Abb. 1: KlagL 4/3, fol. 18, mit Zuschreibung der Komposition an Pierre de la Rue, reproduziert aus der 3-bändigen Ausgabe von Manfred Novak (Hg.): The Organ Tablature from Klagenfurt, ms. GV 4/3. Transcription, Commentary & Facsimile, 3 Bde, Zabrze 2009, Bd. 1: Commentary & Facsimile, S. 139. © Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck download unter www.biologiezentrum.at 79 1 Das früheste Beispiel der Notationsform der „Neueren deutschen Tabulatur“ sind die Tabulatur-Fragmente aus der Hand Albrecht Dürers von ca. 1520 (vgl. Schmid, Manfred Hermann: Dürer und die Musik, in: Die Musikforschung 46, 1993, S. 131–156, sowie auch Massing, Jean Michel/ Meyer, Christian: Autour de quelques essais musicaux inédits de Dürer, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 45, 1982, S. 248–255. Den Hinweis auf die Dürer-Fragmente verdanke ich einer freundlichen Mitteilung Klaus Beckmanns). Ungefähr zeitgleich mit der Klagenfurter Orgeltabulatur ist ein auf das Jahr 1554 datierter Brief, der eine Intavolierung einer anonymen Motette enthält, überliefert (vgl. Johnson, Cleveland: Vocal Compositions in German Organ Tablatures 1550–1650. A Catalogue and Commentary, 2 Bde, New York–London 1989, Teil I, Commentary, S. 114.). Frühere Belege reiner Buchstabentabulatur sind zwar bekannt, entbehren aber einer genauen Rhythmusnotation in allen Stimmen: Ein dreistimmiges, anonymes Ave Maris Stella ist Teil eines Manuskripts, das bereits aus dem 15. Jahrhundert stammt (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 5094, fol. 155v). In diesem Beispiel wurde der Rhythmus jedoch auf eine gleichmäßige Bewegung in Semibreven reduziert, weshalb überhaupt kein System einer differenzierten Rhythmusnotation festgestellt werden kann (vgl. Göllner, Theodor: Notationsfragmente aus einer Organistenwerkstatt des 15. Jahrhunderts, in: Archiv für Musikwissenschaft 24, 1967, S. 170–177, bes. 174f.). Martin Agricola überliefert in Musica Instrumentalis Deudsch (1529) ein in Buchstabentabulatur notiertes Werk, das den exakten Rhythmus jedoch nicht in allen drei Stimmen angibt. 2 Drei ältere Quellen aus dem 15. Jahrhundert sind einzelne Blätter, die Sammelhandschriften mit nicht-musikalischem Inhalt hinzugefügt wurden (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 3617, fol. 10v/Cod. 5094, fol. 148v, 155v, 158r–v), bzw. für deren Einband Verwendung fanden (Benediktinerstift Melk, Bibliothek, 689, olim 775), und nur einzelne Stücke bzw. Fragmente enthalten. Siehe dazu Göllner: Notationsfragmente (wie Anm. 1), S. 170–177. – Angerer, Joachim: Die Begriffe ‚Discantus‘, ‚Organa‘ und ‚Scolares‘ in reformgeschichtlichen Urkunden des 15. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Pflege der Mehrstimmigkeit in den Benediktinerklöstern des österreichischen-süddeutschen Raumes, in: Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 109, 1972, S. 146–170 sowie Abb.-Verzeichnis mit 7 Tafeln. – Strohm, Reinhard: Native and Foreign Polyphony in Late Medieval Austria, in: Musica disciplina 38, 1984, S. 205–230. Die Klagenfurter Orgeltabulatur KlagL 4/3 In Österreich überlieferte Orgelmusik des 16. Jahrhunderts Manfred Novak Abstract This article describes the Klagenfurt tablature and its contents. It summarizes the known facts about the history of the document, touches upon the question of the vocal sources of the intabulations contained therein and lists concordances with tablatures for keyboard instruments. The four unica – Preambulum, Exercitatio bona, Petre amas me and Patrem omnipotentem – are discussed more closely, and the authorship of the two latter intabulations is investigated, arriving at the conclusions that the attribution of Patrem omnipotentem to Pierre de la Rue in the source is highly questionable, and that hitherto no composer can be suggested for the anonymously handed down Petre amas me. Concerning playing technique, several options of performing the repertoire transmitted in the tablature are considered with regard to the specification of the Innsbruck Ebert organ. Thoughts about using the pedals, a practice not specified in the source, and the possibility of playing a cantus firmus line on a separate division of the organ, are put forward and evaluated. Finally, the problem of fitting the unusually large tablature book on an organ desk is addressed, leading to reflections about the purpose of the manuscript. Die Orgeltabulatur aus dem Kärntner Landesarchiv in Klagenfurt ist eines der ältesten Beispiele eines in sogenannter „Neuer deutscher Orgeltabulatur“ notierten Musikdoku- ments1 und ist gleichzeitig die älteste Sammlung mit Musik für Tasteninstrumente auf österreichischem Boden.2 Auch © Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck download unter www.biologiezentrum.at 80 3 Ankershofen, Gottlieb Freiherr von: Handschriften der Sammlung des historischen Vereins für Kärnten in Klagenfurt, in: Archiv zur Kunde österreichischer Geschichtsquellen I.2, 1848, S. 73ff. Der betreffende Eintrag steht unter der Nummer 72 und listet die mit einer Zuschreibung versehenen Werke und ihre Komponisten, nennt aber nicht die anonym überlieferten Stücke. 4 Flotzinger, Rudolf: St. Paul im Lavanttal, in: Österreichisches Musiklexikon, Bd. 5, hg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2006, S. 2018f. 5 Die erste Quellenbeschreibung findet sich in Menhardt, Hermann: Handschriftenverzeichnis der Kärntner Bibliotheken, Bd. 1, hg. von der Staatsdruckerei, Wien 1927. 6 Auch aus der Krakauer Orgeltabulatur wurden einzelne Seiten herausgeschnitten, siehe Insko, Wyatt Marion: The Cracow Tablature, 2 Bde, Dissertation, Indiana University 1964, S. 8, Fußnote 1. wenn ihre Provenienz und Entstehungszeit nicht restlos geklärt ist, gibt es wohl kaum eine Quelle, die der EbertOrgel in Innsbruck geographisch und zeitlich näher liegt. Es dürfte sich also lohnen, das in der Handschrift überlieferte Repertoire mit dem Instrument (der ältesten auf österreichischem Boden erhaltenen Orgel) in Beziehung zu setzen. Bevor auf spieltechnische Aspekte eingegangen wird, soll das Manuskript und das in ihm überlieferte Repertoire vorgestellt und ausgewählte Stücke daraus näher besprochen werden. Die Klagenfurter Orgeltabulatur enthält weder Angaben zu ihrer Entstehungszeit oder ihrem Ursprungsort noch zu ihrem Schreiber. Der erste gesicherte Hinweis stammt aus dem Jahr 1848, in dem die Handschrift in einem Katalog des Historischen Vereins für Kärnten genannt wird.3 Im Jahr 1904 gelangte sie in das neu gegründete Kärntner Landesarchiv, wo sie seitdem aufbewahrt wird. Aufgrund ihres Inhalts und des paläographischen Befunds lässt sie sich auf ca. 1560 datieren. Vermutungen, sie könnte aus einem der unter der Regentschaft Josephs II. aufgelassenen Kärntner Klöster stammen,4 lassen sich bisher nicht durch historische Dokumente belegen, sind aber durchaus plausibel und siedeln die Handschrift im inneralpinen Raum an, in dem auch die Ebert-Orgel entstand. Die 25 Folios des Manuskripts sind aus Papier, haben eine Größe von 440 mal 375 Millimetern und sind in einem braunen Ledereinband gebunden, der vermutlich aus späterer Zeit stammt.5 Die enthaltenen Werke sind streng nach ihrer Stimmenanzahl geordnet und auf einem vorher angelegten Raster eingetragen, der für die sechsstimmigen Stücke aus 8 Brevis-Mensuren pro Zeile und 4 Zeilen pro Seite, für die fünfstimmigen Werke aus 9 Mensuren pro Zeile und 5 Zeilen pro Seite und für die vierstimmigen aus 10 Mensuren pro Zeile und 6 Zeilen pro Seite besteht. Nach dem letzten sechsstimmigen und dem letzten fünfstimmigen Werk finden sich unbeschriebene Seiten. Außerdem wurden an diesen Stellen eine Anzahl von Folios nachträglich entfernt: Zwischen Folio 5 und 6 sind Spuren von drei, zwischen Folio 17 und 18 Spuren von 4 herausgeschnittenen Blättern erkennbar.6 Das letzte Blatt der Handschrift, das die secunda pars von In principio enthält, ist noch vollständig beschrieben, der Teil bricht aber 32 Takte vor seinem Ende ab und die Intavolierung bleibt ein Fragment. Inhalt der Klagenfurter Orgeltabulatur Preambulum. 6. vocum. Ludo: Senfel. [fol. 1r, 1 – fol. 2r, 1] Pater noster. 6. vocum. Josquin. [fol. 2r, 2 – fol. 5r, 2] Miserere mei deus. Josquin. 5. vocum. [fol. 6v, 1 – fol. 11r, 5] Stabat mater. 5. voc . Josquin. [fol. 11v, 1 – fol. 13r, 5] Tua est potentia. 5. voc . Josquin. [fol. 13v, 1 – fol. 14r, 3] Deprofundis. 5. voc . Ludo. Senfl. [fol. 14r, 4 – fol. 16r, 3] Infirmitatem. 5. vo. verdeloth. [fol. 16v, 1 – fol. 17r, 2] Patrez om pot tez. 4. vo: Petr de Rue. [fol. 18r, 1 – fol. 19r, 4] Agnus dei. 4. vocum. Josquinus. [fol. 19v, 1 – fol. 20v, 1] Nisi dominus. Ludo: Senfl. 4. vocuz. [fol. 20v, 2 – fol. 21v, 4] Petre amas me. 4 voc . [fol. 22r, 1 – fol. 22v, 3] Exercitatio bona [fol. 22v, 4 – fol. 23v, 4] Mille regretz. [fol. 23v, 5 – fol. 24r, 2] Le content. [fol. 24r, 3 – fol. 24r, 6] Inprincipio erat vm. Josquin. [fol. 24v, 1 – fol. 25v, 6] Abb. 2: Inhalt der Klagenfurter Orgeltabulatur. Aus: Novak, Manfred (Hg.): The Organ Tablature from Klagenfurt, ms. GV 4/3. Transcription, Commentary & Facsimile, 3 Bde, Zabrze 2009, Bd. 1: Commentary & Facsimile, S. 5. © Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck download unter www.biologiezentrum.at 81 7 Die Mensuren 22 bis 25 wurden in der vierten Stimme irrtümlich in den Mensuren 21 bis 24 eingetragen. 8 [Formschneider, Hieronymus]: Novum et insigne opus musicum, sex, quinque, et quatuor vocum, cuius in Germania hactenus nihil simile usquam est editum, Frankfurt/Main 1537. 9 [Formschneider, Hieronymus]: Secundus tomus novi operis musici, sex, quinque et quatuor vocum, nunc recens inclucem editus, Nürnberg 1538. – Zu den beiden Formschneider-Drucken und der Josquin Renaissance im deutschen Sprachgebiet siehe Schlagel, Stephanie P.: The Liber selectarum cantionum and the ‘German Josquin Renaissance’, in: The Journal of Musicology 19, 2002, S. 564–615. 10 Johnson: Organ Tablatures (wie Anm. 1). 11 [Berg, Johann/Neuber, Ulrich]: Secunda pars magni operis musici: continens clarissimorum symphonistarum tam veterum quam recentiorum, praecipue vero Clementis non Papae, carmina elegantissima quinque vocum, Nürnberg 1559. Die Klagenfurter Tabulatur enthält durchwegs ornamentierte Intavolierungen von neun Motetten, zwei Mess-Sätzen und zwei Chansons sowie zwei originale Orgelwerke – eine anonyme Exercitatio bona und Ludwig Senfls Preambulum. Der polyphon-imitative Stil dieser Werke und die Verwendung gleicher, beziehungsweise ähnlicher Verzierungsformeln wie in den Intavolierungen legen die Vermutung nahe, dass es sich auch bei ihnen um Übertragungen von Vokalwerken handeln könnte. Auch ein Fehler des Schreibers, in Preambulum eine Phrase in einer einzelnen Stimme um einen Takt versetzt zu kopieren,7 deutet auf eine vokale Vorlage, die bis jetzt jedoch nicht identifiziert werden konnte. Auffallend ist der hohe Anteil an Kompositionen Josquins in der Tabulatur, der 40 Prozent der Gesamtanzahl der enthaltenen Werke ausmacht und einzigartig in der Quellengruppe der deutschen Orgeltabulaturen ist. Diese Vorrangstellung Josquins scheint die Tabulatur in die Nähe des Phänomens der Josquin-Renaissance im deutschen Sprachgebiet zu rücken, und in der Tat weist sie eine beträchtliche Anzahl an übereinstimmenden Werken mit zwei Anthologien auf, die zu den Grundsteinen dieser Entwicklung gehören, und in denen auch Josquin der am prominentesten vertretene Komponist ist, nämlich die beiden Formschneider Drucke Novum et insigne opus musicum (RISM 1537/1)8 und Secundus tomus novi operis musici (RISM 1538/3)9 aus den Jahren 1537, beziehungsweise 1538. Beide Bände zusammengenommen enthalten 7 der 13 in der Klagenfurter Tabulatur intavolierten Stücke. Weitere Ähnlichkeiten der Drucke mit der Tabulatur sind die Aufnahme verhältnismäßig vieler Werke Senfls und die Anordnung der Werke nach ihrer Stimmenanzahl in absteigender Ordnung. Folgerichtig gibt Cleveland Johnson in seinem Katalog Vocal Compositions in German Organ Tablatures 1550–1650 10 die beiden Formschneider-Drucke als Vokalquellen an. Als Ergänzung oder Alternative kann zusätzlich die Sammlung Secunda pars magni operis musici, gedruckt von Berg & Neuber im Jahr 1559 (RISM 1559/1)11 , angeführt werden, die vier der in der Orgeltabulatur enthaltenen Werke überliefert und mit Tua est potentia ein nicht in den Formschneider-Sammlungen enthaltenes, übereinstimmendes Werk beisteuert. Gemeinsames Repertoire von KlagL 4/3 mit RISM 1537/1, RISM 1538/3 und RISM 1559/1 Pater noster 1537/1 Miserere mei Deus 1537/1 1559/1 Stabat mater 1538/3 1559/1 Tua est potentia 1559/1 De profundis 1537/1 Infirmitatem nostram 1538/3 1559/1 Nisi Dominus 1537/1 In principio 1538/3 Abb. 3: Gemeinsames Repertoire von KlagL 4/3 mit RISM 1537/1, RISM 1538/3 und RISM 1559/1 (Tabelle neu erstellt für Vortrag in Innsbruck von Manfred Novak). © Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck download unter www.biologiezentrum.at 82 12 Diese Stellen sind: Miserere, tertia pars, Mensur 120; Stabat mater, Mensur 13, secunda pars, Mensur 10 (Fehler in Drucken); Tua est potentia, Mensur 32, 45 und 69 (in zwei Stimmen); De profundis, Mensur 53, secunda pars, Mensur 39; Nisi dominus, Mensur 68–70, secunda pars, Mensur 35 (in den drei Unterstimmen) und 50; In principio, Mensur 15 und 43, secunda pars, Mensur 16. 13 Für einen eingehenderen Vergleich der Quellen von Tua est potentia und weiterführende Überlegungen zur Transposition siehe Novak, Manfred (Hg.): The Organ Tablature from Klagenfurt, ms. GV 4/3. Transcription, Commentary & Facsimile, 3 Bde, Zabrze 2009, Bd. 1, S. 39–42. 14 Kraków Biblioteka Polskiej Akademii Nauk, Krakau, KrakPAN 1716. 15 Bayerische Staatsbibliothek, München, MunBS 4778. 16 Rühling, Johannes: Tabulaturbuch auff Orgeln und Instrument, Leipzig 1583. 17 Frühere Stadtbibliothek, Wrocław, WrocS 6. 18 In diesem Fall erhöhen sich die Übereinstimmungen von Le content um Brown 1531/3 und 1549/6. Abb. 4: Miserere mei Deus, secunda pars, Takte 19–23, Praktische Ausgabe. Aus: Novak, Manfred (Hg.): The Organ Tablature from Klagenfurt, ms. GV 4/3. Transcription, Commentary & Facsimile, 3 Bde, Zabrze 2009, Bd. 3: Practical Edition, S. 23. Ob zumindest einer dieser drei Drucke jedoch tatsächlich als Vorlage für den unbekannten Intavolator des Klagenfurter Manuskripts gedient hat, muss als fraglich gelten. Die rhythmischen Unterschiede sind zu zahlreich und teilweise zu auffällig, um als unbedeutend gelten zu können, zumal der Intavolator keinerlei Anstrengungen unternahm, um die Musik der Ausführung auf einem Tasteninstrument anzupassen, sondern akribisch genau der polyphonen Struktur folgte, und die Textdeklamation als Anlass für rhythmische Veränderung bei instrumentaler Ausführung wegfällt. Neben für den Intavolierungsprozess typischen Versehen wie Oktav- oder Terzfehlern findet man auch tatsächlich unterschiedliche Lesarten (siehe Abb. 4) In Mensur 20 der secunda pars von Miserere überliefert die Tabulatur eine Vorhaltsbildung im Motiv des Discantus, die einen Takt später durch die Wiederkehr desselben Motivs im Bass bestätigt wird, während sie in den Drucken an keiner der beiden Stellen aufscheint. In Mensur 72 notiert die Tabulatur A im Bass, die an dieser Stelle fehlerhaften Drucke hingegen G. Ähnliche, die Tonhöhen betreffende Unterschiede findet man – Terzdiskrepanzen, selbst wenn sie nur einen Ton innerhalb einer Phrase betreffen, nicht ein- gerechnet – an weiteren vierzehn Stellen12 in den acht übereinstimmenden Werken. An zwei Stellen betreffen sie mehr als eine Stimme. Außerdem ist das in Novum et insigne opus musicum fünfstimmig überlieferte Nisi dominus nur vierstimmig intavoliert, und Tua est potentia steht im Vergleich zu der Fassung in Secunda pars magni operis musici in der Kärntner Handschrift um einen Ganzton höher.13 Beide Ver- fahren – Stimmenreduzierung und Transposition – wären für die Klagenfurter Tabulatur Einzelfälle. Obwohl die Tabulatur einige der bekanntesten und populärsten Kompositionen des 16. Jahrhunderts enthält, liefert sie einen wertvollen zusätzlichen Beitrag zum Repertoire für Tasteninstrumente, da es innerhalb der Quellengruppe der deutschen Orgeltabulaturen kaum Übereinstimmungen gibt. Lediglich Stabat Mater und Le content sind auch in der Lublin Tabulatur14 (1537–1548) intavoliert, das letztere Werk findet sich auch in Manuskript 4778 der Bayerischen Staatsbibliothek in München15 (Anfang 17. Jahrhundert). Sonst ist nur noch De profundis im Tabulaturdruck des Johannes Rühling (RISM 1583/24)16 enthalten, eine Intavolierung von In principio befand sich im verschollenen Manuskript 6 der Stadtbibliothek Wrocław.17 Selbst wenn man die Quellengruppe auf Tabulaturen für Tasteninstrumente nicht-deutscher Provenienz des 16. Jahrhunderts ausweitet, lassen sich nur zwei weitere übereinstimmende Werke hinzufügen:18 © Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck download unter www.biologiezentrum.at 83 19 Cabezon, Hernando de (Hg.): Obras de musica para tecla, arpa y vihuela de Antonio de Cabeçon …, Madrid 1578. 20 Vgl. Staehlin, Martin: Zu den ‚Gebrauchszusammenhängen‘ älterer Orgeltabulaturen, in: Acta organologica 27, 2001, S. 241–247. 21 Wolf, Johannes: Sing- und Spielmusik aus älterer Zeit, Leipzig 1926. 22 Lambrecht, Jutta: Das „Heidelberger Kapellinventar“ von 1544 (Codex Pal. Germ. 318). Edition und Kommentar, Heidelberg 1987. Ave Maria, die secunda pars von Pater noster, und Agnus Dei sind (wie auch Stabat mater, die prima pars davon in zwei unterschiedlichen Versionen) in der Cabezon-Tabulatur (RISM 1578/24)19 vorhanden. Somit enthält die Klagenfurter Tabulatur beispielsweise die einzige bekannte Bearbeitung für Tasteninstrumente der beliebten Chanson Mille regretz von Josquin Desprez. Vier in der Orgeltabulatur aufgezeichnete Werke sind überhaupt Unica: die beiden originalen Orgelwerke sowie Patrem omnipotentem und Petre amas me. Auf Preambulum, das einzige bekannte Orgelwerk Ludwig Senfls, und die Möglichkeit der Existenz einer vokalen Vorlage wurde eingangs bereits eingegangen. Für Exercitatio bona ist die Sicherheit, dass es sich trotz seines imitativ-polyphonen Stils um ein originales Instrumentalwerk handelt, bedeutend höher. Die höhere Verzierungsdichte, die auch in In principio festzustellen ist, aber vor allem die stärkere lineare Ausrichtung der Ornamentierung setzen dieses Werk von den Intavolierungen der Klagenfurter Tabulatur ab. Außerdem scheint sein Titel auf ein Instrumentalwerk hinzuweisen: Laut Martin Staehlins Artikel aus dem Jahr 200120 sind qualifizierende Adjektive wie „bona“ häufig Bestandteil von Werktiteln in Orgeltabulaturen des 15. und 16. Jahrhunderts und werden dort ausschließlich für originale Instrumentalwerke verwendet, während man sie in Vokalquellen oder in Titeln von In­tavo­lierun­gen nicht findet. Eine Ausnahme zu diesem Sachverhalt findet sich allerdings in einer Ausgabe Johannes Wolfs aus dem Jahr 1926, in der er unter anderem auch ein Hoc est pulcrum evangelium betiteltes, ein- bis dreistimmiges, textiertes Stück aus dem 15. Jahrhundert herausgab.21 Patrem omnipotentem wurde in der Klagenfurter Orgeltabulatur Pierre de la Rue zugeschrieben (Abb. 1, siehe Seite 78). Diese Zuschreibung muss jedoch hinterfragt werden, da keine der heute bekannten Credosätze de la Rues der zweiteiligen Intavolierung entspricht. Es könnte sich also noch um eine der beiden unbekannten Messen des Komponisten handeln, die im Heidelberger Kapellinventar von 1544 erwähnt werden.22 Eine dieser Messen ist wie der Satz in der Orgeltabulatur vierstimmig und trägt keinen Titel, wesGemeinsames Repertoire von KlagL 4/3 mit anderen Orgeltabulaturen bis ca. 1600 Secunda pars Ave Maria RISM 1578/24 Stabat mater KrakPAN 1716 RISM 1578/24 De profundis RISM 1583/24 Agnus Dei RISM 1578/24 Le content KrakPAN 1716 MunBS 4778 Brown 1531/3 Brown 1549/6 In principio (WrocS 6) Abb. 5: Gemeinsames Repertoire von KlagL 4/3 mit anderen Orgeltabulaturen bis ca. 1600 (Tabelle neu erstellt für Vortrag in Innsbruck von Manfred Novak). © Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck download unter www.biologiezentrum.at 84 23 Für eine Untersuchung des Stils Pierre de la Rues siehe Davison, Nigel: The Motets of Pierre de la Rue, in: Musical Quarterly 48, 1962, S. 19–35. – In Bezug auf die vorliegende Intavolierung teilte Nigel Davison in privater E-Mail-Konversation seine Einschätzung mit, dass Patrem omnipotentem höchstwahrscheinlich nicht aus der Feder de la Rues stammt (E-Mail von Nigel Davison an Monika Fahrnberger vom 12. Dezember 2008). halb sie mit einer der bekannten Messen ident sein könnte. Für die zweite Messe, Missa mediatrix nostra, wird die Stimmenanzahl nicht angegeben. Aber selbst wenn die Anlage in zwei Teilen typisch für Credosätze de la Rues ist, weist die Intavolierung doch erhebliche stilistische Unterschiede zu den überlieferten Werken des Komponisten auf. Vor allem homophone Passagen, speziell zu Beginn der secunda pars, klare Gliederung durch Pausen nach Kadenzen im Gegensatz zu verschränkten Phrasen und das Fehlen charakteristischer Quintparallelen in Kadenzbildungen stehen in Kontrast zum Stil de la Rues.23 Ebenfalls offen bleiben muss die Frage der Zuschreibung der anonym überlieferten Intavolierung Petre Abb. 6: Schluss der Motette Petre amas me aus BudOS 22 (Tenorstimme) sowie KlagL 4/3 (BudOS 22 (Tenorstimme) nach einer Reproduktion auf E-Mail-Anfrage des Autors an die ungarische Bibliothek.  KlagL 4/3 reproduziert aus der 3-bändigen Ausgabe von Manfred Novak (Hg.): The Organ Tablature from Klagenfurt, ms. GV 4/3. Transcription,   Commentary & Facsimile. 3 Bde, Zabrze 2009, Bd. 1: Commentary & Facsimile, S. 148). © Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck download unter www.biologiezentrum.at 85 24 Im Vergleich zu bekannten Vokalquellen unterschiedlich gestaltete Schlüsse weisen auch Tua est potentia, die prima pars von Stabat mater, die secunda pars von Miserere und die prima pars von Pater noster auf. 25 Teilweise Überlieferung dieses Werkes findet man in Brown 1517/1 (nur Superius), 1552/7 (nur Agnus III), 1578/3 (nur Agnus III) und 1590/6. 26 Vgl. z. B. Hans Buchners mit Fingersätzen versehene Komposition Quem terra pontus. 27 Ohne Zuhilfenahme des Pedals sind alle sechsstimmigen Werke (Preambulum, Pater noster und Ave Maria) sowie die prima pars von De profundis und die secunda pars von Stabat mater nicht spielbar. amas me, die keiner der bekannten Vertonungen dieses Textes aus dem Johannesevangelium entspricht. Allerdings ist zumindest die Tenorstimme des Werkes in den BártfaManuskripten in der Ungarischen Nationalbibliothek überliefert (BudOS 22). Leider fehlt auch dort eine Zuschreibung, aber trotz zweier geringfügiger Unterschiede handelt es sich eindeutig um dasselbe Werk: Die unterschiedliche Lesart in Mensur 80 ist offensichtlich ein Schreibfehler des Intavolators, und die unterschiedliche Gestaltung des Schlusses, wo nur im Bártfa-Manuskript der Tenor vom Grundton in die Quart springt, um schließlich auf der Terz zu enden, ist ein öfter zu beobachtendes Phänomen in der Klagenfurter Tabulatur.24 Geht man der Frage der Autorschaft von Petre amas me nach, taucht wieder der Name Pierre de la Rue auf: Im Heidelberger Kapellinventar ist eine Vertonung dieser Evangelienperikope unter seinem Namen gelistet, die heute unbekannt ist. Könnte also die anonyme Intavolierung aus der Klagenfurter Tabulatur eine Bearbeitung der verlorenen Motette de la Rues sein? Die Antwort muss wohl negativ ausfallen, da neben stilistischen Gründen noch eine weitere Tatsache gegen eine Übereinstimmung der beiden Werke spricht: De la Rues Komposition wird im Heidelberger Kapellinventar als vierstimmiges Werk in zwei Teilen gelistet, während die Intavolierung zwar auch vierstimmig ist, jedoch nur einen Teil umfasst. Nun wäre es natürlich grundsätzlich möglich, dass nur der erste Teil einer mehrteiligen Motette intavoliert wurde, im Fall der Klagenfurter Orgeltabulatur scheint dies aber unwahrscheinlich. Das einzige unvollständig bearbeitete Stück – mit Ausnahme des Fragments In principio – ist Agnus Dei, das Agnus aus Josquins Missa L’homme armé super voces musicales, von dem nur der dritte Teil intavoliert wurde. Gerade dieses Werk wurde aber auch in etlichen anderen Tabulaturen nur teilweise aufgezeichnet,25 was die ausschließliche Intavolierung von Agnus III üblicher erscheinen lässt. In Bezug auf Spieltechnik sei das Grundlegendste vorweggenommen: Alle Werke der Klagenfurter Tabulatur sind ohne Probleme auf der Orgel spielbar. Die wörtliche Übernahme der Stimmenanzahl und Stimmführung der Vorlagen mit allen Einklängen und Stimmkreuzungen macht die Ausführung mitunter unbequem, aber die Möglichkeit, am Tasten­instru­ment manche Töne beträchtlich zu kürzen, wie sie von historischen Fingersätzen nahegelegt wird,26 kann eine wertvolle und hilfreiche Option für einen leichteren und flüssigeren Vortrag sein. In der Klagenfurter Tabulatur findet man keinen Hinweis auf den Gebrauch des Pedals, in fünf Stücken ist dieser jedoch als Spielhilfe unabdingbar.27 Der Pedalumfang der Ebert-Orgel ist für diesen Zweck mehr als ausreichend und erlaubt, selbst längere Passagen und ganze Phrasen mit den Füßen zu spielen und die Hände auf diese Weise zu entlasten. Grifftechnisch fände man selbst mit dem geringeren Pedalumfang einer kurzen Oktav (CDEFGA-H) das Auslangen, müsste dann aber durchaus einige Komplikationen im Manualsatz in Kauf nehmen. Der größere Umfang der Ebert-Orgel ist aber nicht nur bequemer, er bietet auch die zusätzliche Möglichkeit, cantus firmus-Stimmen durch ihre Ausführung auf dem Pedal klanglich von den restlichen Stimmen abzusetzen. Da das Pedal keine selbständigen Register umfasst, sondern in die Kanzellen der Hauptwerkslade spielt, bedingt eine klangliche Differenzierung das Spiel der übrigen Stimmen auf dem Rückpositiv. Dass das Rückpositiv im Gegensatz zum Hauptwerk erst bei F anfängt, stellt dafür kein Problem dar, da in der gesamten Tabulatur nie ein tieferer Ton verlangt wird. Auch die 4-Fuß-Basierung des Rückpositivs ist kein Hindernis, da die cantus firmus-Stimmen, die im Pedal ausgeführt eine Oktave tiefer als notiert gespielt © Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck download unter www.biologiezentrum.at 86 werden müssten, mit 2 Fuß registriert werden können. Für diese Art der Ausführung kommen vor allem drei Werke in Betracht: Agnus Dei, das Agnus III aus der Missa L’homme armé super voces musicales, mit der Liedmelodie im Discant, Stabat mater mit dem cantus firmus Comme femme desconfortée im Tenor und eventuell Miserere mei Deus, dessen auf verschiedenen Tonstufen wiederkehrendes Soggetto in der Quinta Vox man auf diese Weise klanglich hervorheben könnte. Das konsequente Spielen einer Stimme mit den Füßen bringt jedoch eine grundsätzliche Schwierigkeit mit sich: Das Pedal steht als Spielhilfe nicht mehr zur Verfügung, und alle restlichen Stimmen und deren mitunter große Abstände voneinander müssen grifftechnisch am Manual bewältigt werden. In Agnus Dei ist das kein Problem, und der Pedalumfang der Ebert-Orgel bis b entspricht genau dem Umfang des cantus firmus im Agnus III. In der secunda pars von Stabat mater jedoch ist es genau aus diesem Grund nicht möglich, den Tenor mit dem Pedal zu spielen, es sei denn, man kann tatsächlich B-b-d1 in der linken Hand grei- fen. Ähnlich stellt sich die Situation in Miserere mei Deus dar, wo in der prima pars Takt 166 und in der secunda pars Takt 70 nur mit Schwierigkeiten ausführbar wären. Bei Stabat mater ergibt sich die zusätzliche Schwierigkeit, die Verzierung in Takt 66 – die einzige Verzierung in der ganzen cantus firmus-Stimme – mit den Füßen auszuführen. Ein anderer – grundsätzlicherer – spielpraktischer Aspekt ist die Größe der Handschrift, die mit einer Höhe von 44 Zentimetern nicht auf dem Pult der Ebert-Orgel (ca. 34,5 cm) unterzubringen ist. Bedenkt man, dass die Handhabung eines Buches dieser Größe auch auf anderen historischen Orgeln, vor allem auch auf Kleinorgeln und Positiven, problematisch ist, so könnte die Kärntner Orgeltabulatur auch als Speichermedium der in ihr verzeichneten Werke gedient haben. Die Anlage der Tabulaturnotation als Partitur wäre dafür eine übersichtliche Notationsvariante, die ausgeschriebenen Verzierungen und das Fehlen eines Textes deuten allerdings auf instrumentalen Vortrag hin und limitieren die vielfältigen Möglichkeiten, die eine unverzierte und eventuell textierte Speicherung der Musik böte. Da die Größe der Handschrift auch einem Chorbuch angemessen sein könnte, kann man sich eventuell ein Ensemble von Instrumentalisten um das Buch versammelt vorstellen, die relativ kleine Schriftgröße der Buchstaben steht diesem Gedanken aber entgegen. Ein praktischer Versuch dazu ist, soweit dem Autor bekannt, noch nicht unternommen worden. Abb. 7: Stabat mater, secunda pars, Takte 87–90, Partiturausgabe. Aus: Novak, Manfred (Hg.): The Organ Tablature from Klagenfurt, ms. GV 4/3. Transcription, Commentary & Facsimile, 3 Bde, Zabrze 2009, Bd. 2: Score Edition, S. 82. © Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck download unter www.biologiezentrum.at 87 Was man jedoch mit Sicherheit sagen kann ist, dass alle in der Klagenfurter Orgeltabulatur verzeichneten Werke problemlos auf einer Orgel mit einem geringen Pedalumfang darzustellen sind und auf einem Instrument wie der Ebert-Orgel in der Innsbrucker Hofkirche ihre vielfältige und überzeugende Klanggestalt finden. Gerade in einer Zeit, in der Tabulaturen und Intavolierungen glücklicherweise zunehmendes Interesse finden, bietet die Ebert-Orgel ideale Voraussetzungen, um dieses Repertoire nicht nur wissenschaftlich zu reflektieren, sondern auch klanglich zu erleben und hörbar zu machen, dass die Werke der geachtetsten Komponisten ihrer Zeit auch in nicht-vokaler Klanggebung ihre ungebrochene Kraft entfalten. Abb. 8: Miserere mei Deus, prima pars, Takte 164–168; secunda pars, Takte 69–72, Partiturausgabe. Aus: Novak, Manfred (Hg.): The Organ Tablature from Klagenfurt, ms. GV 4/3. Transcription, Commentary & Facsimile, 3 Bde, Zabrze 2009, Bd. 2: Score Edition, S. 48 sowie 54. © Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck download unter www.biologiezentrum.at 88 Literatur Angerer, Joachim: Die Begriffe ‚Discantus, Organa‘ und ‚Scolares‘ in reformgeschichtlichen Urkunden des 15. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Pflege der Mehrstimmigkeit in den Benediktinerklöstern des österreichischensüddeutschen Raumes, in: Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 109, 1972, S. 146–170 sowie Abb.-Verzeichnis mit 7 Tafeln. Ankershofen, Gottlieb Freiherr von: Handschriften der Sammlung des historischen Vereins für Kärnten in Klagenfurt, in: Archiv zur Kunde österreichischer Geschichtsquellen I.2, 1848, S. 73ff. Brown, Howard Mayer: Instrumental Music Printed before 1600. A Bibliography, Cambridge, MA 1965. Davison, Nigel: The Motets of Pierre de la Rue, in: Musical Quarterly 48, 1962, S. 19–35. Deuer, Wilhelm: Das Kärntner Landesarchiv, in: Carinthia I 184, 1994, S. 187–239. Federhofer, Hellmut: Eine Kärntner Orgeltabulatur des 16. Jahrhunderts, in: Carinthia I 142, 1952, S. 330–337. 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