst alles mit Bestimmtheit weiß, schwankt in ihrer Meinung und läßt, außer den »zwai Mariners« und dem »Onkel Dokter, der mir auffe Justloff noch ne Spritze verpaßt hat«, einen weiteren Geburtshelfer aktiv werden: der Kapitän der Löwe, Paul Prüfe, soll mich abgenabelt haben. Da ich meine Geburtsversion, die, zugegeben, eher eine Vision ist, nicht belegen kann, halte ich mich an die von Heinz Schön überlieferten Fakten, nach denen Doktor Richter nach Mitternacht von dem Torpedoboot übernommen wurde. Erst dann ist er bei der Geburt eines anderen Kindes tätig geworden. Sicher bleibt aber, daß der Bordarzt der Gustlqff nachträglich meinen Geburtsschein, datiert auf den 30. Januar 1945, wenn auch ohne genaue Uhrzeit, ausgestellt hat. Zu meinem Vornamen jedoch hat mir Kapitänleutnant Prüfe verholfen. Mutter will darauf bestanden haben, daß ich Paul, »jenau wie der Käpten vonne Leewe«, und unvermeidbar mit Nachnamen Pokriefke heißen sollte. Später haben mich die Jungs in der Schule und bei der FDJ, aber auch Journalisten aus meinem Bekanntenkreis »Peepee« gerufen; und mit P Punkt P Punkt unterzeichne ich meine ArtikeLj Der Junge übrigens, der zwei Stunden nach meiner Geburt, also am 31. Januar, auf dem Torpedoboot geboren wurde, hieß fortan auf Wunsch seiner Mutter und des rettenden Schiffes wegen mit Vornamen »Leo«. H7 h>ö? ' »Warum erst jetzt?« sagte jemand, der nicht ich bin. Weil Mutter mir immer wieder... Weil ich wie damals, als der Schrei überm Wasser lag, schreien wollte, aber nicht konnte... Weil die Wahrheit kaum mehr als drei Zeilen... Weil jetzt erst... Noch haben die Wörter Schwierigkeiten mit mir. Jemand, der keine Ausreden mag, nagelt mich auf meinen Beruf fest. Schon als junger Spund hätte ich, fix mit Worten, bei einer Springer-Zeitung volontiert, bald gekonnt die Kurve gekriegt, später für die »taz« Zeilen gegen Springer geschunden, mich dann als Söldner von Nachrichtenagenturen kurz gefaßt und lange Zeit freiberuflich all das zu Artikeln ver-■ knappt, was frisch vom Messer gesprungen sei: Täglich Neues. Neues vom Tage. Mag schon sein, sagte ich. Aber nichts anderes hat unsereins gelernt. Wenn ich jetzt beginnen muß, mich selber abzuwickeln, wird alles, was mir schiefgegangen ist, dem Untergang eines Schiffes eingeschrieben sein, weil nämlich, weil Mutter damals hochschwanger, weil ich überhaupt nur zufällig lebe. ! Und schon bin ich abermals jemand zu Diensten, darf aber vorerst von meinem bißchen Ich absehen, denn diese Geschichte fing lange vor mir, vor mehr als hundert Jahren an, und zwar in der mecklenburgischen Residenzstadt Schwerin, die sich zwischen sieben Seen erstreckt, mit der 7 Die Gäste aber nahmen die Brettchen ernsthaft in Empfang. Manche tauschten sie um. Der eine liebte die Profilform des Schweines, der andere oder - wenn es sich um eine Dame handelte - die andere zog dem ordinären Hausschwein den geheimnisvolleren Fisch vor. Sie rochen an den Brettchen, schoben sie hin und her, und der Wirt Schmuh wartete, nachdem er auch die Gäste auf der Galerie bedient hatte, bis jedes Brettchen zur Ruhe gekommen war. Dann — und alle Herzen warteten auf ihn — dann zog er, einem Zauberer nicht unähnlich, das Deckchen fort: Ein zweites Deckchen deckte den Korb. Darauf aber lagen, mit dem ersten Blick nicht erkenntlich, die Küchenmesser. Wie zuvor mit den Brettchen ging Schmuh nun mit den Messern reihum. Doch machte er seine Runde schneller, steigerte jene Spannung, die ihm erlaubte, die Preise zu erhöhen, machte keine Komplimente mehr, ließ es nicht zum Umtausch der Küchenmesser kommen, eine gewisse wohldosierte Hast fuhr in seine Bewegungen, »Fertig, Achtung, los!« rief er, riß das Tuch vom Korb, griff hinein in den Korb, verteilte, teilte aus, streute unters Volk, war der milde Geber, versorgte seine Gäste, gab ihnen Zwiebeln, Zwiebeln, wie man sie goldgelb und leicht stilisiert auf seinem Shawl sah, Zwiebeln gewöhnlicher Art, Knollengewächse, keine Tulpenzwiebeln, Zwiebeln, wie sie die Hausfrau einkauft, Zwiebeln, wie sie die Gemüsefrau verkauft, Zwiebeln, wie sie der Bauer oder die Bäuerin oder die Magd pflanzt und erntet, Zwiebeln, wie sie, mehr oder weniger getreu abgemalt, auf den Stilleben holländischer Kleinmeister zu sehen sind, solche und ähnliche Zwiebeln verteilte der Wirt Schmuh unter seine Gäste, bis alle die Zwiebel hatten, bis man nur noch die Kanonenöfen bullern, die Karbidlampen singen hörte. So still wurde es nach der großen Zwiebelausteilung - und Ferdinand Schmuh rief »Bittschön, die Herrschaften!« warf das eine Ende seines Shawls über die linke Schulter, wie es Skiläufer vor der Abfahrt tun, und gab damit ein Signal. \ Man enthäutete die Zwiebeln. Sieben Häute sagt man der Zwiebel nach. Die Damen und Herren enthäuteten die Zwiebeln mit den Küchenmessern. Sie nahmen den Zwiebeln die erste, dritte, blonde, goldgelbe, rostbraune, oder besser: zwie-belfarbene Haut, häuteten, bis die Zwiebel gläsern, grün, weißlich, feucht, klebrig wäßrig wurde, roch, nach Zwiebel roch und dann schnitten sie, wie man Zwiebeln schneidet, schnitten geschickt oder ungeschickt auf Hackbrettchen, die die Profile von Schweinen und Fischen hatten, schnitten in diese und jene Richtung, daß der Saft spritzte oder sich der Luft über der Zwiebel mitteilte - es mußten die älteren Herren, die mit Küchenmessern nicht umgehen konnten, vorsichtig sein, daß sie sich nicht in die Finger schnitten; schnitten sich aber manche und merkten es nicht - dafür die Damen um so geschickter, nicht alle, aber doch jene Damen, die zu Hause die Hausfrau abgaben, die da wußten, wie man die Zwiebel schneidet, etwa für Bratkartoffeln oder für Leber mit Apfel und Zwiebelringen; doch in Schmuhs Zwiebelkeller gab es weder noch, nichts gab es da zTTessen, und wer was_esseii„ wollte, der mußte woanders hingehen, ins »Fischl« und nicht in den Zwiebelkeller, denn da wurden nur Zwiebeln geschnitten. Und warum das? Weil der Keller so hieß und was Besonderes war, weil die-Zwyebel, die geschnittene Zwiebel, wenn man genauQiinschaut . J. nein, Schmuhs Gäste sahen nichts mehr oder enTuge_sarien nichts mehr, denen liefen „die Augen über, nicht weil die Herzen so voll waren; denn es ist gar nicht gesagt^claß bei vollem Herzen sogleich auch das Auge überlaufen muß, manche schaffen das nie, besonders während der letzten oder verflossenen Jahrzehnte, deshalb wird unser Jahrhundert spätereinmal das tränenlose Jahrhundert genannt werden, obgleich sovieTXeid~ällenthalben - und genau aus diesem tränenlosen Grunde gingen Leute, die es sich leisten konnten, in Schmuhs Zwiebelkeller, ließen sich vom Wirt ein Hackbrettchen - Schwein oder Fisch -, ein Küchenmesser für achtzig Pfennige und eine ordinäre Feld-Garten-Küchenzwie- Húb t 648 649 r 1 k Kl bei für zwölf Mark servieren, schnitten die klein und kleiner, bis der Saft es schaffte, was schaffte? Schaffte, was die Welt und das Leid dieser Welt nicht schafften: die runde menschliche Träne. Da wurde geweint. Da wurde endlich wieder einmal geweint. Anständig geweint, hemmungslos geweint, frei weg geweint. Da floß es und schwemmte fort. Da kam der Regen. PjUÜfiL der.Täu-, Schleusen fallen Oskar ein, die geöffnet werden. Dammbrüche bei Springflut. Wie heißt doch der Fluß, der jedes Jahr über die Ufer tritt, und die Regierung tut nichts dagegen ? Und nach dem Naturereignis für zwölf Mark achtzig spricht der Mensch, der sich ausgeweint hat. Zögernd noch, erstaunt über die eigene nackte Sprache, überließen sich die Gäste des Zwiebelkellers nach dem Genuß der Zwiebeln ihren Nachbarn auf den unbequemen, rupfenbespannten Kisten, ließen sich ausfragen, wenden, wie man Mäntel wendet. Oskar jedoch, der mit Klepp und Scholle tränenlos unter der quasi Hühnerleiter saß, will diskret bleiben, will aus all den Offenbarungen, Selbstanklagen, Beichten, Enthüllungen, Geständnissen nur die Geschichte des Fräulein Pioch erzählen, die ihren Herrn Vollmer immer wieder verlor, deshalb ein steinern Herz und tränenlos Aug' bekam und immer wieder Schmuhs teuren Zwiebelkeller aufsuchen mußte, I Wir begegneten einander, sagte Fräulein Pioch, nachdem sie geweint hatte, in der Straßenbahn. Ich kam aus dem Geschäft -sie besitzt und leitet eine vorzügliche Buchhandlung -, der Wagen war vollbesetzt und Willy - das ist der Herr Vollmer -trat mir heftig auf den rechten Fuß. Ich konnte nicht mehr stehen, und wir liebten uns beide auf den ersten Blick. Da ich auch nicht mehr gehen konnte, bot er mir seinen Arm an, begleitete oder besser, trug mich nach Hause und pflegte von jenem Tage an liebevoll jenen Fußnagel, der sich unter seinem Tritt blauschwarz verfärbt hatte. Aber auch sonst ließ er es mir gegenüber nicht an Liebe fehlen, bis der Nagel sich vom rechten großen Zeh löste und dem Wachstum eines neuen Zehnagels nichts mehr im Wege stand. Von jenem Tage an, da der taube Zehnagel abfiel, erkaltete auch seine Liebe. Wir litten I beide unter dem Schwund. Da machte Willy, weil er immer j[ noch an mir hing, auch weil wir beide soviel Gemeinsames I hatten, jenen schrecklichen Vorschlag: Laß mich deinen linken 1 großen Zeh treten, bis dessen Nagel rotblau, dann blauschwarz f wird. Ich gab nach, und er tat es. Sofort war ich wieder im i vollen Genuß seiner Liebe, durfte die genießen, bis auch der I linke Nagel des linken großen Zehs wie ein welkes Blatt abfiel; ?' und abermals erlebte unsere Liebe den Herbst. Jetzt wollte I; Willy meinen rechten großen Zeh, dessen Nagel inzwischen f nachgewachsen war, treten, um mir wieder in Liebe dienen zu ► dürfen. Doch ich erlaubte es ihm nicht. Sagte, wenn deine I Liebe wirklich groß und echt ist, muß sie auch einen Zehnagel I überdauern können. Er verstand mich nicht und verließ mich. I Nach Monaten begegneten wir einander im Konzertsaal. Nach § der Pause setzte er sich ungefragt neben mich, da neben mir f noch ein Platz frei war. Als der Chor während der neunten f Symphonie zu singen anhob, schob ich ihm meinen rechten 1 Fuß hin, von dem ich zuvor den Schuh abgestreift hatte. Er trat I zu, und ich störte dennoch nicht das Konzert. Nach sieben Wochen verließ mich Willy abermals. Noch zweimal durften ■■ wir uns wenige Wochen lang haben, da ich noch zweimal, einmal den linken, dann den rechten großen Zeh hinhielt. Heute sind beide Zehen verkrüppelt. Die Nägel wollen nicht mehr nachwachsen. Dann und wann besucht mich Willy, sitzt vor mir auf dem Teppich, starrt erschüttert, voller Mitleid mit mir und mit sich selbst, doch ohne Liebe tränenlos auf die beiden nagellosen Opfer unserer Liebe. Manchmal sage ich zu ihm: Komm, Willy, wir gehen zu Schmuh in den Zwiebelkeller, weinen wir uns mal richtig aus. Aber bis jetzt hat er nie mitkommen wollen. Der Arme weiß also nichts von der ij großen Trösterin Träne. I Später - und Oskar verrät das nur, um die Neugierigen unter Ihnen zu befriedigen - kam auch Herr Vollmer, ein Radiohändler übrigens, zu uns in den Keller. Sie weinten gemeinsam 6yo 2 65i ■ ben war, zum Schluß die letzten aus den Davits gesprungenen Rettungsboote. »Zufrieden jetzt. Vaters Danach kein Wort mehr. Sein Blick suchte das vergitterte Fenster, blieb daran hängen. Ich habe weißnichtmehrwas gequasselt. Irgendwas Positives. »Man soll nie aufgeben« oder »Laß uns noch einmal gemeinsam von vorne anfangen« oder irgendeinen Stuß, amerikanischen Filmen nachgeplappert: »Ich bin stolz auf dich.« Auch als ich ging, hatte mein Sohn kein Wort übrig. ! Wenige Tage später, nein tags darauf hat mir jemand -er, in dessen Namen ich krebsend vorankam - dringlich geraten, online zu gehen. Er sagte,'vielleicKf finde sich per Mausklick ein passendes Schlußwort. Bis dahin hatte ich enthaltsam gelebt: nur was der Beruf forderte, ab und zu ein Porno, mehr nicht. Seitdem Ronny saß, herrschte ja Funkstille. Auch gab es keinen David mehr. Mußte lange surfen. Hatte zwar oft den Namen des verfluchten Schiffes im Window, aber nichts Neues oder abschließend Endgültiges. Doch dann kam es dicker als befürchtet. Unter besonderer Adresse stellte sich in deutscher und englischer Sprache eine Website vor, die als »www.kanieradschaft-konrad-pokxieike.de« für jemanden warb, dessen Haltung und Gedankengut vorbildlich seien, den deshalb das verhaßte System eingekerkert habe. »Wir glauben an Dich, wir warten auf Dich, wir folgen Dir...« Undsoweitef ündsoweiter. Das hört nicht auf. Nie hört das auf. i • ■ ■ ■ ■ Also brachte ich von meiner Polenreise einen Vorrat an Fundsachen nach Paris mit: aufschäumendes Brausepulver, Karfreitagslärm und Teppichklopfstangen, den Fluchtweg des Geldbriefträgers, der den Kampf um die Polnische Post überlebt hatte, Schulwege hin und zurück, was die städtische Bibliothek an Zeitungsjahrgängen aufbewahrt hatte, die Kinoprogramme im Herbst neununddreißig. Zudem Geflüster in Beichtstühlen, Inschriften auf Grabsteinen, den Geruch der Ostsee und Bernsteinkrümel, die zwischen Brösen und Glettkau entlang dem Wellensaum zu finden waren. So kam alles zu Wort und blieb frisch, weil in Paris wie unter einer Käseglocke aufgehoben. So erschöpfte ich mich und war dennoch nicht leergelöffelt, schrieb zwar noch eigenhändig, war aber mittlerweile Werkzeug nur und hörig meinen Figuren, besonders der einen, die -weißnichtwarum - Oskar hieß. Überhaupt weiß ich wemg darüber zu sagen, wie etwas entstand und entsteht; es sei denn, ich müßte lügen... Und als ich im Oktober des gleichen Jahres von Paris über München in irgendein bayerisches oder schwäbisches Nest namens Großholzleute reiste, um dort vor der versammelten Gruppe 47 die Kapitel »Der weite Rock« und »Fortuna Nord« zu lesen, wurde dem Autor eines annähernd fertigen Romans der Preis der Gruppe zugesprochen. Viertausendfünfhundert Mark kamen zusammen, spontan von Verlegern gespendet: mein erstes großes Geld, das mir half, in Ruhe alles noch einmal in die Olivetti zu tippen, sozusagen ins reine. Außerdem trug uns das Preisgeld einen formschönen Plattenspieler der Firma Braun ein, genannt »Schneewittchensarg«, den ich in München nach erster Rundfunk- 478 lesung kaufte und nach Paris brachte, auf dem wir Stra-winskys »Frühlingsopfer« und Bartöks »Blaubart« hörten, immer wieder. Nun waren wir nicht mehr arm und konnten uns Kalbsleber und Schallplatten kaufen. In Paris tanzten Anna und ich offen und eng. In Paris waren wir glücklich und ahnten nicht, wie lange noch. In Paris kam de Gaulle an die Macht und lernte ich, die Knüppelgewalt der französischen Polizei zu fürchten. In Paris wurde ich zusehends politischer. In Paris setzten sich vor fließender Wand etliche Tuberkulome in meiner Lunge fest, die erst in Berlin auskuriert wurden. In Paris liefen mir die Zwillinge auf der Avenue d'Italie in ver-schiedene Richtung davon, so daß ich nicht wußte, wem zuerst hinterdrein. In Paris war Paul Celan nicht zu helfen. In Paris war bald kein Bleiben mehr. //Und als dann im Herbst neunundfünfzig der Roman »Die Blechtrommel« in erster Auflage erschien, fuhren Anna und ich von Paris aus zur Frankfurter Buchmesse, wo wir bis in den Morgen hinein tanzten. Und als wir im Jahr drauf Paris hinter uns ließen und abermals, nun als Familie, in Berlin Wohnung in einer Halbruine nahmen, begann ich in der Karlsbader Straße, wo mir von fünf Zimmern eines zustand, sofort wieder zu zeichnen und zu schreiben, denn mit meiner Olivetti, dem Hochzeitsgeschenk, hatte ich schon von Paris aus neuen Anlauf genommen... f So lebte ich fortan von Seite zu Seite und zwischen Buch und Buch. Dabei blieb ich inwendig/reict) an Figuren. Doch davon zu erzählen, fehlt es an Zwiebeln und Lust. I ■ Sag schon, Paulchen, ob du... Geht in Ordnung, wenn sie bei dir, wo du doch von Beruf Fotograf bist und bestimmt... War wirklich okay, wenn du... Nix sag ich. Glaubt mir sowieso keiner. Wetten, daß er den Kasten in Sicherheit gebracht hat, vielleicht versteckt irgendwo in Brasilien... Stimmts, Paulchen? Wolltest bestimmt im Regenwald letzte Indianer mit Mariechens Box knipsen, und was an Bäumen noch übrig geblieben ist. Also, wo ist sie hin? Jadoch, verdammt, wo? Hört endlich auf. Paulchen wird schon wissen, warum er mit keinem Wort... Jeder hat Heimlichkeiten. Ich sag euch ja auch nicht alles. Keiner sagt alles. Und unser Väterchen schon gar nicht. Außerdem gabs keine Neuigkeiten mehr aus der Dunkelkammer zu erzählen, seitdem es kein Mariechen und keine Box mehr gab und danach alles langweilig wurde, nur noch normal lief. Weshalb jetzt Schluß sein sollte. Schluß ist! Für mich sowieso, weil ich nämlich und zwar sofort in die Klinik... Hab Nachtdienst wie gestern schon. Da hatten wir fünf Geburten, jede unkompliziert. Nur eine Mutter war deutscher Herkunft. Die vier anderen kamen von überall... Will übrigens Schnappschüsse von den fünf Babys machen. Wrill ich jetzt immer nach jeder Geburt... Und zwar mit einer Box, die ich mir kürzlich auf dem Flohmarkt... War nicht mal billig, sieht aber aus wie die von eurer alten Marie. Steht sogar Agfa drauf. Die Mütter freuen sich bestimmt, wenn ich Knipsfotos von ihren Babys... Mach ich, weil sowas für die Erinnerung gut ist, aber auch als Hebamme, rein berufsmäßig, wie Lara sagen würde, und weil man so vielleicht sehen kann, was aus den Babys später, viel später mal... f^Los, Atze, stell ab, sonst gehts weiter und weiter, endlos so weiter... .. .weil unsrem Vater immer noch nejGeschichte... .. .denn nur er, nie wir... Aber nichts hat er mehr zu sagen. Erwachsen blicken die Kinder streng. Sie weisen auf ihn mit Fingern. Das Wort wird dem Vater entzogen. Laut und mit Nachhall rufen die Töchter, die Söhne: »Das sind nur Märchen, Märchen...« - »Stimmt«, hält er leise dagegen, »doch sind es eure, die ich euch erzählen ließ.« Schnelle Blicke wechseln. Halbsätze zerkaut, verschluckt: beteuerte Liebe, aber auch Vorwürfe, die schon seit längerer Zeit vorrätig lagern. Schon soll nicht gelten, was auf Schnappschüssen gelebt wurde. Schon heißen die Kinder, wie sie richtig heißen. Schon schrumpft der Vater, will sich verflüchtigen. Schonjregt sich flüstejxtdJuäaiaeht, er, nur er habe Mariechen beerbt und die Box - wie ande- res auch ^~6ei sich versteckt: für später, weil immer noch was in ihm tickt, das abgearbeitet werden muß, sojang er noch daist.. J 210 211 r ' Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, läßt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann. } Mein PflegeTkann also gar nicht mein Feind sein. Liebgewonnen habe ich ihn, erzähle dem Gucker hinter der Tür, sobald er mein Zimmer betritt, Begebenheiten aus meinem Leben, damit er mich trotz des ihn hindernden Guckloches kennenlernt. Der Gute scheint meine Erzählungen zu schätzen, denn sobald ich ihm etwas vorgelogen habe, zeigt er mir, um sich erkenntlich zu geben, sein neuestes Khotengebilde. Ob er ein Künstler ist, bleibe dahingestellt. Eine Ausstellung seiner Kreationen würde jedoch von der Presse gut aufgenommen werden, auch einige Käufer herbeilocken. Er knotet ordinäre Bindfäden, die er nach den Besuchsstunden m den Zimmern seiner Patienten sammelt und entwirrt, zu vielschichtig verknorpelten Gespenstern, taucht diese dann in Gips, läßt sie erstarren und spießt sie mit Stricknadeln, die auf Holzsöckelchen befestigt sind. Oft spielt er mit dem Gedanken, seine Werke farbig zu gestalten. Ich rate davon ab, weise auf mein weißlackiertes Metallbett hin und bitte ihn, sich dieses vollkommenste Bett bunt bemalt vorzustellen. Entsetzt schlägt er dann seine Pflegerhände über dem Kopf zusammen, versucht in etwas zu starrem Gesicht allen Schrecken gleichzeitig Ausdruck zu geben und nimmt Abstand von seinen farbigen Plänen. Mein weißlackiertes metallenes Anstaltsbett ist also ein Maßstab. Mir ist es sogar mehr: mein Bett ist das endlich erreichte Ziel, mein Trost ist es und könnte mein Glaube werden, wenn mir die Anstaltsleitung erlaubte, einige Änderungen vorzunehmen: das Bettgitter möchte ich erhöhen lassen, damit mir niemand mehr zu nahe tritt. 6 Einmal in der Woche unterbricht ein Besuchstag meine zwischen weißen Metallstäben geflochtene Stille. Dann kommen sie, die mich retten wollen, denen es Spaß macht, mich zu lieben, die sich in mir schätzen, achten und kennenlernen möchten. Wie blind, nervös, wie unerzogen sie sind. Kratzen mit ihren Fingernagelscheren an meinem weißlackierten Bettgitter, kritzeln mit ihren Kugelschreibern und Blaustiften dem Lack langgezogene unanständige Strichmännchen. Mein Anwalt stülpt jedesmal, sobald er mit seinem Hallo das Zimmer sprengt, den Nylonhut über den linken Pfosten am Fußende meines Bettes. Solange sein Besuch währt - und Anwälte wissen viel zu erzählen -, raubt er mir durch diesen Gewaltakt das Gleichgewicht und die Heiterkeit. Nachdem meine Besucher ihre Geschenke auf dem weißen, mit Wachstuch bezogenen Tischchen unter dem Anemonenaquarell deponiert haben, nachdem es ihnen gelungen ist, mir ihre gerade laufenden oder geplanten Rettungsversuche zu unterbreiten und mich, den sie unermüdlich retten wollen, vom hohen Standard ihrer Nächstenliebe zu überzeugen, finden sie wieder Spaß an der eigenen Existenz und verlassen mich. Dann kommt mein Pfleger, um zu lüften und die Bindfäden der Geschenkpackungen einzusammeln. Oftmals findet er nach dem Lüften noch Zeit, an meinem Bett sitzend, Bindfäden aufdröselnd, so lange Stille zu verbreiten, bis ich die 1 Stille Bruno und Bruno die Stille nenne. Bruno Münsterberg - ich meine jetzt meinen Pfleger, lasse das Wortspiel hinter mir - kaufte auf meine Rechnung fünfhundert Blatt Schreibpapier. Bruno, der unverheiratet, kin- I derlos ist und aus dem Sauerland stammt, wird, sollte der Vorrat nicht reichen, die kleine Schreibwarenhandlung, in der auch Kinderspielzeug verkauft wird, noch einmal aufsuchen und mir den notwendigen unlinierten Platz für mein hoffentlich genaues Erinnerungsvermögen beschaffen. Niemals hätte ich meine Besucher, etwa den Anwalt oder Klepp, um diesen Dienst bitten können. Besorgte, mir verordnete und von der bewegten Wasserfläche aufsteigend, in der Tausende lebend oder tot in ihren Schwimmwesten hingen. Aus halbvollen und überfüllten Booten, von engbesetzten Flößen, die von Wellen gehoben wurden, in Wellentälern verschwanden, von überall her stieg gebündelt der Schrei auf und steigerte sich mit dem plötzlich einsetzenden, dann jäh erstickten Heulen der Schiffssirene zu grauenhafter Zweistimmigkeit. Ein nie gehörter, ein kollektiver Endschrei, von dem Mutter sagte und weiterhin sagen wird: »Son Jeschrai kriegste nich mehr raus äussern Jehör...« Die Stille danach soll nur noch von meinem Gequengel irritiert worden sein. Kaum abgenabelt, lag auch ich still. Als der Kapitän als Zeuge des Untergangs ordnungsgemäß den Zeitpunkt im Bordbuch vermerkt hatte, begann die Besatzung des Torpedobootes wiederum, Überlebende aus der See zu fischen. r . . . ' Aber das stimmt alles nicht. Mutter lügt. Bin sicher, daß ich nicht auf der Lowe... Die Uhrzeit war nämlich... Weil schon, als der zweite Torpedo... Und bei den ersten Wehen Doktor Richter keine Spritze, sondern gleich die Geburt... Ging glatt. Geboren auf schräger, rutschender Pritsche. Alles war schräg, als ich... Nur schade, daß Doktor Richter nicht Zeit fand, auch noch die Urkunde: geboren am, an Bord von, mit genauer Zeitangabe handschriftlich... Jadoch, nicht auf einem Torpedoboot, sondern auf dem verfluchten, auf den Blutzeugen getauften, vom Stapel gelassenen, einst weißgläiizenden, beliebten, kraftdurchfreudeför-dernden, klassenlosen, dreimal vermaledeiten, überladenen, kriegsgrauen, getroffenen, immerfort sinkenden Schiff wurde ich aus Kopf und in Schräglage geboren. Und mit dem abgenabelten Säugling, der gewickelt und in Schiffseigner 146 Wolldecke verpackt wurde, ist Mutter dann, gestützt auf Doktor Richter und Stationsschwester Helga, ins rettende Boot. Aber sie will keine Niederkunft auf der Gustbff. Lügt sich zwei Matrosen zusammen, die mich in der Kajüte des Maschinenoffiziers abgenabelt haben. Dann wieder soll es der Doktor gewesen sein, der aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht an Bord des Torpedobootes war. Selbst Mutter, die sonst alles mit Bestimmtheit weiß, schwankt in ihrer Meinung und läßt, außer den »zwai Mariners« und dem »Onkel Dokter, der mir auffe Justlqff noch ne Spritze verpaßt hat«, einen weiteren Geburtshelfer aktiv werden: der Kapitän der Löwe, Paul Prüfe, soll mich abgenabelt haben. Da ich meine Geburtsversion, die, zugegeben, eher eine Vision ist, nicht belegen kann, halte ich mich an die von Heinz Schön überlieferten Fakten, nach denen Doktor Richter nach Mitternacht von dem Torpedoboot übernommen wurde. Erst dann ist er bei der Geburt eines anderen Kindes tätig geworden. Sicher bleibt aber, daß der Bordarzt der Gustlqff nachträglich meinen Geburtsschein, datiert auf den 30. Januar 1945, wenn auch ohne genaue Uhrzeit, ausgestellt hat. Zu meinem Vornamen jedoch hat mir Kapitänleutnant Prüfe verholfen. Mutter will darauf bestanden haben, daß ich Paul, »jenau wie der Käpten vonne Leewe«, und unvermeidbar mit Nachnamen Pokriefke heißen sollte. Später haben mich die Jungs in der Schule und bei der FDJ, aber auch Journalisten aus meinem Bekanntenkreis »Peepee« gerufen; und mit P Punkt P Punkt unterzeiclme ich meine ArtikeL_/ Der Junge übrigens, der zwei Stunden nach meiner Geburt, also am 31. Januar, auf dem Torpedoboot geboren wurde, hieß fortan auf Wunsch seiner Mutter und des rettenden Schiffes wegen mit Vornamen »Leo«. 147 f Die Gäste aber nahmen die Brettchen ernsthaft in Empfang. Manche tauschten sie um. Der eine liebte die Profilform des Schweines, der andere oder - wenn es sich um eine Dame handelte - die andere zog dem ordinären Hausschwein den geheimnisvolleren Fisch vor. Sie rochen an den Brettchen, schoben sie hin und her, und der Wirt Schmuh wartete, nachdem er auch die Gäste auf der Galerie bedient hatte, bis jedes Brettchen zur Ruhe gekommen war. Dann — und alle Herzen warteten auf ihn — dann zog er, einem Zauberer nicht unähnlich, das Deckchen fort: Ein zweites Deckchen deckte den Korb. Darauf aber lagen, mit dem ersten Blick nicht erkenntlich, die Küchenmesser. Wie zuvor mit den Brettchen ging Schmuh nun mit den Messern reihum. Doch machte er seine Runde schneller, steigerte jene Spannung, die ihm erlaubte, die Preise zu erhöhen, machte keine Komplimente mehr, ließ es nicht zum Umtausch der Küchenmesser kommen, eine gewisse wohldosierte Hast fuhr in seine Bewegungen, »Fertig, Achtung, los!« rief er, riß das Tuch vom Korb, griff hinein in den Korb, verteilte, teilte aus, streute unters Volk, war der milde Geber, versorgte seine Gäste, gab ihnen Zwiebeln, Zwiebeln, wie man sie goldgelb und leicht stilisiert auf seinem Shawl sah, Zwiebeln gewöhnlicher Art, Knollengewächse, keine Tulpenzwiebeln, Zwiebeln, wie sie die Hausfrau einkauft, Zwiebeln, wie sie die Gemüsefrau verkauft, Zwiebeln, wie sie der Bauer oder die Bäuerin oder die Magd pflanzt und erntet, Zwiebeln, wie sie, mehr oder weniger getreu abgemalt, auf den Stilleben holländischer Kleinmeister zu sehen sind, solche und ähnliche Zwiebeln verteilte der Wirt Schmuh unter seine Gäste, bis alle die Zwiebel hatten, bis man nur noch die Kanonenöfen bullern, die Karbidlampen singen hörte. So still wurde es nach der großen Zwiebelausteilung - und Ferdinand Schmuh rief »Bittschön, die Herrschaften!« warf das eine Ende seines Shawls über die linke Schulter, wie es Skiläufer vor der Abfahrt tun, und gab damit ein Signal. \ Man enthäutete die Zwiebeln. Sieben Häute sagt man der Zwiebel nach. Die Damen und Herren enthäuteten die Zwiebeln mit den Küchenmessern. Sie nahmen den Zwiebeln die erste, dritte, blonde, goldgelbe, rostbraune, oder besser: zwie-belfarbene Haut, häuteten, bis die Zwiebel gläsern, grün, weißlich, feucht, klebrig wäßrig wurde, roch, nach Zwiebel roch und dann schnitten sie, wie man Zwiebeln schneidet, schnitten geschickt oder ungeschickt auf Hackbrettchen, die die Profile von Schweinen und Fischen hatten, schnitten in diese und jene Richtung, daß der Saft spritzte oder sich der Luft über der Zwiebel mitteilte - es mußten die älteren Herren, die mit Küchenmessern nicht umgehen konnten, vorsichtig sein, daß sie sich nicht in die Finger schnitten; schnitten sich aber manche und merkten es nicht - dafür die Damen um so geschickter, nicht alle, aber doch jene Damen, die zu Hause die Hausfrau abgaben, die da wußten, wie man die Zwiebel schneidet, etwa für Bratkartoffeln oder für Leber mit Apfel und Zwiebelringen; doch in Schmuhs Zwiebelkeller gab es weder noch, nichts gab es da zu~essen, und wer was_esseri._ wollte, der mußte woanders hingehen, ins »Fischl« und nicht in den Zwiebelkeller, denn da wurden nur Zwiebeln geschnitten. Und warum das? Weil der Keller so hieß und was Besonderes war, weil die-Zwyebel, die geschnittene Zwiebel, wenn man genauQunschaut . J. nein, Schmuhs Gäste sahen nichts mehr oder eiruge_s^rien nichts mehr, denen liefen .„die Augen über, nicht weil die Herzen so voll waren; denn es ist gar nicht gesagt^daf^ bei vollem Herzen sogleich auch das Auge überlaufen muß, manche schaffen das nie, besonders während der letzten oder verflossenen Jahrzehnte, deshalb wird unser Jahrhundert spätereinmal das tränenlose Jahrhundert genannt werden, obgleich sovieTXeid~ällenthalben - und genau aus diesem tränenlosen Grunde gingen Leute, die es sich leisten konnten, in Schmuhs Zwiebelkeller, ließen sich vom Wirt ein Hackbrettchen - Schwein oder Fisch -, ein Küchenmesser für achtzig Pfennige und eine ordinäre Feld-Garten-Küchenzwie- 648 649 r 1 Vv1'- u Lei Ii ^ bei für zwölf Mark servieren, schnitten die klein und kleiner, bis der Saft es schaffte, was schaffte? Schaffte, was die Welt und das Leid dieser Welt nicht schafften: die runde menschliche Träne. Da wurde geweint. Da wurde endlich wieder einmal geweint. Anständig geweint, hemmungslos geweint, frei weg geweint. Da floß es und schwemmte fort. Da kam der Regen. jDaJtfiL.der-Tau_. Schleusen fallen Oskar ein, die geöffnet werden. Dammbrüche bei Springflut. Wie heißt doch der Fluß, der jedes Jahr über die Ufer tritt, und die Regierung tut nichts dagegen ? Und nach dem Naturereignis für zwölf Mark achtzig spricht der Mensch, der sich ausgeweint hat. Zögernd noch, erstaunt über die eigene nackte Sprache, überließen sich die Gäste des Zwiebelkellers nach dem Genuß der Zwiebeln ihren Nachbarn auf den unbequemen, rupfenbespannten Kisten, ließen sich ausfragen, wenden, wie man Mäntel wendet. Oskar jedoch, der mit Klepp und Scholle tränenlos unter der quasi Hühnerleiter saß, will diskret bleiben, will aus all den Offenbarungen, Selbstanklagen, Beichten, Enthüllungen, Geständnissen nur die Geschichte des Fräulein Pioch erzählen, die ihren Herrn Vollmer immer wieder verlor, deshalb ein steinern Herz und tränenlos Aug' bekam und immer wieder Schmuhs teuren Zwiebelkeller aufsuchen mußte..< Wir begegneten einander, sagte Fräulein Pioch, nachdem sie geweint hatte, in der Straßenbahn. Ich kam aus dem Geschäft -sie besitzt und leitet eine vorzügliche Buchhandlung -, der Wagen war vollbesetzt und Willy - das ist der Herr Vollmer -trat mir heftig auf den rechten Fuß. Ich konnte nicht mehr stehen, und wir liebten uns beide auf den ersten Blick. Da ich auch nicht mehr gehen konnte, bot er mir seinen Arm an, begleitete oder besser, trug mich nach Hause und pflegte von jenem Tage an liebevoll jenen Fußnagel, der sich unter seinem Tritt blauschwarz verfärbt hatte. Aber auch sonst ließ er es mir gegenüber nicht an Liebe fehlen, bis der Nagel sich vom rechten großen Zeh löste und dem Wachstum eines neuen Zehnagels nichts mehr im Wege stand. Von jenem Tage an, da der taube Zehnagel abfiel, erkaltete auch seine Liebe. Wir litten beide unter dem Schwund. Da machte Willy, weil er immer noch an mir hing, auch weil wir beide soviel Gemeinsames hatten, jenen schrecklichen Vorschlag: Laß mich deinen linken großen Zeh treten, bis dessen Nagel rotblau, dann blauschwarz wird. Ich gab nach, und er tat es. Sofort war ich wieder im vollen Genuß seiner Liebe, durfte die genießen, bis auch der linke Nagel des linken großen Zehs wie ein welkes Blatt abfiel; und abermals erlebte unsere Liebe den Herbst. Jetzt wollte Willy meinen rechten großen Zeh, dessen Nagel inzwischen nachgewachsen war, treten, um mir wieder in Liebe dienen zu dürfen. Doch ich erlaubte es ihm nicht. Sagte, wenn deine Liebe wirklich groß und echt ist, muß sie auch einen Zehnagel überdauern können. Er verstand mich nicht und verließ mich. Nach Monaten begegneten wir einander im Konzertsaal. Nach der Pause setzte er sich ungefragt neben mich, da neben mir noch ein Platz frei war. Als der Chor während der neunten Symphonie zu singen anhob, schob ich ihm meinen rechten Fuß hin, von dem ich zuvor den Schuh abgestreift hatte. Er trat zu, und ich störte dennoch nicht das Konzert. Nach sieben Wochen verließ mich Willy abermals. Noch zweimal durften wir uns wenige Wochen lang haben, da ich noch zweimal, einmal den linken, dann den rechten großen Zeh hinhielt. Heute sind beide Zehen verkrüppelt. Die Nägel wollen nicht mehr nachwachsen. Dann und wann besucht mich Willy, sitzt vor mir auf dem Teppich, starrt erschüttert, voller Mitleid mit mir und mit sich selbst, doch ohne Liebe tränenlos auf die beiden nagellosen Opfer unserer Liebe. Manchmal sage ich zu ihm: Komm, Willy, wir gehen zu Schmuh in den Zwiebelkeller, weinen wir uns mal richtig aus. Aber bis jetzt hat er nie mitkommen wollen. Der Arme weiß also nichts von der großen Trösterin Träne. Später - und Oskar verrät das nur, um die Neugierigen unter Ihnen zu befriedigen — kam auch Herr Vollmer, ein Radiohändler übrigens, zu uns in den Keller. Sie weinten gemeinsam 6yo 2 65i ■ ben war, zum Schluß die letzten aus den Davits gesprungenen Rettungsboote. »Zufrieden jetzt. Vafcrl» Danach kein Wort mehr. Sein Blick suchte das vergitterte Fenster, blieb daran hängen. Ich habe weißnichtmehrwas gequasselt. Irgendwas Positives. »Man soll nie aufgeben« oder »Laß uns noch einmal gemeinsam von vorne anfangen« oder irgendeinen Stuß, amerikanischen Filmen nachgeplappert: »Ich bin stolz auf dich.« Auch als ich ging, hatte mein Sohn kein Wort übrig. I Wenige Tage später, nein tags darauf hat mir jemand -er, in dessen Namen ich krebsend vorankam - dringlich geraten, online zu gehen. Er sagte,' vieHeicHf finde sich per Mausklick ein passendes Schlußwort. Bis dahin hatte ich enthaltsam gelebt: nur was der Beruf forderte, ab und zu ein Porno, mehr nicht. Seitdem Ronny saß, herrschte ja Funkstille. Auch gab es keinen David mehr. Mußte lange surfen. Hatte zwar oft den Namen des verfluchten Schiffes im Window, aber nichts Neues oder abschließend Endgültiges. Doch dann kam es dicker als befürchtet. Unter besonderer Adresse stellte sich in deutscher und englischer Sprache eine Website vor, die als »www.kanieradschaft-konrad-polu:ie.ike.de« für jemanden warb, dessen Haltung und Gedankengut vorbildlich seien, den deshalb das verhaßte System eingekerkert habe. »Wir glauben an Dich, wir warten auf Dich, wir folgen Dir...« Undsoweitef undsoweitef. Das hört nicht auf. Nie hört das auf. [ 1 Also brachte ich von meiner Polenreise einen Vorrat an Fundsachen nach Paris mit: aufschäumendes Brausepulver, Karfreitagslärm und Teppichklopfstangen, den Fluchtweg des Geldbriefträgers, der den Kampf um die Polnische Post überlebt hatte, Schulwege hin und zurück, was die städtische Bibliothek an Zeitungsjahrgängen aufbewahrt hatte, die Kinoprogramme im Herbst neununddreißig. Zudem Geflüster in Beichtstühlen, Inschriften auf Grabsteinen, den Geruch der Ostsee und Bernsteinkrümel, die zwischen Brösen und Glettkau entlang dem Wellensaum zu finden waren. So kam alles zu Wort und blieb frisch, weil in Paris wie I unter einer Käseglocke aufgehoben. So erschöpfte ich mich und war dennoch nicht leergelöffelt, schrieb zwar noch eigenhändig, war aber mittlerweile Werkzeug nur und hörig meinen Figuren, besonders der einen, die -weißnichtwarum - Oskar hieß. Uberhaupt weiß ich wenig darüber zu sagen, wie etwas entstand und entsteht; es sei denn, ich müßte lügen... Und als ich im Oktober des gleichen Jahres von Paris über München in irgendein bayerisches oder schwäbisches Nest namens Großholzleute reiste, um dort vor der versammelten Gruppe 47 die Kapitel »Der weite Rock« und »Fortuna Nord« zu lesen, wurde dem Autor eines annähernd fertigen Romans der Preis der Gruppe zugesprochen. Viertausendfünfhundert Mark kamen zusammen, spontan von Verlegern gespendet: mein erstes großes Geld, das mir half, in Ruhe alles noch einmal in die Olivetti zu tippen, sozusagen ins reine. Außerdem trug uns das Preisgeld einen formschönen Plattenspieler der Firma Braun ein, genannt »Schneewittchensarg«, den ich in München nach erster Rundfunk- 478 lesung kaufte und nach Paris brachte, auf dem wir Stra-winskys »Frühlingsopfer« und Bartöks »Blaubart« hörten, immer wieder. Nun waren wir nicht mehr arm und konnten uns Kalbsleber und Schallplatten kaufen. In Paris tanzten Anna und ich offen und eng. In Paris waren wir glücklich und ahnten nicht, wie lange noch. In Paris kam de Gaulle an die Macht und lernte ich, die Knüppelgewalt der französischen Polizei zu fürchten. In Paris wurde ich zusehends politischer. In Paris setzten sich vor fließender Wand etliche Tuberkulome in meiner Lunge fest, die erst in Berlin auskuriert wurden. In Paris liefen mir die Zwillinge auf der Avenue d'Italie in verschiedene Richtung davon, so daß ich nicht wußte, wem zuerst hinterdrein. In Paris war Paul Celan nicht zu helfen. In Paris war bald kein Bleiben mehr. [/Und als dann im Herbst neunundfünfzig der Roman »Die Blechtrommel« in erster Auflage erschien, fuhren Anna und ich von Paris aus zur Frankfurter Buchmesse, wo wir bis in den Morgen hinein tanzten. Und als wir im Jahr drauf Paris hinter uns ließen und abermals, nun als Familie, in Berlin Wohnung in einer Halbruine nahmen, begann ich in der Karlsbader Straße, wo mir von fünf Zimmern eines zustand, sofort wieder zu zeichnen und zu schreiben, denn mit meiner Olivetti, dem Hochzeitsgeschenk, hatte ich schon von Paris aus neuen Anlauf genommen... f So lebte ich fortan von Seite zu Seite und zwischen Buch und Buch. Dabei blieb ich inwendig^reich an Figuren. Doch davon zu erzählen, fehlt es an ZwietJeln und Lust, j Sag schon, Paulchen, ob du... Geht in Ordnung, wenn sie bei dir, wo du doch von Beruf Fotograf bist und bestimmt... War wirklich okay, wenn du... Nix sag ich. Glaubt mir sowieso keiner. Wetten, daß er den Kasten in Sicherheit gebracht hat, vielleicht versteckt irgendwo in Brasilien... Stimmts, Faulchen? Wolltest bestimmt im Regenwald letzte Indianer mit Mariechens Box knipsen, und was an Bäumen noch übrig geblieben ist. Also, wo ist sie hin? Jadoch, verdammt, wo? Hört endlich auf. Paulchen wird schon wissen, warum er mit keinem Wort... Jeder hat Heimlichkeiten. Ich sag euch ja auch nicht alles. Keiner sagt alles. Und unser Väterchen schon gar nicht. Außerdem gabs keine Neuigkeiten mehr aus der Dunkelkammer zu erzählen, seitdem es kein Mariechen und keine Box mehr gab und danach alles langweilig wurde, nur noch normal lief. Weshalb jetzt Schluß sein sollte. Schluß ist! Für mich sowieso, weil ich nämlich und zwar sofort in die Klinik... Hab Nachtdienst wie gestern schon. Da hatten wir fünf Geburten, jede unkompliziert. Nur eine Mutter war deutscher Herkunft. Die vier anderen kamen von überall... Will übrigens Schnappschüsse von den fünf Babys machen. Will ich jetzt immer nach jeder Geburt... 210 Und zwar mit einer Box, die ich mir kürzlich auf dem Flohmarkt... War nicht mal billig, sieht aber aus wie die von eurer alten Marie. Steht sogar Agfa drauf. Die Mütter freuen sich bestimmt, wenn ich Knipsfotos von ihren Babys... Mach ich, weil sowas für die Erinnerung gut ist, aber auch als Hebamme, rein berufsmäßig, wie Lara sagen würde, und weil man so vielleicht sehen kann, was aus den Babys später, viel später mal... f^Los, Atze, stell ab, sonst gehts weiter und weiter, endlos so weiter... .. .weil unsrem Vater immer noch nejGeschichte... ...denn nur er, nie wir... Aber nichts hat er mehr zu sagen. Erwachsen blicken die Kinder streng. Sie weisen auf ihn mit Fingern. Das Wort wird dem Vater entzogen. Laut und mit Nachhall rufen die Töchter, die Söhne: »Das sind nur Märchen, Märchen...« - »Stimmt«, hält er leise dagegen, »doch sind es eure, die ich euch erzählen ließ.« Schnelle Blicke wechseln. Halbsätze zerkaut, verschluckt: beteuerte Liebe, aber auch Vorwürfe, die schon seit längerer Zeit vorrätig lagern. Schon soll nicht gelten, was auf Schnappschüssen gelebt wurde. Schon heißen die Kinder, wie sie richtig heißen. Schon schrumpft der Vater, will sich verflüchtigen. Schonjregt sich flüsterndVe-rdacht, er, nur er habe Mariechen beerbt und die Box - wie anderes auch - bei sich versteckt: für später, weil immer noch was in ihm tickt, das abgearbeitet werden muß, sokmg er noch da ist... / 211 r Der weite Rock t > Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, läßt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann. } Mein PflegeFkann also gar nicht mein Feind sein. Liebgewonnen habe ich ihn, erzähle dem Gucker hinter der Tür, sobald er mein Zimmer betritt, Begebenheiten aus meinem Leben, damit er mich trotz des ihn hindernden Guckloches kennenlernt. Der Gute scheint meine Erzählungen zu schätzen, denn sobald ich ihm etwas vorgelogen habe, zeigt er mir, um sich erkenntlich zu geben, sein neuestes Khotengebilde. Ob er ein Künstler ist, bleibe dahingestellt. Eine Ausstellung seiner Kreationen würde jedoch von der Presse gut aufgenommen werden, auch einige Käufer herbeilocken. Er knotet ordinäre Bindfäden, die er nach den Besuchsstunden m den Zimmern seiner Patienten sammelt und entwirrt, zu vielschichtig verknorpelten Gespenstern, taucht diese dann in Gips, läßt sie erstarren und spießt sie mit Stricknadeln, die auf Holzsöckelchen befestigt sind. Oft spielt er mit dem Gedanken, seine Werke farbig zu gestalten. Ich rate davon ab, weise auf mein weißlackiertes Metallbett hin und bitte ihn, sich dieses vollkommenste Bett bunt bemalt vorzustellen. Entsetzt schlägt er dann seine Pflegerhände über dem Kopf zusammen, versucht in etwas zu starrem Gesicht allen Schrecken gleichzeitig Ausdruck zu geben und nimmt Abstand von seinen farbigen Plänen. Mein weißlackiertes metallenes Anstaltsbett ist also ein Maßstab. Mir ist es sogar mehr: mein Bett ist das endlich erreichte Ziel, mein Trost ist es und könnte mein Glaube werden, wenn mir die Anstaltsleitung erlaubte, einige Änderungen vorzunehmen: das Bettgitter möchte ich erhöhen lassen, damit mir niemand mehr zu nahe tritt. 6 Einmal in der Woche unterbricht ein Besuchstag meine zwischen weißen Metallstäben geflochtene Stille. Dann kommen sie, die mich retten wollen, denen es Spaß macht, mich zu lieben, die sich in mir schätzen, achten und kennenlernen möchten. Wie blind, nervös, wie unerzogen sie sind. Kratzen mit ihren Fingernagelscheren an meinem weißlackierten Bettgitter, kritzeln mit ihren Kugelschreibern und Blaustiften dem Lack langgezogene unanständige Strichmännchen. Mein Anwalt stülpt jedesmal, sobald er mit seinem Hallo das Zimmer sprengt, den Nylonhut über den linken Pfosten am Fußende meines Bettes. Solange sein Besuch währt - und Anwälte wissen viel zu erzählen -, raubt er mir durch diesen Gewaltakt das Gleichgewicht und die Heiterkeit. Nachdem meine Besucher ihre Geschenke auf dem weißen, mit Wachstuch bezogenen Tischchen unter dem Anemonenaquarell deponiert haben, nachdem es ihnen gelungen ist, mir ihre gerade laufenden oder geplanten Rettungsversuche zu unterbreiten und mich, den sie unermüdlich retten wollen, vom hohen Standard ihrer Nächstenliebe zu überzeugen, finden sie wieder Spaß an der eigenen Existenz und verlassen mich. Dann kommt mein Pfleger, um zu lüften und die Bindfäden der Geschenkpackungen einzusammeln. Oftmals findet er nach dem Lüften noch Zeit, an meinem Bett sitzend, Bindfäden aufdröselnd, so lange Stille zu verbreiten, bis ich die 1 Stille Bruno und Bruno die Stille nenne. Bruno Münsterberg - ich meine jetzt meinen Pfleger, lasse das Wortspiel hinter mir - kaufte auf meine Rechnung fünfhundert Blatt Schreibpapier. Bruno, der unverheiratet, kin- I derlos ist und aus dem Sauerland stammt, wird, sollte der Vorrat nicht reichen, die kleine Schreibwarenhandlung, in der auch Kinderspielzeug verkauft wird, noch einmal aufsuchen und mir den notwendigen unlinierten Platz für mein hoffentlich genaues Erinnerungsvermögen beschaffen. Niemals hätte ich meine Besucher, etwa den Anwalt oder Klepp, um diesen Dienst bitten können. Besorgte, mir verordnete r 7 Die Gäste aber nahmen die Brettchen ernsthaft in Empfang. Manche tauschten sie um. Der eine liebte die Profilform des Schweines, der andere oder — wenn es sich um eine Dame handelte - die andere zog dem ordinären Hausschwein den geheimnisvolleren Fisch vor. Sie rochen an den Brettchen, schoben sie hin und her, und der Wirt Schmuh wartete, nachdem er auch die Gäste auf der Galerie bedient hatte, bis jedes Brettchen zur Ruhe gekommen war. Dann — und alle Herzen warteten auf ihn — dann zog er, einem Zauberer nicht unähnlich, das Deckchen fort: Ein zweites Deckchen deckte den Korb. Darauf aber lagen, mit dem ersten Blick nicht erkenntlich, die Küchenmesser. Wie zuvor mit den Brettchen ging Schmuh nun mit den Messern reihum. Doch machte er seine Runde schneller, steigerte jene Spannung, die ihm erlaubte, die Preise zu erhöhen, machte keine Komplimente mehr, ließ es nicht zum Umtausch der Küchenmesser kommen, eine gewisse wohldosierte Hast fuhr in seine Bewegungen, »Fertig, Achtung, los!« rief er, riß das Tuch vom Korb, griff hinein in den Korb, verteilte, teilte aus, streute unters Volk, war der milde Geber, versorgte seine Gäste, gab ihnen Zwiebeln, Zwiebeln, wie man sie goldgelb und leicht stilisiert auf seinem Shawl sah, Zwiebeln gewöhnlicher Art, Knollengewächse, keine Tulpenzwiebeln, Zwiebeln, wie sie die Hausfrau einkauft, Zwiebeln, wie sie die Gemüsefrau verkauft, Zwiebeln, wie sie der Bauer oder die Bäuerin oder die Magd pflanzt und erntet, Zwiebeln, wie sie, mehr oder weniger getreu abgemalt, auf den Stilleben holländischer Kleinmeister zu sehen sind, solche und ähnliche Zwiebeln verteilte der Wirt Schmuh unter seine Gäste, bis alle die Zwiebel hatten, bis man nur noch die Kanonenöfen bullern, die Karbidlampen singen hörte. So still wurde es nach der großen Zwiebelausteilung - und Ferdinand Schmuh rief »Bitt-schön, die Herrschaften!« warf das eine Ende seines Shawls über die linke Schulter, wie es Skiläufer vor der Abfahrt tun, und gab damit ein Signal. \ Man enthäutete die Zwiebeln. Sieben Häute sagt man der Zwiebel nach. Die Damen und Herren enthäuteten die Zwiebeln mit den Küchenmessern. Sie nahmen den Zwiebeln die erste, dritte, blonde, goldgelbe, rostbraune, oder besser: zwie-belfarbene Haut, häuteten, bis die Zwiebel gläsern, grün, weißlich, feucht, klebrig wäßrig wurde, roch, nach Zwiebel roch und dann schnitten sie, wie man Zwiebeln schneidet, schnitten geschickt oder ungeschickt auf Hackbrettchen, die die Profile von Schweinen und Fischen hatten, schnitten in diese und jene Richtung, daß der Saft spritzte oder sich der Luft über der Zwiebel mitteilte - es mußten die älteren Herren, die mit Küchenmessern nicht umgehen konnten, vorsichtig sein, daß sie sich nicht in die Finger schnitten; schnitten sich aber manche und merkten es nicht - dafür die Damen um so geschickter, nicht alle, aber doch jene Damen, die zu Hause die Hausfrau abgaben, die da wußten, wie man die Zwiebel schneidet, etwa für Bratkartoffeln oder für Leber mit Apfel und Zwiebelringen; doch in Schmuhs Zwiebelkeller gab es weder noch, nichts gab es da zTTessen, und wer was_essen... wollte, der mußte woanders hingehen, ins »Fischl« und nicht in den Zwiebelkeller, denn da wurden nur Zwiebeln geschnitten. Und warum das? Weil der Keller so hieß und was Besonderes war, weil -die-Zwlsbe], die geschnittene Zwiebel, wenn man genauQnnschaut . J. nein, Schmuhs Gäste sahen nichts mehr oder ernlgie_s1ucien nichts mehr, denen liefen .„die Augen über, nicht weil die Herzen so voll waren; denn es ist gar nicht gesagt7claß bei vollem Herzen sogleich auch das Auge überlaufen muß, manche schaffen das nie, besonders während der letzten oder verflossenen Jahrzehnte, deshalb wird unser Jahrhundert spätereinmal das tränenlose Jahrhundert genannt werden, obgleich sovieTXeid"ällenthalben - und genau aus diesem tränenlosen Grunde gingen Leute, die es sich leisten konnten, in Schmuhs Zwiebelkeller, ließen sich vom Wirt ein Hackbrettchen - Schwein oder Fisch -, ein Küchenmesser für achtzig Pfennige und eine ordinäre Feld-Garten-Küchenzwie- 648 649 r 1 Vv1'- u Lei Olli Ii ^ bei für zwölf Mark servieren, schnitten die klein und kleiner, bis der Saft es schaffte, was schaffte? Schaffte, was die Welt und das Leid dieser Welt nicht schafften: die runde menschliche Träne. Da wurde geweint. Da wurde endlich wieder einmal geweint. Anständig geweint, hemmungslos geweint, frei weg geweint. Da floß es und schwemmte fort. Da kam der Regen. Dajjej.dex.la.tu.Schleusen fallen Oskar ein, die geöffnet werden. Dammbrüche bei Springflut. Wie heißt doch der Fluß, der jedes Jahr über die Ufer tritt, und die Regierung tut nichts dagegen ? Und nach dem Naturereignis für zwölf Mark achtzig spricht der Mensch, der sich ausgeweint hat. Zögernd noch, erstaunt über die eigene nackte Sprache, überließen sich die Gäste des Zwiebelkeliers nach dem Genuß der Zwiebeln ihren Nachbarn auf den unbequemen, rupfenbespannten Kisten, ließen sich ausfragen, wenden, wie man Mäntel wendet. Oskar jedoch, der mit Klepp und Scholle tränenlos unter der quasi Hühnerleiter saß, will diskret bleiben, will aus all den Offenbarungen, Selbstanklagen, Beichten, Enthüllungen, Geständnissen nur die Geschichte des Fräulein Pioch erzählen, die ihren Herrn Vollmer immer wieder verlor, deshalb ein steinern Herz und tränenlos Aug' bekam und immer wieder Schmuhs teuren Zwiebelkeller aufsuchen mußte, I Wir begegneten einander, sagte Fräulein Pioch, nachdem sie geweint hatte, in der Straßenbahn. Ich kam aus dem Geschäft -sie besitzt und leitet eine vorzügliche Buchhandlung -, der Wagen war vollbesetzt und Willy - das ist der Herr Vollmer -trat mir heftig auf den rechten Fuß. Ich konnte nicht mehr stehen, und wir liebten uns beide auf den ersten Blick. Da ich auch nicht mehr gehen konnte, bot er mir seinen Arm an, begleitete oder besser, trug mich nach Hause und pflegte von jenem Tage an liebevoll jenen Fußnagel, der sich unter seinem Tritt blauschwarz verfärbt hatte. Aber auch sonst ließ er es mir gegenüber nicht an Liebe fehlen, bis der Nagel sich vom rechten großen Zeh löste und dem Wachstum eines neuen Zehnagels nichts mehr im Wege stand. Von jenem Tage an, da der taube Zehnagel abfiel, erkaltete auch seine Liebe. Wir litten beide unter dem Schwund. Da machte Willy, weil er immer noch an mir hing, auch weil wir beide soviel Gemeinsames hatten, jenen schrecklichen Vorschlag: Laß mich deinen linken großen Zeh treten, bis dessen Nagel rotblau, dann blauschwarz f wird. Ich gab nach, und er tat es. Sofort war ich wieder im i vollen Genuß seiner Liebe, durfte die genießen, bis auch der I linke Nagel des linken großen Zehs wie ein welkes Blatt abfiel; ?' und abermals erlebte unsere Liebe den Herbst. Jetzt wollte f Willy meinen rechten großen Zeh, dessen Nagel inzwischen f nachgewachsen war, treten, um mir wieder in Liebe dienen zu ¥ dürfen. Doch ich erlaubte es ihm nicht. Sagte, wenn deine I Liebe wirklich groß und echt ist, muß sie auch einen Zehnagel I überdauern können. Er verstand mich nicht und verließ mich. I Nach Monaten begegneten wir einander im Konzertsaal. Nach § der Pause setzte er sich ungefragt neben mich, da neben mir f noch ein Platz frei war. Als der Chor während der neunten f Symphonie zu singen anhob, schob ich ihm meinen rechten I Fuß hin, von dem ich zuvor den Schuh abgestreift hatte. Er trat I zu, und ich störte dennoch nicht das Konzert. Nach sieben Wochen verließ mich Willy abermals. Noch zweimal durften ■■ wir uns wenige Wochen lang haben, da ich noch zweimal, einmal den linken, dann den rechten großen Zeh hinhielt. Heute sind beide Zehen verkrüppelt. Die Nägel wollen nicht mehr nachwachsen. Dann und wann besucht mich Willy, sitzt vor mir auf dem Teppich, starrt erschüttert, voller Mitleid mit mir und mit sich selbst, doch ohne Liebe tränenlos auf die beiden nagellosen Opfer unserer Liebe. Manchmal sage ich zu ihm: Komm, Willy, wir gehen zu Schmuh in den Zwiebelkeller, weinen wir uns mal richtig aus. Aber bis jetzt hat er nie mitkommen wollen. Der Arme weiß also nichts von der :| großen Trösterin Träne. Später - und Oskar verrät das nur, um die Neugierigen unter Ihnen zu befriedigen - kam auch Herr Vollmer, ein Radiohändler übrigens, zu uns in den Keller. Sie weinten gemeinsam 6yo 2 65i ■ ben war, zum Schluß die letzten aus den Davits gesprungenen Rettungsboote. »Zufrieden jetzt. Vaters Danach kein Wort mehr. Sein Blick suchte das vergitterte Fenster, blieb daran hängen. Ich habe weißnichtmehrwas gequasselt. Irgendwas Positives. »Man soll nie aufgeben« oder »Laß uns noch einmal gemeinsam von vorne anfangen« oder irgendeinen Stuß, amerikanischen Filmen nachgeplappert: »Ich bin stolz auf dich.« Auch als ich ging, hatte mein Sohn kein Wort übrig. I Wenige Tage später, nein tags darauf hat mir jemand -er, in dessen Namen ich krebsend vorankam - dringlich geraten, online zu gehen. Er sägte,' vieueicEFfinde sich per Mausklick ein passendes Schlußwort. Bis dahin hatte ich enthaltsam gelebt: nur was der Beruf forderte, ab und zu ein Porno, mehr nicht. Seitdem Ronny saß, herrschte ja Funkstille. Auch gab es keinen David mehr. Mußte lange surfen. Hatte zwar oft den Namen des verfluchten Schiffes im Window, aber rüchts Neues oder abschließend Endgültiges. Doch dann kam es dicker als befürchtet. Unter besonderer Adresse stellte sich in deutscher und englischer Sprache eine Website vor, die als »www.kanieradschaft-konrad-pokjcielke.de« für jemanden warb, dessen Haltung und Gedankengut vorbildlich seien, den deshalb das verhaßte System eingekerkert habe. »Wir glauben an Dich, wir warten auf Dich, wir folgen Dir...« Undsoweitef undsoweitef. Das hört nicht auf. Nie hört das auf. i p I | i: r '<" Also brachte ich von meiner Polenreise einen Vorrat an Fundsachen nach Paris mit: aufschäumendes Brausepulver, Karfreitagslärm und Teppichklopfstangen, den Fluchtweg des Geldbriefträgers, der den Kampf um die Polnische Post überlebt hatte, Schulwege hin und zurück, was die städtische Bibliothek an Zeitungsjahrgängen aufbewahrt hatte, die Kinoprogramme im Herbst neununddreißig. Zudem Geflüster in Beichtstühlen, Inschriften auf Grabsteinen, den Geruch der Ostsee und Bernsteinkrümel, die zwischen Brösen und Glettkau entlang dem Wellensaum zu finden waren. So kam alles zu Wort und blieb frisch, weil in Paris wie unter einer Käseglocke aufgehoben. So erschöpfte ich mich und war dennoch nicht leergelöffelt, schrieb zwar noch eigenhändig, war aber mittlerweile Werkzeug nur und hörig meinen Figuren, besonders der einen, die -weißnichtwarum - Oskar liieß. Überhaupt weiß ich wemg darüber zu sagen, wie etwas entstand und entsteht; es sei denn, ich müßte lügen... Und als ich im Oktober des gleichen Jahres von Paris über München in irgendein bayerisches oder schwäbisches Nest namens Großholzleute reiste, um dort vor der versammelten Gruppe 47 die Kapitel »Der weite Rock« und »Fortuna Nord« zu lesen, wurde dem Autor eines annähernd fertigen Romans der Preis der Gruppe zugesprochen. Viertausendfünfhundert Mark kamen zusammen, spontan von Verlegern gespendet: mein erstes großes Geld, das mir half, in Ruhe alles noch einmal in die Olivetti zu tippen, sozusagen ins reine. Außerdem trug uns das Preisgeld einen formschönen Plattenspieler der Firma Braun ein, genannt »Schneewittchensarg«, den ich in München nach erster Rundfunk- 478 lesung kaufte und nach Paris brachte, auf dem wir Stra-winskys »Frühlingsopfer« und Bartöks »Blaubart« hörten, immer wieder. Nun waren wir nicht mehr arm und konnten uns Kalbsleber und Schallplatten kaufen. In Paris tanzten Anna und ich offen und eng. In Paris waren wir glücklich und ahnten nicht, wie lange noch. In Paris kam de Gaulle an die Macht und lernte ich, die Knüppelgewalt der französischen Polizei zu fürchten. In Paris wurde ich zusehends politischer. In Paris setzten sich vor fließender Wand etliche Tuberkulome in meiner Lunge fest, die erst in Berlin auskuriert wurden. In Paris liefen mir die Zwillinge auf der Avenue d'Italie in ver-schiedene Richtung davon, so daß ich nicht wußte, wem zuerst hinterdrein. In Paris war Paul Celan nicht zu helfen. In Paris war bald kein Bleiben mehr. [/Und als dann im Herbst neunundfünfzig der Roman »Die Blechtrommel« in erster Auflage erschien, fuhren Anna und ich von Paris aus zur Frankfurter Buchmesse, wo wir bis in den Morgen hinein tanzten. Und als wir im Jahr drauf Paris hinter uns ließen und abermals, nun als Familie, in Berlin Wohnung in einer Halbruine nahmen, begann ich in der Karlsbader Straße, wo mir von fünf Zimmern eines zustand, sofort wieder zu zeichnen und zu schreiben, denn mit meiner Olivetti, dem Hochzeitsgeschenk, hatte ich schon von Paris aus neuen Anlauf genommen... ) So lebte ich fortan von Seite zu Seite und zwischen Buch und Buch. Dabei blieb ich inwendi^^eich an Figuren. Doch davon zu erzählen, fehlt es an Zmeßeln und Lust, j Sag schon, Paulchen, ob du... Geht in Ordnung, wenn sie bei dir, wo du doch von Beruf Fotograf bist und bestimmt... War wirklich okay, wenn du... Nix sag ich. Glaubt mir sowieso keiner. Wetten, daß er den Kasten in Sicherheit gebracht hat, vielleicht versteckt irgendwo in Brasilien... Stimmts, Paulchen? Wolltest bestimmt im Regenwald letzte Indianer mit Mariechens Box knipsen, und was an Bäumen noch übrig geblieben ist. Also, wo ist sie hin? Jadoch, verdammt, wo? Hört endlich auf. Paulchen wird schon wissen, warum er mit keinem Wort... Jeder hat Heimlichkeiten. Ich sag euch ja auch nicht alles. Keiner sagt alles. Und unser Väterchen schon gar nicht. Außerdem gabs keine Neuigkeiten mehr aus der Dunkelkammer zu erzählen, seitdem es kein Mariechen und keine Box mehr gab und danach alles langweilig wurde, nur noch normal lief. Weshalb jetzt Schluß sein sollte. Schluß ist! Für mich sowieso, weil ich nämlich und zwar sofort in die Klinik... Hab Nachtdienst wie gestern schon. Da hatten wir fünf Geburten, jede unkompliziert. Nur eine Mutter war deutscher Herkunft. Die vier anderen kamen von überall... Will übrigens Schnappschüsse von den fünf Babys machen. Wrill ich jetzt immer nach jeder Geburt... 210 Und zwar mit einer Box, die ich mir kürzlich auf dem Flohmarkt... War nicht mal billig, sieht aber aus wie die von eurer alten Marie. Steht sogar Agfa drauf. Die Mütter freuen sich bestimmt, wenn ich Knipsfotos von ihren Babys... Mach ich, weil sowas für die Erinnerung gut ist, aber auch als Hebamme, rein berufsmäßig, wie Lara sagen würde, und weil man so vielleicht sehen kann, was aus den Babys später, viel später mal... f^Los, Atze, stell ab, sonst gehts weiter und weiter, endlos so weiter... .. .weil unsrem Vater immer noch nejGeschichte... ... denn nur er, nie wir... Aber nichts hat er mehr zu sagen. Erwachsen blicken die Kinder streng. Sie weisen auf ihn mit Fingern. Das Wort wird dem Vater entzogen. Laut und mit Nachhall rufen die Töchter, die Söhne: »Das sind nur Märchen, Märchen...« - »Stimmt«, hält er leise dagegen, »doch sind es eure, die ich euch erzählen ließ.« Schnelle Blicke wechseln. Halbsätze zerkaut, verschluckt: beteuerte Liebe, aber auch Vorwürfe, die schon seit längerer Zeit vorrätig lagern. Schon soll nicht gelten, was auf Schnappschüssen gelebt wurde. Schon heißen die Kinder, wie sie richtig heißen. Schon schrumpft der Vater, will sich verflüchtigen. Schon regt sich flüsterod-Verdacht, er, nur er habe Mariechen beerbt und die Box - wie anderes auch - bei sich versteckt: für später, weil immer noch was in ihm tickt, das abgearbeitet werden muß, solang er noch da ist... / 211 r Die Gäste aber nahmen die Brettchen ernsthaft in Empfang. Manche tauschten sie um. Der eine liebte die Profilform des Schweines, der andere oder — wenn es sich um eine Dame handelte - die andere zog dem ordinären Hausschwein den geheimnisvolleren Fisch vor. Sie rochen an den Brettchen, schoben sie hin und her, und der Wirt Schmuh wartete, nachdem er auch die Gäste auf der Galerie bedient hatte, bis jedes Brettchen zur Ruhe gekommen war. Dann - und alle Herzen warteten auf ihn - dann zog er, einem Zauberer nicht unähnlich, das Deckchen fort: Ein zweites Deckchen deckte den Korb. Darauf aber lagen, mit dem ersten Blick nicht erkenntlich, die Küchenmesser. Wie zuvor mit den Brettchen ging Schmuh nun mit den Messern reihum. Doch machte er seine Runde schneller, steigerte jene Spannung, die ihm erlaubte, die Preise zu erhöhen, machte keine Komplimente mehr, ließ es nicht zum Umtausch der Küchenmesser kommen, eine gewisse wohldosierte Hast fuhr in seine Bewegungen, »Fertig, Achtung, los!« rief er, riß das Tuch vom Korb, griff hinein in den Korb, verteilte, teilte aus, streute unters Volk, war der milde Geber, versorgte seine Gäste, gab ihnen Zwiebeln, Zwiebeln, wie man sie goldgelb und leicht stilisiert auf seinem Shawl sah, Zwiebeln gewöhnlicher Art, Knollengewächse, keine Tulpenzwiebeln, Zwiebeln, wie sie die Hausfrau einkauft, Zwiebeln, wie sie die Gemüsefrau verkauft, Zwiebeln, wie sie der Bauer oder die Bäuerin oder die Magd pflanzt und erntet, Zwiebeln, wie sie, mehr oder weniger getreu abgemalt, auf den Stilleben holländischer Kleinmeister zu sehen sind, solche und ähnliche Zwiebeln verteilte der Wirt Schmuh unter seine Gäste, bis alle die Zwiebel hatten, bis man nur noch die Kanonenöfen bullern, die Karbidlampen singen hörte. So still wurde es nach der großen Zwiebelausteilung - und Ferdinand Schmuh rief »Bittschön, die Herrschaften!« warf das eine Ende seines Shawls über die linke Schulter, wie es Skiläufer vor der Abfahrt tun, und gab damit ein Signal. \ Man enthäutete die Zwiebeln. Sieben Häute sagt man der Zwiebel nach. Die Damen und Herren enthäuteten die Zwiebeln mit den Küchenmessern. Sie nahmen den Zwiebeln die erste, dritte, blonde, goldgelbe, rostbraune, oder besser: zwie-belfarbene Haut, häuteten, bis die Zwiebel gläsern, grün, weißlich, feucht, klebrig wäßrig wurde, roch, nach Zwiebel roch und dann schnitten sie, wie man Zwiebeln schneidet, schnitten geschickt oder ungeschickt auf Hackbrettchen, die die Profile von Schweinen und Fischen hatten, schnitten in diese und jene Richtung, daß der Saft spritzte oder sich der Luft über der Zwiebel mitteilte - es mußten die älteren Herren, die mit Küchenmessern nicht umgehen konnten, vorsichtig sein, daß sie sich nicht in die Finger schnitten; schnitten sich aber manche und merkten es nicht - dafür die Damen um so geschickter, nicht alle, aber doch jene Damen, die zu Hause die Hausfrau abgaben, die da wußten, wie man die Zwiebel schneidet, etwa für Bratkartoffeln oder für Leber mit Apfel und Zwiebelringen; doch in Schmuhs Zwiebelkeller gab es weder noch, nichts gab es da zu~essen, und wer was_essen... wollte, der mußte woanders hingehen, ins »Fischl« und nicht in den Zwiebelkeller, denn da wurden nur Zwiebeln geschnitten. Und warum das? Weil der Keller so hieß und was Besonderes war, weil die-Zwü^bel, die geschnittene Zwiebel, wenn man genauQnnschaut . J. nein, Schmuhs Gäste sahen nichts mehr oder emfgTe_s1ih'en nichts mehr, denen liefen „die Augen über, nicht weil die Herzen so voll waren; denn es ist gar nicht gesagtfdaß bei vollem Herzen sogleich auch das Auge überlaufen muß, manche schaffen das nie, besonders während der letzten oder verflossenen Jahrzehnte, deshalb wird unser Jahrhundert spätereinmal das tränenlose Jahrhundert genannt werden, obgleich sovieTXeid~ällenthalben - und genau aus diesem tränenlosen Grunde gingen Leute, die es sich leisten konnten, in Schmuhs Zwiebelkeller, ließen sich vom Wirt ein Hackbrettchen - Schwein oder Fisch -, ein Küchenmesser für achtzig Pfennige und eine ordinäre Feld-Garten-Küchenzwie- 648 t"- 649 r 1 Olli Ii bei für zwölf Mark servieren, schnitten die klein und kleiner, bis der Saft es schaffte, was schaffte? Schaffte, was die Welt und das Leid dieser Welt nicht schafften: die runde menschliche Träne. Da wurde geweint. Da wurde endlich wieder einmal geweint. Anständig geweint, hemmungslos geweint, frei weg geweint. Da floß es und schwemmte fort. DaJsamjlejJRegen. jDa_jifiL.der-Ta.u_, Schleusen fallen Oskar ein, die geöffnet werden. Dammbrüche bei Springflut. Wie heißt doch der Fluß, der jedes Jahr über die Ufer tritt, und die Regierung tut nichts dagegen ? Und nach dem Naturereignis für zwölf Mark achtzig spricht der Mensch, der sich ausgeweint hat. Zögernd noch, erstaunt über die eigene nackte Sprache, überließen sich die Gäste des Zwiebelkellers nach dem Genuß der Zwiebeln ihren Nachbarn auf den unbequemen, rupfenbespannten Kisten, ließen sich ausfragen, wenden, wie man Mäntel wendet. Oskar jedoch, der mit Klepp und Scholle tränenlos unter der quasi Hühnerleiter saß, will diskret bleiben, will aus all den Offenbarungen, Selbstanklagen, Beichten, Enthüllungen, Geständnissen nur die Geschichte des Fräulein Pioch erzählen, die ihren Herrn Vollmer immer wieder verlor, deshalb ein steinern Herz und tränenlos Aug' bekam und immer wieder Schmuhs teuren Zwiebelkeller aufsuchen mußte. .< Wir begegneten einander, sagte Fräulein Pioch, nachdem sie geweint hatte, in der Straßenbahn. Ich kam aus dem Geschäft -sie besitzt und leitet eine vorzügliche Buchhandlung -, der Wagen war vollbesetzt und Willy - das ist der Herr Vollmer -trat mir heftig auf den rechten Fuß. Ich konnte nicht mehr stehen, und wir liebten uns beide auf den ersten Blick. Da ich auch nicht mehr gehen konnte, bot er mir seinen Arm an, begleitete oder besser, trug mich nach Hause und pflegte von jenem Tage an liebevoll jenen Fußnagel, der sich unter seinem Tritt blauschwarz verfärbt hatte. Aber auch sonst ließ er es mir gegenüber nicht an Liebe fehlen, bis der Nagel sich vom rechten großen Zeh löste und dem Wachstum eines neuen Zehnagels nichts mehr im Wege stand. Von jenem Tage an, da der taube Zehnagel abfiel, erkaltete auch seine Liebe. Wir litten beide unter dem Schwund. Da machte Willy, weil er immer noch an mir hing, auch weil wir beide soviel Gemeinsames hatten, jenen schrecklichen Vorschlag: Laß mich deinen linken großen Zeh treten, bis dessen Nagel rotblau, dann blauschwarz wird. Ich gab nach, und er tat es. Sofort war ich wieder im vollen Genuß seiner Liebe, durfte die genießen, bis auch der linke Nagel des linken großen Zehs wie ein welkes Blatt abfiel; und abermals erlebte unsere Liebe den Herbst. Jetzt wollte Willy meinen rechten großen Zeh, dessen Nagel inzwischen nachgewachsen war, treten, um mir wieder in Liebe dienen zu dürfen. Doch ich erlaubte es ihm nicht. Sagte, wenn deine Liebe wirklich groß und echt ist, muß sie auch einen Zehnagel überdauern können. Er verstand mich nicht und verließ mich. Nach Monaten begegneten wir einander im Konzertsaal. Nach der Pause setzte er sich ungefragt neben mich, da neben mir noch ein Platz frei war. Als der Chor während der neunten Symphonie zu singen anhob, schob ich ihm meinen rechten Fuß hin, von dem ich zuvor den Schuh abgestreift hatte. Er trat zu, und ich störte dennoch nicht das Konzert. Nach sieben Wochen verließ mich Willy abermals. Noch zweimal durften wir uns wenige Wochen lang haben, da ich noch zweimal, einmal den linken, dann den rechten großen Zeh hinhielt. Heute sind beide Zehen verkrüppelt. Die Nägel wollen nicht mehr nachwachsen. Dann und wann besucht mich Willy, sitzt vor mir auf dem Teppich, starrt erschüttert, voller Mitleid mit mir und mit sich selbst, doch ohne Liebe tränenlos auf die beiden nagellosen Opfer unserer Liebe. Manchmal sage ich zu ihm: Komm, Willy, wir gehen zu Schmuh in den Zwiebelkeller, weinen wir uns mal richtig aus. Aber bis jetzt hat er nie mitkommen wollen. Der Arme weiß also nichts von der großen Trösterin Träne. Später - und Oskar verrät das nur, um die Neugierigen unter Ihnen zu befriedigen — kam auch Herr Vollmer, ein Radiohändler übrigens, zu uns in den Keller. Sie weinten gemeinsam 6fo 2 6s i ■ ben war, zum Schluß die letzten aus den Davits gesprungenen Rettungsboote. »Zufrieden jetzt,_Vad?« Danach kein Wort mehr. Sein Blick suchte das vergitterte Fenster, blieb daran hängen. Ich habe weißnichtmehrwas gequasselt. Irgendwas Positives. »Man soll nie aufgeben« oder »Laß uns noch einmal gemeinsam von vorne anfangen« oder irgendeinen Stuß, amerikanischen Filmen nachgeplappert: »Ich bin stolz auf dich.« Auch als ich ging, hatte mein Sohn kein Wort übrig. I Wenige Tage später, nein tags darauf hat mir jemand -er, in dessen Namen ich krebsend vorankam - dringlich geraten, online zu gehen. Er sägtei" vteHeichTfinde sich per Mausklick ein passendes Schlußwort. Bis dahin hatte ich enthaltsam gelebt: nur was der Beruf forderte, ab und zu ein Porno, mehr nicht. Seitdem Ronny saß, herrschte ja Funkstille. Auch gab es keinen David mehr. Mußte lange surfen. Hatte zwar oft den Namen des verfluchten Schiffes im Window, aber rüchts Neues oder abschließend Endgültiges. Doch dann kam es dicker als befürchtet. Unter besonderer Adresse stellte sich in deutscher und englischer Sprache eine Website vor, die als »www.kanieradschaft-konrad-poixiefke.de« für jemanden warb, dessen Haltung und Gedankengut vorbildlich seien, den deshalb das verhaßte System eingekerkert habe. »Wir glauben an Dich, wir warten auf Dich, wir folgen Dir...« Undsoweiter undsoweiter. Das hört nicht auf. Nie_hört das auf. • 3 Also brachte ich von meiner Polenreise einen \forrat an Fundsachen nach Paris mit: aufschäumendes Brausepulver, Karfreitagslärm und Teppichklopfstangen, den Fluchtweg des Geldbriefträgers, der den Kampf um die Polnische Post überlebt hatte, Schulwege hin und zurück, was die städtische Bibliothek an Zeitungsjahrgängen aufbewahrt hatte, die Kinoprogramme im Herbst neununddreißig. Zudem Geflüster in Beichtstühlen, Inschriften auf Grabsteinen, den Geruch der Ostsee und Bernsteinkrümel, die zwischen Brösen und Glettkau entlang dem Wellensaum zu finden waren. So kam alles zu Wort und blieb frisch, weil in Paris wie unter einer Käseglocke aufgehoben. So erschöpfte ich mich und war dennoch nicht leergelöffelt, schrieb zwar noch eigenhändig, war aber mittlerweile Werkzeug nur und hörig meinen Figuren, besonders der einen, die -weißnichtwarum - Oskar hieß. Überhaupt weiß ich wemg darüber zu sagen, wie etwas entstand und entsteht; es sei denn, ich müßte lügen... Und als ich im Oktober des gleichen Jahres von Paris über München in irgendein bayerisches oder schwäbisches Nest namens Großholzleute reiste, um dort vor der versammelten Gruppe 47 die Kapitel »Der weite Rock« und »Fortuna Nord« zu lesen, wurde dem Autor eines annähernd fertigen Romans der Preis der Gruppe zugesprochen. Viertausendfünfhundert Mark kamen zusammen, spontan von Verlegern gespendet: mein erstes großes Geld, das mir half, in Ruhe alles noch einmal in die Olivetti zu tippen, sozusagen ins reine. Außerdem trug uns das Preisgeld einen formschönen Plattenspieler der Firma Braun ein, genannt »Schneewittchensarg«, den ich in München nach erster Rundfunk- 478 lesung kaufte und nach Paris brachte, auf dem wir Stra-winskys »Frühlingsopfer« und Bartöks »Blaubart« hörten, immer wieder. Nun waren wir nicht mehr arm und konnten uns Kalbsleber und Schallplatten kaufen. In Paris tanzten Anna und ich offen und eng. In Paris waren wir glücklich und ahnten nicht, wie lange noch. In Paris kam de Gaulle an die Macht und lernte ich, die Knüppelgewalt der französischen Polizei zu fürchten. In Paris wurde ich zusehends politischer. In Paris setzten sich vor fließender Wand etliche Tuberkulome in meiner Lunge fest, die erst in Berlin auskuriert wurden. In Paris liefen mir die Zwillinge auf der Avenue d'Italie in ver- ! schiedene Richtung davon, so daß ich nicht wußte, wem zuerst hinterdrein. In Paris war Paul Celan nicht zu helfen. In Paris war bald kein Bleiben mehr. [/Und als dann im Herbst neunundfünfzig der Roman »Die Blechtrommel« in erster Auflage erschien, fuhren Anna und ich von Paris aus zur Frankfurter Buchmesse, wo wir bis in den Morgen hinein tanzten. Und als wir im Jahr drauf Paris hinter uns ließen und abermals, nun als Familie, in Berlin Wohnung in einer Halbfuine nahmen, begann ich in der Karlsbader Straße, wo rnir von fünf Zimmern eines zustand, sofort wieder zu zeichnen und zu schreiben, denn mit meiner Olivetti, dem Hochzeitsgeschenk, hatte ich schon von Paris aus neuen Anlauf genommen... I So lebte ich fortan von Seite zu Seite und zwischen Buch und Buch. Dabei blieb ich inwendi^reic^ an Figuren. Doch davon zu erzählen, fehlt es an Zwietieln und Lust. | ■ b^rit&Lf 479 Die Gäste aber nahmen die Brettchen ernsthaft in Empfang. Manche tauschten sie um. Der eine liebte die Profilform des Schweines, der andere oder - wenn es sich um eine Dame handelte - die andere zog dem ordinären Hausschwein den geheimnisvolleren Fisch vor. Sie rochen an den Brettchen, schoben sie hin und her, und der Wirt Schmuh wartete, nachdem er auch die Gäste auf der Galerie bedient hatte, bis jedes Brettchen zur Ruhe gekommen war. Dann - und alle Herzen warteten auf ihn - dann zog er, einem Zauberer nicht unähnlich, das Deckchen fort: Ein zweites Deckchen deckte den Korb. Darauf aber lagen, mit dem ersten Blick nicht erkenntlich, die Küchenmesser. Wie zuvor mit den Brettchen ging Schmuh nun mit den Messern reihum. Doch machte er seine Runde schneller, steigerte jene Spannung, die ihm erlaubte, die Preise zu erhöhen, machte keine Komplimente mehr, ließ es nicht zum Umtausch der Küchenmesser kommen, eine gewisse wohldosierte Hast fuhr in seine Bewegungen, »Fertig, Achtung, los!« rief er, riß das Tuch vom Korb, griff hinein in den Korb, verteilte, teilte aus, streute unters Volk, war der milde Geber, versorgte seine Gäste, gab ihnen Zwiebeln, Zwiebeln, wie man sie goldgelb und leicht stilisiert auf seinem Shawl sah, Zwiebeln gewöhnlicher Art, Knollengewächse, keine Tulpenzwiebeln, Zwiebeln, wie sie die Hausfrau einkauft, Zwiebeln, wie sie die Gemüsefrau verkauft, Zwiebeln, wie sie der Bauer oder die Bäuerin oder die Magd pflanzt und erntet, Zwiebeln, wie sie, mehr oder weniger getreu abgemalt, auf den Stilleben holländischer Kleinmeister zu sehen sind, solche und ähnliche Zwiebeln verteilte der Wirt Schmuh unter seine Gäste, bis alle die Zwiebel hatten, bis man nur noch die Kanonenöfen bullern, die Karbidlampen singen hörte. So still wurde es nach der großen Zwiebelausteilung — und Ferdinand Schmuh rief »Bitt-schön, die Herrschaften!« warf das eine Ende seines Shawls über die linke Schulter, wie es Skiläufer vor der Abfahrt tun, und gab damit ein Signal. \ Man enthäutete die Zwiebeln. Sieben Häute sagt man der Zwiebel nach. Die Damen und Herren enthäuteten die Zwiebeln mit den Küchenmessern. Sie nahmen den Zwiebeln die erste, dritte, blonde, goldgelbe, rostbraune, oder besser: zwie-belfarbene Haut, häuteten, bis die Zwiebel gläsern, grün, weißlich, feucht, klebrig wäßrig wurde, roch, nach Zwiebel roch und dann schnitten sie, wie man Zwiebeln schneidet, schnitten geschickt oder ungeschickt auf Hackbrettchen, die die Profile von Schweinen und Fischen hatten, schnitten in diese und jene Richtung, daß der Saft spritzte oder sich der Luft über der Zwiebel mitteilte - es mußten die älteren Herren, die mit Küchenmessern nicht umgehen konnten, vorsichtig sein, daß sie sich nicht in die Finger schnitten; schnitten sich aber manche und merkten es nicht - dafür die Damen um so geschickter, nicht alle, aber doch jene Damen, die zu Hause die Hausfrau abgaben, die da wußten, wie man die Zwiebel schneidet, etwa für Bratkartoffeln oder für Leber mit Apfel und Zwiebelringen; doch in Schmuhs Zwiebelkeller gab es weder noch, nichts gab es da zu~essen, und wer was essen... wollte, der mußte woanders hingehen, ins »Fischl« und nicht in den Zwiebelkeller, denn da wurden nur Zwiebeln geschnitten. Und warum das? Weil der Keller so hieß und was Besonderes war, weil die-Zwqebel, die geschnittene Zwiebel, wenn man genauQiinschaut .J. nein, Schmuhs Gäste sahen nichts mehr oder^eohlgTTsalien nichts mehr, denen liefen .die Augen über, nicht weil die Herzen so voll waren; denn es ist gar nicht gesagt7daß bei vollem Herzen sogleich auch das Auge überlaufen muß, manche schaffen das nie, besonders während der letzten oder verflossenen Jahrzehnte, deshalb wird unser Jahrhundert spätereinmal das tränenlose Jahrhundert genannt werden, obgleich sovieTTei3~äHenthaIben - und genau aus diesem tränenlosen Grunde gingen Leute, die es sich leisten konnten, in Schmuhs Zwiebelkeller, ließen sich vom Wirt ein Hackbrettchen - Schwein oder Fisch -, ein Küchenmesser für achtzig Pfennige und eine ordinäre Feld-Garten-Küchenzwie- Hf 649 r 1 Vv1'- Lei Olli bei für zwölf Mark servieren, schnitten die klein und kleiner, bis der Saft es schaffte, was schaffte? Schaffte, was die Welt und das Leid dieser Welt nicht schafften: die runde menschliche Träne. Da wurde geweint. Da wurde endlich wieder einmal geweint. Anständig geweint, hemmungslos geweint, frei weg geweint. Da floß es und schwemmte fort. Da kam der Regen. Pji__fifiL.der-Ta.u_, Schleusen fallen Oskar ein, die geöffnet werden. Dammbrüche bei Springflut. Wie heißt doch der Fluß, der jedes Jahr über die Ufer tritt, und die Regierung tut nichts dagegen? Und nach dem Naturereignis für zwölf Mark achtzig spricht der Mensch, der sich ausgeweint hat. Zögernd noch, erstaunt über die eigene nackte Sprache, überließen sich die Gäste des Zwiebelkeliers nach dem Genuß der Zwiebeln ihren Nachbarn auf den unbequemen, rupfenbespannten Kisten, ließen sich ausfragen, wenden, wie man Mäntel wendet. Oskar jedoch, der mit Klepp und Scholle tränenlos unter der quasi Hühnerleiter saß, will diskret bleiben, will aus all den Offenbarungen, Selbstanklagen, Beichten, Enthüllungen, Geständnissen nur die Geschichte des Fräulein Pioch erzählen, die ihren Herrn Vollmer immer wieder verlor, deshalb ein steinern Herz und tränenlos Aug' bekam und immer wieder Schmuhs teuren Zwiebelkeller aufsuchen mußte. / Wir begegneten einander, sagte Fräulein Pioch, nachdem sie geweint hatte, in der Straßenbahn. Ich kam aus dem Geschäft -sie besitzt und leitet eine vorzügliche Buchhandlung -, der Wagen war vollbesetzt und Willy — das ist der Herr Vollmer — trat mir heftig auf den rechten Fuß. Ich konnte nicht mehr stehen, und wir liebten uns beide auf den ersten Blick. Da ich auch nicht mehr gehen konnte, bot er mir seinen Arm an, begleitete oder besser, trug mich nach Hause und pflegte von jenem Tage an liebevoll jenen Fußnagel, der sich unter seinem Tritt blauschwarz verfärbt hatte. Aber auch sonst ließ er es mir gegenüber nicht an Liebe fehlen, bis der Nagel sich vom rechten großen Zeh löste und dem Wachstum eines neuen Zehnagels nichts mehr im Wege stand. Von jenem Tage an, da der taube Zehnagel abfiel, erkaltete auch seine Liebe. Wir litten beide unter dem Schwund. Da machte Willy, weil er immer noch an mir hing, auch weil wir beide soviel Gemeinsames hatten, jenen schrecklichen Vorschlag: Laß mich deinen linken großen Zeh treten, bis dessen Nagel rotblau, dann blauschwarz wird. Ich gab nach, und er tat es. Sofort war ich wieder im vollen Genuß seiner Liebe, durfte die genießen, bis auch der linke Nagel des linken großen Zehs wie ein welkes Blatt abfiel; und abermals erlebte unsere Liebe den Herbst. Jetzt wollte Willy meinen rechten großen Zeh, dessen Nagel inzwischen nachgewachsen war, treten, um mir wieder in Liebe dienen zu dürfen. Doch ich erlaubte es ihm nicht. Sagte, wenn deine Liebe wirklich groß und echt ist, muß sie auch einen Zehnagel überdauern können. Er verstand mich nicht und verließ mich. Nach Monaten begegneten wir einander im Konzertsaal. Nach der Pause setzte er sich ungefragt neben mich, da neben mir noch ein Platz frei war. Als der Chor während der neunten Symphonie zu singen anhob, schob ich ihm meinen rechten Fuß hin, von dem ich zuvor den Schuh abgestreift hatte. Er trat zu, und ich störte dennoch nicht das Konzert. Nach sieben Wochen verließ mich Willy abermals. Noch zweimal durften wir uns wenige Wochen lang haben, da ich noch zweimal, einmal den linken, dann den rechten großen Zeh hinhielt. Heute sind beide Zehen verkrüppelt. Die Nägel wollen nicht mehr nachwachsen. Dann und wann besucht mich Willy, sitzt vor mir auf dem Teppich, starrt erschüttert, voller Mitleid mit mir und mit sich selbst, doch ohne Liebe tränenlos auf die beiden nagellosen Opfer unserer Liebe. Manchmal sage ich zu ihm: Komm, Willy, wir gehen zu Schmuh in den Zwiebelkeller, weinen wir uns mal richtig aus. Aber bis jetzt hat er nie mitkommen wollen. Der Arme weiß also nichts von der großen Trösterin Träne. Später - und Oskar verrät das nur, um die Neugierigen unter Ihnen zu befriedigen - kam auch Herr Vollmer, ein Radiohändler übrigens, zu uns in den Keller. Sie weinten gemeinsam 6fo 2 65i ■ ben war, zum Schluß die letzten aus den Davits gesprungenen Rettungsboote. »Zrdxieden jetzta_Vaji?«_ Danach kein Wort mehr. Sein Blick suchte das vergitterte Fenster, blieb daran hängen. Ich habe weißnichtmehrwas gequasselt. Irgendwas Positives. »Man soll nie aufgeben« oder »Laß uns noch einmal gemeinsam von vorne anfangen« oder irgendeinen Stuß, amerikanischen Filmen nachgeplappert: »Ich bin stolz auf dich.« Auch als ich ging, hatte mein Sohn kein Wort übrig. I Wenige Tage später, nein tags darauf hat mir jemand -er, in dessen Namen ich krebsend vorankam - dringlich geraten, online zu gehen. Er sägte,'vieHeicHf finde sich per Mausklick ein passendes Schlußwort. Bis dahin hatte ich enthaltsam gelebt: nur was der Beruf forderte, ab und zu ein Porno, mehr nicht. Seitdem Ronny saß, herrschte ja Funkstille. Auch gab es keinen David mehr. Mußte lange surfen. Hatte zwar oft den Namen des verfluchten Schiffes im Window, aber nichts Neues oder abschließend Endgültiges. Doch dann kam es dicker als befürchtet. Unter besonderer Adresse stellte sich in deutscher und englischer Sprache eine Website vor, die als »www.kanieradschaft-konrad-polucie.fke.de« für jemanden warb, dessen Haltung und Gedankengut vorbildlich seien, den deshalb das verhaßte System eingekerkert habe. »Wir glauben an Dich, wir warten auf Dich, wir folgen Dir...« Undsoweitef undsoweitef. Das hört nicht auf. Nie hört das auf. [ .,-4 216 Die Gäste aber nahmen die Brettchen ernsthaft in Empfang. Manche tauschten sie um. Der eine liebte die Profilform des Schweines, der andere oder - wenn es sich um eine Dame handelte - die andere zog dem ordinären Hausschwein den geheimnisvolleren Fisch vor. Sie rochen an den Brettchen, schoben sie hin und her, und der Wirt Schmuh wartete, nachdem er auch die Gäste auf der Galerie bedient hatte, bis jedes Brettchen zur Ruhe gekommen war. Dann - und alle Herzen warteten auf ihn - dann zog er, einem Zauberer nicht unähnlich, das Deckchen fort: Ein zweites Deckchen deckte den Korb. Darauf aber lagen, mit dem ersten Blick nicht erkenntlich, die Küchenmesser. Wie zuvor mit den Brettchen ging Schmuh nun mit den Messern reihum. Doch machte er seine Runde schneller, steigerte jene Spannung, die ihm erlaubte, die Preise zu erhöhen, machte keine Komplimente mehr, ließ es nicht zum Umtausch der Küchenmesser kommen, eine gewisse wohldosierte Hast fuhr in seine Bewegungen, »Fertig, Achtung, los!« rief er, riß das Tuch vom Korb, griff hinein in den Korb, verteilte, teilte aus, streute unters Volk, war der milde Geber, versorgte seine Gäste, gab ihnen Zwiebeln, Zwiebeln, wie man sie goldgelb und leicht stilisiert auf seinem Shawl sah, Zwiebeln gewöhnlicher Art, Knollengewächse, keine Tulpenzwiebeln, Zwiebeln, wie sie die Hausfrau einkauft, Zwiebeln, wie sie die Gemüsefrau verkauft, Zwiebeln, wie sie der Bauer oder die Bäuerin oder die Magd pflanzt und erntet, Zwiebeln, wie sie, mehr oder weniger getreu abgemalt, auf den Stilleben holländischer Kleinmeister zu sehen sind, solche und ähnliche Zwiebeln verteilte der Wirt Schmuh unter seine Gäste, bis alle die Zwiebel hatten, bis man nur noch die Kanonenöfen bullern, die Karbidlampen singen hörte. So still wurde es nach der großen Zwiebelausteilung - und Ferdinand Schmuh rief »Bittschön, die Herrschaften!« warf das eine Ende seines Shawls über die linke Schulter, wie es Skiläufer vor der Abfahrt tun, und gab damit ein Signal. \ Man enthäutete die Zwiebeln. Sieben Häute sagt man der Zwiebel nach. Die Damen und Herren enthäuteten die Zwiebeln mit den Küchenmessern. Sie nahmen den Zwiebeln die erste, dritte, blonde, goldgelbe, rostbraune, oder besser: zwie-belfarbene Haut, häuteten, bis die Zwiebel gläsern, grün, weißlich, feucht, klebrig wäßrig wurde, roch, nach Zwiebel roch und dann schnitten sie, wie man Zwiebeln schneidet, schnitten geschickt oder ungeschickt auf Hackbrettchen, die die Profile von Schweinen und Fischen hatten, schnitten in diese und jene Richtung, daß der Saft spritzte oder sich der Luft über der Zwiebel mitteilte - es mußten die älteren Herren, die mit Küchenmessern nicht umgehen konnten, vorsichtig sein, daß sie sich nicht in die Finger schnitten; schnitten sich aber manche und merkten es nicht - dafür die Damen um so geschickter, nicht alle, aber doch jene Damen, die zu Hause die Hausfrau abgaben, die da wußten, wie man die Zwiebel schneidet, etwa für Bratkartoffeln oder für Leber mit Apfel und Zwiebelringen; doch in Schmuhs Zwiebelkeller gab es weder noch, nichts gab es da zu~essen, und wer was_esseri... wollte, der mußte woanders hingehen, ins »Fischl« und nicht in den Zwiebelkeller, denn da wurden nur Zwiebeln geschnitten. Und warum das? Weil der Keller so hieß und was Besonderes war, weil die-Zwiebel, die geschnittene Zwiebel, wenn man genaüihinschaut .J. nein, Schmuhs Gäste sahen nichts mehr oder einige"^nen nichts mehr, denen liefen die Augen über, nicht weil die Herzen so voll waren; denn es ist gar nicht gesagtr3aß bei vollem Herzen sogleich auch das Auge überlaufen muß, manche schaffen das nie, besonders während der letzten oder verflossenen Jahrzehnte, deshalb wird unser Jahrhundert spätereinmal das tränenlose Jahrhundert genannt werden, obgleich sovieT"L"eid~allenthalben - und genau aus diesem tränenlosen Grunde gingen Leute, die es sich leisten konnten, in Schmuhs Zwiebelkeller, ließen sich vom Wirt ein Hackbrettchen - Schwein oder Fisch -, ein Küchenmesser für achtzig Pfennige und eine ordinäre Feld-Garten-Küchenzwie- HS 4t* 648 649 Iii Gill Ii CLX bei für zwölf Mark servieren, schnitten die klein und kleiner, bis der Saft es schaffte, was schaffte? Schaffte, was die Welt und das Leid dieser Welt nicht schafften: die runde menschliche Träne. Da wurde geweint. Da wurde endlich wieder einmal geweint. Anständig geweint, hemmungslos geweint, frei weg geweint. Da floß es und schwemmte fort. Da kam der Regen. D_a__fjfiL.der-la.u_,Schleusen fallen Oskar ein, die geöffnet werden. Dammbrüche bei Springflut. Wie heißt doch der Fluß, der jedes Jahr über die Ufer tritt, und die Regierung tut nichts dagegen ? Und nach dem Naturereignis für zwölf Mark achtzig spricht der Mensch, der sich ausgeweint hat. Zögernd noch, erstaunt über die eigene nackte Sprache, überließen sich die Gäste des Zwiebelkellers nach dem Genuß der Zwiebeln ihren Nachbarn auf den unbequemen, rupfenbespannten Kisten, ließen sich ausfragen, wenden, wie man Mäntel wendet. Oskar jedoch, der mit Klepp und Scholle tränenlos unter der quasi Hühnerleiter saß, will diskret bleiben, will aus all den Offenbarungen, Selbstanklagen, Beichten, Enthüllungen, Geständnissen nur die Geschichte des Fräulein Pioch erzählen, die ihren Herrn Vollmer immer wieder verlor, deshalb ein steinern Herz und tränenlos Aug' bekam und immer wieder Schmuhs teuren Zwiebelkeller aufsuchen mußte. .< Wir begegneten einander, sagte Fräulein Pioch, nachdem sie geweint hatte, in der Straßenbahn. Ich kam aus dem Geschäft -sie besitzt und leitet eine vorzügliche Buchhandlung -, der Wagen war vollbesetzt und Willy - das ist der Herr Vollmer -trat mir heftig auf den rechten Fuß. Ich konnte nicht mehr stehen, und wir liebten uns beide auf den ersten Blick. Da ich auch nicht mehr gehen konnte, bot er mir seinen Arm an, begleitete oder besser, trug mich nach Hause und pflegte von jenem Tage an liebevoll jenen Fußnagel, der sich unter seinem Tritt blauschwarz verfärbt hatte. Aber auch sonst ließ er es mir gegenüber nicht an Liebe fehlen, bis der Nagel sich vom rechten großen Zeh löste und dem Wachstum eines neuen Zehnagels nichts mehr im Wege stand. Von jenem Tage an, da der taube Zehnagel abfiel, erkaltete auch seine Liebe. Wir litten beide unter dem Schwund. Da machte Willy, weil er immer noch an mir hing, auch weil wir beide soviel Gemeinsames hatten, jenen schrecklichen Vorschlag: Laß mich deinen linken großen Zeh treten, bis dessen Nagel rotblau, dann blauschwarz wird. Ich gab nach, und er tat es. Sofort war ich wieder im vollen Genuß seiner Liebe, durfte die genießen, bis auch der linke Nagel des linken großen Zehs wie ein welkes Blatt abfiel; und abermals erlebte unsere Liebe den Herbst. Jetzt wollte Willy meinen rechten großen Zeh, dessen Nagel inzwischen nachgewachsen war, treten, um mir wieder in Liebe dienen zu dürfen. Doch ich erlaubte es ihm nicht. Sagte, wenn deine Liebe wirklich groß und echt ist, muß sie auch einen Zehnagel überdauern können. Er verstand mich nicht und verließ mich. Nach Monaten begegneten wir einander im Konzertsaal. Nach der Pause setzte er sich ungefragt neben mich, da neben mir noch ein Platz frei war. Als der Chor während der neunten Symphonie zu singen anhob, schob ich ihm meinen rechten Fuß hin, von dem ich zuvor den Schuh abgestreift hatte. Er trat zu, und ich störte dennoch nicht das Konzert. Nach sieben Wochen verließ mich Willy abermals. Noch zweimal durften wir uns wenige Wochen lang haben, da ich noch zweimal, einmal den linken, dann den rechten großen Zeh hinhielt. Heute sind beide Zehen verkrüppelt. Die Nägel wollen nicht mehr nachwachsen. Dann und wann besucht mich Willy, sitzt vor mir auf dem Teppich, starrt erschüttert, voller Mitleid mit mir und mit sich selbst, doch ohne Liebe tränenlos auf die beiden nagellosen Opfer unserer Liebe. Manchmal sage ich zu ihm: Komm, Willy, wir gehen zu Schmuh in den Zwiebelkeller, weinen wir uns mal richtig aus. Aber bis jetzt hat er nie mitkommen wollen. Der Arme weiß also nichts von der großen Trösterin Träne. Später - und Oskar verrät das nur, um die Neugierigen unter Ihnen zu befriedigen - kam auch Herr Vollmer, ein Radiohändler übrigens, zu uns in den Keller. Sie weinten gemeinsam 6fo 65i 1 Die Gäste aber nahmen die Brettchen ernsthaft in Empfang. Manche tauschten sie um. Der eine liebte die Profilform des Schweines, der andere oder — wenn es sich um eine Dame handelte - die andere zog dem ordinären Hausschwein den geheimnisvolleren Fisch vor. Sie rochen an den Brettchen, schoben sie hin und her, und der Wirt Schmuh wartete, nachdem er auch die Gäste auf der Galerie bedient hatte, bis jedes Brettchen zur Ruhe gekommen war. Dann - und alle Herzen warteten auf ihn - dann zog er, einem Zauberer nicht unähnlich, das Deckchen fort: Ein zweites Deckchen deckte den Korb. Darauf aber lagen, mit dem ersten Blick nicht erkenntlich, die Küchenmesser. Wie zuvor mit den Brettchen ging Schmuh nun mit den Messern reihum. Doch machte er seine Runde schneller, steigerte jene Spannung, die ihm erlaubte, die Preise zu erhöhen, machte keine Komplimente mehr, ließ es nicht zum Umtausch der Küchenmesser kommen, eine gewisse wohldosierte Hast fuhr in seine Bewegungen, »Fertig, Achtung, los!« rief er, riß das Tuch vom Korb, griff hinein in den Korb, verteilte, teilte aus, streute unters Volk, war der milde Geber, versorgte seine Gäste, gab ihnen Zwiebeln, Zwiebeln, wie man sie goldgelb und leicht stilisiert auf seinem Shawl sah, Zwiebeln gewöhnlicher Art, Knollengewächse, keine Tulpenzwiebeln, Zwiebeln, wie sie die Hausfrau einkauft, Zwiebeln, wie sie die Gemüsefrau verkauft, Zwiebeln, wie sie der Bauer oder die Bäuerin oder die Magd pflanzt und erntet, Zwiebeln, wie sie, mehr oder weniger getreu abgemalt, auf den Stilleben holländischer Kleinmeister zu sehen sind, solche und ähnliche Zwiebeln verteilte der Wirt Schmuh unter seine Gäste, bis alle die Zwiebel hatten, bis man nur noch die Kanonenöfen bullern, die Karbidlampen singen hörte. So still wurde es nach der großen Zwiebelausteilung - und Ferdinand Schmuh rief »Bittschön, die Herrschaften!« warf das eine Ende seines Shawls über die linke Schulter, wie es Skiläufer vor der Abfahrt tun, und gab damit ein Signal. \ Man enthäutete die Zwiebeln. Sieben Häute sagt man der Zwiebel nach. Die Damen und Herren enthäuteten die Zwiebeln mit den Küchenmessern. Sie nahmen den Zwiebeln die erste, dritte, blonde, goldgelbe, rostbraune, oder besser: zwie-belfarbene Haut, häuteten, bis die Zwiebel gläsern, grün, weißlich, feucht, klebrig wäßrig wurde, roch, nach Zwiebel roch und dann schnitten sie, wie man Zwiebeln schneidet, schnitten geschickt oder ungeschickt auf Hackbrettchen, die die Profile von Schweinen und Fischen hatten, schnitten in diese und jene Richtung, daß der Saft spritzte oder sich der Luft über der Zwiebel mitteilte - es mußten die älteren Herren, die mit Küchenmessern nicht umgehen konnten, vorsichtig sein, daß sie sich nicht in die Finger schnitten; schnitten sich aber manche und merkten es nicht - dafür die Damen um so geschickter, nicht alle, aber doch jene Damen, die zu Hause die Hausfrau abgaben, die da wußten, wie man die Zwiebel schneidet, etwa für Bratkartoffeln oder für Leber mit Apfel und Zwiebelringen; doch in Schmuhs Zwiebelkeller gab es weder noch, nichts gab es da zu~essen, und wer was_essen_., wollte, der mußte woanders hingehen, ins »Fischl« und nicht in den Zwiebelkeller, denn da wurden nur Zwiebeln geschnitten. Und warum das? Weil der Keller so hieß und was Besonderes war, weil d*e-&mebel, die geschnittene Zwiebel, wenn man genauQiinschaut .J. nein, Schmuhs Gäste sahen nichts mehr oder^eifn^e^sarien nichts mehr, denen liefen .dje Augen über, nicht weil die Herzen so voll waren; denn es ist gar nicht gesagtTdaß bei vollem Herzen sogleich auch das Auge überlaufen muß, manche schaffen das nie, besonders während der letzten oder verflossenen Jahrzehnte, deshalb wird unser Jahrhundert spätereinmal das tränenlose Jahrhundert genannt werden, obgleich sovieTTeid"ällenthaIben - und genau aus diesem tränenlosen Grunde gingen Leute, die es sich leisten konnten, in Schmuhs Zwiebelkeller, ließen sich vom Wirt ein Hackbrettchen - Schwein oder Fisch -, ein Küchenmesser für achtzig Pfennige und eine ordinäre Feld-Garten-Küchenzwie- ■ú 1 648 1 649