Source: Germanoslavica Germanoslavica Location: Czech Republic Author(s): Siegfried Ulbrecht, Achim Küpper Title: Einleitung. Zur Theatralität in Literatur und Kultur Editorial Issue: 2/2014 Citation style: Siegfried Ulbrecht, Achim Küpper. "Einleitung. Zur Theatralität in Literatur und Kultur". Germanoslavica 2:1-11. https://www.ceeol.com/search/article-detail?id=281827 The Central and Eastern European Online Library The joined archive of hundreds of Central-, East- and South-East-European publishers, research institutes, and various content providers You have downloaded a document from CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 Theatralität in Literatur und Kultur CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 Einleitung. Zur Theatralität in Literatur und Kultur Siegfried U l b r e c h t – Achim K ü p p e r In William S s Komödie Wie es euch gefällt (publ. 1623) leitet die Figur Jaques seine Rede aus Akt II, Szene 7 mit einem berühmten Vergleich ein: „Die ganze Welt ist Bühne, / Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.“1 Mehr als drei Jahrhunderte später und in einem anderen Teil Europas greift der serbische Autor Miloš C auf ein ähnliches Bild zurück, um seinen Roman über London (1971) zu beginnen: „Alle Romanschriftsteller sind sich im Großen und Ganzen einig, wenn es um die Welt geht, in der wir leben. Das ist, sagen sie, eine Art große, wundersame Schaubühne, auf der jeder eine Zeit lang seine Rolle spielt.“2 Schon die Zusammenstellung dieser beiden Texte lässt erahnen, dass der in ihnen verwendeten Theatermetapher ein bestimmter allgemeingültiger, ort- und zeitübergreifender Charakter zukommt, auch wenn sich hier und dort sicher Unterschiede ergeben: In S s Drama lässt sich das Bild in gewissem (vielleicht aber auch nur begrenztem) Maße vor dem Hintergrund der Tradition des „Theatrum Mundi“ sehen, der barocken Vorstellung von der irdischen Welt als Bühne, wie sie schon im Namen des „Globe Theatres“ zum Ausdruck kommt; in C s Roman verlagert sich die Metapher zeitgeschichtlich in den Kontext der großen Kriege, der Wanderschaft und des Exils, London bleibt ein fremder, kulissenhafter Zufluchtsort des aus der Heimat Emigrierten. In beiden Fällen liegt aber ein und dasselbe Bild zugrunde, eine Art Urbild, das dann jeweils gesellschafts- oder epochenspezifisch zu kontextualisieren bzw. zu aktualisieren ist. 1 William S : Sämtliche Werke, dt. Übers. v. August Wilhelm S , Dorothea und Ludwig T , Wolf Graf B , Ferdinand F , Gottlob R und Karl S , Essen 2004, S. 289. „All the world’s a stage, / And all the men and women merely players“ (William S : As You Like It, in: D .: The Complete Works, Ware 1996, S. 622). 2 „Svi se pisci romana slažu, uglavnom, kad je reč o svetu u kom živimo. To je, kažu, neka vrsta velike, čudnovate, pozornice, na kojoj svaki, neko vreme, igra svoju ulogu“ (Miloš C : Roman o Londonu, Beograd 2008, S. 7). Dt. Übers. Alexander J . CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 4 Einleitung Dieses Urbild von der Welt als Bühne stellt zugleich eine der gedanklichen Grundlagen dieses Themenhefts dar: Hier geht es darum, das Konzept der Theatralität aus einer kulturenübergreifenden Perspektive wissenschaftlich zu erproben und zu konturieren. Unter dem Begriff „Theatralität“ werden Dimensionen der Darstellung und der Inszenierung verstanden, deren begriffliches Inventar sich zwar aus der Welt des Dramas speist, die sich aber zugleich über dessen Grenzen hinwegsetzen und sowohl die historische Epoche als auch die jeweiligen Sprach- oder Kulturräume überschreiten. In den weiteren Zusammenhang könnten solch unterschiedliche Aspekte gehören wie theatrale Inszenierungsmuster in gesellschaftlichen Formen oder Riten, Medien als Distributoren und Konfigurationen von Theatralität bzw. Inszenierung, theatrale Elemente im Roman und anderen erzählenden bzw. nicht-dramatischen Gattungen, das Theater an sich als Form und Einrichtung, theatrale Elemente in der Malerei, den bildenden oder darstellenden Künsten, die Theatralität des Dekors und seiner Ästhetik, politische und soziale Repräsentationsformen als Modelle des Theatralen und vieles andere. Theoretisch und konzeptuell ist Theatralität mit dem heute stark verbreiteten Begriff der Performativität zwar verbunden, in mancher Hinsicht aber auch von ihm abzugrenzen, wie Erika F -L ausführt: „Während Theatralität sich auf den jeweils historisch und kulturell bedingten Theaterbegriff bezieht und die Inszeniertheit und demonstrative Zurschaustellung von Handlungen und Verhalten fokussiert, hebt Performativität auf die Selbstbezüglichkeit von Handlungen und ihre wirklichkeitskonstituierende Kraft ab.“3 Dementsprechend wäre Theatralität enger mit dem Herkunftsbereich des Theaters verknüpft und konkreter auf eine historische bzw. kulturelle Position bezogen, während Performativität eine allgemeinere Disposition bzw. einen Grundcharakter von Handlungen überhaupt betrifft und weniger historisch-kulturell begründet oder zu situieren ist. Das verleiht dem Theatralitätsbegriff jedoch zugleich einige Vorzüge gegenüber dem Performativitätsbegriff, vor allem den Vorzug des konkreten, situationsbezogeneren Zugriffs auf den Gegenstand. Diesen Vorzug gilt es im vorliegenden Heft zu profilieren und durch unterschiedliche Studien heuristisch auszuloten. Die hier versammelten Beiträge unterteilen sich in vier Themen- und Schwerpunktgruppen: Unter der ersten Rubrik „Theatralität im Medium des Buchs“ zeichnet Monika S -E im Auftaktbeitrag dieses Hefts die Geschichte des Papiertheaters nach, das sich ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts in bürgerlichen Kreisen zunehmender Popularität erfreut; S -E bespricht bewegliche Bücher und Pop-up-Bücher als Spielformen des Papiertheaters und geht erstmals der Frage 3 Erika F -L : Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 29. CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 Einleitung 5 nach der Theatralität dieses Buchtyps nach. Die heterotopischen Bühnenräume von Pop-up-Büchern bieten Möglichkeiten der Inszenierung von Texten im Buchtheater als Miniatur-Modell. Als theatrale Schau-Plätze und museale Orte des Sehens lassen sich diese interaktiven Formen des Papiertheaters zugleich in die Nachfolge arrangierter Wissensbestände und Wissensordnungen einbeziehen, womit sie eine wichtige, visuell orientierte Facette der Semantik von Theatralität beleuchten. Ineinandergespiegelt werden in diesem theatralen Buchtyp schließlich nicht allein die Wechselbeziehungen zwischen dem kleinen Theater der Papierbühnen und dem großen Theater, sondern auch die reziproken Relationen zwischen dem Theater und der Welt, die als Welt-Bühne ja ebenfalls in der Gestalt eines großen Theaters er- scheint. Die zweite Rubrik widmet sich der Theatralität in Narration und Historiografie des 18. und 19. Jahrhunderts und versammelt zu diesem Themenfeld drei Beiträge. Sabine G geht auf das Verhältnis zwischen Theater und Kirche in Autobiografien und literarischen Texten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts ein. Sie verweist auf Analogien zwischen den in verschiedenen, sowohl autobiografischen als auch literarischen Texten beschriebenen ersten Theatererlebnissen und religiösen Bekehrungsgeschichten sowie zwischen dem Theaterraum und Kirchenraum als den entsprechenden Orten der (Initiations-)Erlebnisse. Auffällig ist nach G , dass die Analogien von Theater und Kirche erst seit dem späten 18. Jahrhundert diskutiert werden, was zum einen daran liegt, dass derartige Vergleiche erst mit der Ausdifferenzierung der Kunst als eines eigenständigen Systems möglich wurden, und zum anderen mit dem seit dem späten 18. Jahrhundert schwindenden Ansehen der Geistlichkeit in Beziehung steht, wonach Kirche in abwertender Weise mit Theatralik verbunden werden kann. Als gesellschaftlicher Diskurs einer Umbruchszeit deutet die Parallelsetzung von Theater und Religion in Autobiografik wie Dichtung der Epoche sowohl auf eine Aufwertung des Theaters als auch auf eine Positionsveränderung und einen allmählichen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Religion. Alexander J diskutiert in seinem Beitrag Formen der Theatralisierung von Gewalt in Friedrich S Geschichtsdarstellungen. J zeigt, dass S als Geschichtsschreiber nicht nur immer wieder auf Theatermetaphern rekurriert, sondern auch, inwiefern er geschichtliche Prozesse und die darin auftretende Gewalt als Schauspiel vergegenwärtigt. Erörtert wird hier zum ersten Mal die Frage nach dem Wie der sprachlichen Repräsentation von Gewalt sowie den Grenzen und Möglichkeiten ihrer Repräsentierbarkeit in der inszenatorischen Praxis des Historikers S . Anhand des zeitgenössischen Begriffs der Darstellung wird die theatrale Dimension der sprachlichen Repräsentation von Gewalt in S selbstreflexiven, metanarrativen Geschichtsdarstellungen freigelegt, CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 6 Einleitung die zugleich Übergänge zwischen den einzelnen Künsten und Gattungen sichtbar werden lassen. Dabei zeigt sich auch, dass der historiografische Textpraktiker S die so sorgsamen Grenzziehungen des Texttheoretikers S selbst permanent unterläuft, die allerdings auch schon an sich nicht widerspruchsfrei sind. An den Scharnierstellen eines Wechselspiels der Künste wird das gattungsübergreifende Merkmal der Theatralität dabei besonders greifbar. Dieses läuft zuletzt auf den Begriff einer historiografischen Dramaturgie der Eskalation hinaus. Wo die geschichtliche Gewalt bei S von einer nicht zu kontrollierenden und amorphen Masse ausgeht, sie keinem Telos folgt, sondern ihren Zweck in sich selbst hat, generiert sie Formen reiner, absoluter Gewalt, die die Frage nach der Darstellbarkeit aufwerfen, die sich zuletzt allerdings ebenfalls als inszenatorische Strategie erweist. Achim K untersucht das Verhältnis von Schrift und Theatralität im Werk E. T. A. H s. Dazu geht er zum einen auf H s einzige, bis heute weitgehend unbeachtete Dramenpublikation, das Schauspiel Prinzessin Blandina ein, weist in der Deutung dieses ausgesprochen ‚undramatischen‘ Stücks unter anderem auf Probleme der Aufführbarkeit sowie der Metatheatralität hin und stellt einen intertextuellen Bezug zu H s eigenem, so berühmtem namensverwandtem Capriccio Prinzessin Brambilla her. Zum anderen geht K der Frage der narrativen Theatralität bei H nach, d. h. der Frage, inwiefern sich in H s erzählerischen Werken – umgekehrt – theatrale Elemente finden. Neben verschiedenen anderen Textbeispielen rückt hier insbesondere die Erzählung Don Juan ins Zentrum einer exemplarischen Analyse im Hinblick auf Formen narrativer Theatralität. Der hierin entstehende „Rapport“ zwischen Erzählung und Theater wird im Beitrag als H s theatraler „Korridor“ beschrieben: als ein paradoxer, liminaler Zwischenraum, der bei H aus der Simultanität des Heterogenen von Schrift auf der einen und dem inszenatorischen Aspekt von Theatralität auf der anderen Seite resultiert. Besprochen werden in Bezug auf die Erzählung Don Juan beispielsweise Aspekte des textinternen Opernbezugs, der Akustik und durchbrochenen Grammatik der Erzählung, des hermetischen, klaustrophobischen und mise-en-abyme-artig verschachtelten Textraums sowie seiner intertextuellen Vernetzung; zur Sprache kommen Elemente einer H schen Poetik der „Explosion“, der seriellen Resonanz theatraler Stimmen-Masken im dramolettartigen Nachtrag der Musikerzählung, der polyfokalen Brechung des identitären Ichs wie der narrativen Rede-Situation, der multiplizierten, zersplitterten Zeit des Textes, des Onirischen, der Reise-Thematik und ihres ‚vaganten’Sinns in der Erzählung. In einem abschließenden dritten Teil des Beitrags werden die Ergebnisse der dramenund der erzählungsspezifischen Analysen zusammengeführt und mit einer medienbezogenen Überlegung zum Verhältnis von Schrift und Rede/Aufführung bzw. Theatralität in Hoffmanns Werk verbunden. Im Begriff der Texttheatralität vereinen CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 Einleitung 7 sich die beiden hier aufgezeigten Seiten von E. T. A. H s Textproduktion, nämlich einerseits die Entdramatisierung des H schen Dramas, das weniger als Schauspiel denn als (Lese-)Text funktioniert, und andererseits die Theatralisierung seiner Narration. Diese beiden konträren, aber komplementären Seiten zeugen auch von dem Unbehagen eines Autors an der Eindeutigkeit wie an der festen Identität, seine Texte generieren nicht das Festgeschriebene oder Festgelegte, sondern das sich Bewegende, den Übergang, den Zwischenbereich, die Passage. In der dritten Rubrik des Hefts werden mit der Texttheatralität im zeitgenössischen Drama und der Sprachtheorie und Theatersemiotik zwei theoretische Fragestellungen zusammengeführt, die neuere Perspektiven der Theaterwissenschaft betreffen. Jitka P skizziert in ihrem Beitrag die von Gerda P etablierte Kategorie der Texttheatralität als eine Spezifizität zeitgenössischer deutschsprachiger Dramatik und geht dazu als Paradebeispiel auf Ewald P Theatertexte ein. P beschreibt die strukturellen Umwandlungen vom Drama zum Theatertext, die sich mit dem Übergang vom konventionellen Drama zur Postdramatik vollzogen haben und theaterhistorisch spätestens mit der Entstehung der späteren Dramen Heiner M anzusetzen sind. Hierzu gehören neben der Texttheatralität als Kennzeichen des Theatertextes, der sich im Gegensatz zum konventionellen Drama durch eine selbstreflexive Thematisierung von Sprache auszeichnet, auch die Neupositionierung des Sprech- und Zusatztextes – des Ersteren im Sinne metadramatischer Sprachflächen, des Letzteren im Sinne einer Steigerung zu einer neuen radikalen Bedeutung – sowie die Substitution traditioneller dramatischer Figuren durch Textträger, die das Konzept des Subjekts selbst in Frage stellen und auf die Rollenhaftigkeit der lebensweltlichen Existenz wie auf die Dezentrierung des Subjekts und seine Spaltung in multiple Rollensegmente verweisen. Illustriert werden diese Tendenzen analytisch an den Theatertexten P , die in das Koordinatenfeld der Zersplitterung und der Destruktion subjektiver Existenz in der neoliberalen, kapitalisierten, globalisierten Gegenwartsgesellschaft sowie des Scheiterns der großen Utopien politischer Regulative eingeordnet werden. Herta S wendet sich dem in den 1930er und 1940er Jahren von Jan M entwickelten literaturwissenschaftlichen Strukturalismus sowie der Dramenanalyse und Theatersemiotik von dessen Schüler Jiří V zu. Auf der Grundlage von M s theoretischem Entwurf skizziert sie ein Modell des ‚vierstöckigen‘ Zeichens, verbindet die Dichtersprache und literarische Werkanalyse mit den Prinzipien der semantischen Geste und zeigt die Nachwirkungen der H schen Sprachtheorie auf die auch der dramatischen Dichtkunst Beachtung schenkende Sprachtheorie Karl B s sowie dessen Position bei M und V auf. Abschließend geht S auf die Dramenanalyse CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 8 Einleitung und Theatersemiotik V s ein, dessen Forschungen eine Synthese zwischen der Ästhetik Otakar Z s und derjenigen M s anzustreben scheinen. Wie M und anders als Z hält V daran fest, dass das Drama eine der drei in Sprache angelegten, selbstgenügsamen Grundgattungen sei. Bei V stellt sich die Frage nach der ästhetischen Funktion als Frage nach der Differenz zwischen Alltagsverhalten und Verhalten des Schauspielers auf der Bühne. Darin kehren zugleich Aspekte aus Z s Ästhetik und aus seiner Analyse der Erscheinung des Bühnenschauspielers wieder. Eine Auffälligkeit aller kunstsemiotischen Studien V s besteht in der Auslassung der für M so wichtigen Problematik der außerästhetischen Werte in der Kunst und dadurch des Prozesscharakters der Semiotik, der Semiose. In einer späten Studie fasst M dieses Werden eines Zeichens noch einmal zu dem Gedanken zusammen, nicht der Dichter schaffe mittels der Sprache, sondern die Sprache schaffe mit Hilfe des Dichters die Dichtung. Die vierte und letzte Rubrik bezieht die Frage der Theatralität stärker auf ihren ursprünglichen Bereich, das Theater, und liefert verschiedene Perspektiven auf diesen Gegenstand aus germano-slawischer Sicht. Markéta B T bespricht das Prager Ständetheater als Modell eines deutsch-tschechischen Kulturtransfers um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Dazu skizziert T zunächst die Methodik des Kulturtransfers und der Transfergeschichte. Entsprechend diesem Ansatz stehen hier die Durchmischungen und Wechselwirkungen, die Spuren der einen Kultur in der anderen im Vordergrund. Was das Prager Ständetheater zu einem so besonderen Modell des Kulturtransfers macht, ist, dass in diesem Fall keine räumliche Distanz zwischen den beiden untersuchten Kulturen besteht, sondern sie unter demselben Dach und in demselben von zwei Ensembles bespielten Theatergebäude koexistieren. Das Theater wir hier zu einem exemplarischen Miniaturmodell des Kulturtransfers. An der Geschichte des Prager Ständetheaters reflektiert und bricht sich auch die Entwicklung der deutschen und der tschechischen Sprache und Kultur sowie ihres Verhältnisses zueinander. Der Kulturtransfer vollzieht sich dabei nicht allein auf der Ebene der beteiligten Persönlichkeiten, der Schauspieler usw., sondern auch als intertextueller Transfer auf der Ebene des Textes. Zwar zielen das deutsche und das tschechische Theater auf zwei unterschiedliche Schichten ab, das deutsche auf die Elite, das tschechische auf die breite Masse, doch überwiegen letztlich in allen beiden Repertoires die leichten Genres, um mit dem Theaterbetrieb die notwendigen Einnahmen zu erzielen. Insgesamt zeigt dieses Beispiel des Kulturtransfers, wie sich zwei in demselben geografischen Raum koexistierende Kulturen gegenseitig durchdringen, einander wechselseitig beeinflussen und bedingen. CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 Einleitung 9 Špela V widmet sich in ihrem Beitrag der 1889 in Cilli (heute Celje, Slowenien) geborenen Autorin Alma M. K und unternimmt eine Analyse von deren Erstlingswerk, dem Stück Die Kringhäusler (1918), das bislang in der Forschung vollkommen unbeachtet blieb. Es erinnert im Grundriss des Handlungsaufbaus an das traditionelle bürgerliche Trauerspiel, doch tritt der Konflikt nicht über die Grenzen der bürgerlichen Welt hinaus. Zwar ist der Text in Bezug auf die Bühnenhandlung wenig theatralisch und basiert vor allem auf Gesprächen der Dramenpersonen, auffallend ist nach V allerdings die erste, ausführliche und naiv überladene Bühnenbeschreibung, die zwar um ein realistisches Bühnenbild der Eislandschaft der Antarktis, in der der erste Akte spielt, bemüht ist, zugleich aber eine ungewöhnlich hervorgehobene Bedeutung der Lichtgestaltung erkennen lässt. Würden die Anweisungen für die Lichtwechsel des ersten Akts auf der Bühne realisiert, stellten sie die Schauspieler sprichwörtlich in den Schatten. Dagegen wird der Beleuchtung für den zweiten und dritten Akt, die in dem begrenzten, eingeengten Raum eines bürgerlichen Wohnzimmers spielen, keine besondere Bedeutung beigemessen. Die ungewöhnlich ausführliche Beschreibung der Bühnenbeleuchtung im ersten Akt, bei der das Licht als wichtiger und eigenständiger Bestandteil der Inszenierung erscheint, lässt sich theater- und dramengeschichtlich an einem Punkt zu Beginn des 20. Jahrhunderts ansiedeln, an dem die Beleuchtung insgesamt an Bedeutung für die Inszenierungspraxis gewann. Eine weitere Besonderheit besteht in der Rolle des Kartenspiels im Stück, der Tarockpartien, die eine zweite, situationsbedingte Kommunikationsebene im Drama öffnen. Die auf das Spiel bezogenen Aussagen scheinen die übrigen Gespräche der Personen zu kontaminieren, wodurch eine Vermischung zweier semantischer Ebenen entsteht. Nach dieser Logik des Doppelspiels wird etwa die Karte des Herzkönigs mit einer Figur des Dramas parallelisiert. Das Stück enthält ferner Momente der Kulturkritik und der Kritik an der Kleinstadtmentalität in der Provinz der untergehenden k. u. k. Monarchie, doch werden dabei die nationalen Spannungen völlig ausgeklammert. Insgesamt kommt in Die Kringhäusler K s Fähigkeit zum Ausdruck, auch auf sprachlicher Ebene eine regionale kulturelle Identität nachzuzeichnen, die durch Interferenzen der slowenischen und der deutschen Kultur entstanden war. KatharinaW stellt in ihrem Beitrag die Brünner Kleinkunstbühne „Kleinkunst im Freien“, kurz: KIF, vor und geht damit auf einen bisher unbeachteten Mosaikstein der Brünner Kultur- und Theatergeschichte ein. Die Besonderheit der Kleinkunstbühne gegenüber anderen theatralen Formen sieht W in dem Zusammenspiel der einzelnen Komponenten und der verschiedenen Genres. Dies beschreibt sie als eine „Kunst des Dazwischen“, in der sich die einzelnen Bestandteile verändern und durch Zusammenspiel und Bezugnahme neue Qualitäten gewinnen. Sie verfolgt dabei eine doppelte Absicht: Zum einen zeichnet sie die Geschichte der CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 10 Einleitung Protagonist/innen und Vorstellungen der KIF nach, zum anderen unternimmt sie eine begriffliche Bestimmung der Kleinkunst im Brünn der Zwischenkriegszeit als Kunst des Dazwischen in mehrfachem Sinn. Mit dem von der Theaterhistorikerin Jacky B in Anlehnung an den Begriff der Intertextualität geprägten Konzept der „Intertheatralität“ bietet sich eine Beschreibungsform für das Programm der Brünner Kleinkunstbühne an, das sich durch ein besonders hohes Maß an Verweisen und Bezügen der einzelnen Programmpunkte untereinander auszeichnet. Nach dem Gedanken der Intertheatralität sind theatrale Ereignisse nicht isoliert zu betrachten, sondern stets in ein Netz aller in einer Gesellschaft existierender theatraler Formen eingebunden. In der KIF wird diese allgemeine Idee der Intertheatralität nochmals durch den forcierten Einsatz parodistischer Formen betont. Diese theatrale Vernetzung schließt auch die Interaktion zwischen Darstellenden und Publikum sowie der Darstellenden untereinander ein, die die Darbietungen auf Kleinkunstbühnen – Tänze, Chansons, Einakter oder die Conférence – in ganz besonderer Weise charakterisiert. Gerade die Porosität, die Brüchigkeit zwischen den Einzelteilen, die Risse, Übergänge und Bezüge zwischen ihnen, stellen ein wichtiges Merkmal der KIF dar. Die Brünner „Kleinkunst im Freien“ befindet sich in mehrfacher Hinsicht in einem Zustand des Dazwischen: Auf einer gemeinsamen Provinzbühne verbinden sich Sprech- und Musiktheater sowie Theater und Kleinkunst, als Kabarett der Zwischenkriegszeit bildet die KIF eine theatrale Experimentierwerkstatt, sie liefert eine Kunstform zwischen den Genres, eine Unterhaltung zwischen Ulk und politisch-literarischer Satire, sie befindet sich in sommerlichem Schwebezustand zwischen den Theatersaisonen, sie ist aber auch ein gefährdeter Zwischenraum auf den Lebenswegen der beteiligten Künstler/innen. Friedrich G steuert zum Abschluss der letzten Themenrubrik dieses Hefts eine ausführliche Rezension von Jitka L s 800-seitiger und in 30-jähriger Forschungsarbeit entstandener Monografie über die Geschichte des Prager deutschen Theaters von 1845 bis 1945 bei. Die Monografie ist nur auf Tschechisch erschienen (Prag 2012). G bietet hier eine deutsche Zusammenfassung des Buchs und liefert mit dieser Übersetzung zum ersten Mal auch deutschen Lesern einen Einblick in die Arbeit. In der hier nachgezeichneten Geschichte des Prager deutschen Theaters spiegeln sich dabei zugleich auch die politisch-historischen, sprachlichen und kulturellen Entwicklungen der Zeit und des Orts wider. Mit der Zusammenstellung so multipler, auch transnationaler und transdisziplinärer Perspektiven kommt diese Themennummer der Germanoslavica gleichzeitig dem jüngeren Credo einer kulturwissenschaftlichen und kulturenübergreifenden Öffnung der Zeitschrift nach. Insgesamt sollen die in diesem Heft zusammengestellten Beiträge einen Blick auf die Möglichkeiten der Erforschung eines gattungs- CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 Einleitung 11 grenzen- und kulturenüberschreitenden Paradigmas aus einer Perspektive jenseits der Nationalitäten liefern. Dieses Heft ist damit nicht zuletzt auch der Versuch, die west- und osteuropäische, die germanistische und slawistische Wissenschaft zusammenzubringen in der Arbeit an einem gemeinsamen, von Grund auf grenzüberschreitenden Forschungsgegenstand. Dieses Heft ist auch das Ergebnis der vertraglichen Zusammenarbeit zwischen dem Slawischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik und dem Belgischen Germanistenund Deutschlehrerverband für die Jahre 2012 bis 2014. Die gemeinsamen Begegnungen, Bemühungen und Überlegungen zwischen Siegfried U und Achim K wurden auch von ihrem Wunsch geleitet, den Horizont zwischen West und Ost etwas weiter zu machen, Verbindungen zu schaffen und Dialoge zu fördern.