Source: Germanoslavica Germanoslavica Location: Czech Republic Author(s): Sabine Gruber Title: „Nun fiel es mir zum ersten Male ein, die Kirche mit dem Theater zu vergleichen“ Theaterereignisse als säkulare Erweckungserlebnisse “Now, for the first time, it came to my mind to compare church to theatre” Theatre Events as Secular Epiphanies in Autobiographical Writing Issue: 2/2014 Citation style: Sabine Gruber. "„Nun fiel es mir zum ersten Male ein, die Kirche mit dem Theater zu vergleichen“ - Theaterereignisse als säkulare Erweckungserlebnisse". Germanoslavica 2:32- 42. https://www.ceeol.com/search/article-detail?id=281830 The Central and Eastern European Online Library The joined archive of hundreds of Central-, East- and South-East-European publishers, research institutes, and various content providers You have downloaded a document from CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 II Theatralität in Narration und Historiographie des 18. und 19. Jahrhunderts „Nun fiel es mir zum ersten Male ein, die Kirche mit dem Theater zu vergleichen“ – Theaterereignisse als säkulare Erweckungserlebnisse in Autobiographik und Dichtung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts1 Sabine G r u b e r In autobiographies as well as in literary works of the late 18th and the early 19th centuries, the first encounter of young people with theatre is often described in accordance with patterns of biblical conversions or medieval lives of the saints (e.g. in the autobiographical notes by Johann Karl L , August K und August Wilhelm I but also in “Wilhelm Meister” and “Anton Reiser”). The reason for the fact that analogies between theatre and church could be discussed from the late 18th century only, can be found in the differentiation of the system of art as an independent system in this age. The comparisons were meant to promote careers dedicated to the theatre in the age of change in German-language theatre and to emphasize that theatre, similar to religion, is not subservient to anything. Careers of theatre makers were described as careers connected to a “choice” by art that permitted a life in a distance from banalities of everyday life. It is in rare occasions only that careers dedicated to theatre were interpreted as doomed. „Saulus aber schnaubte noch mit Drohen und Morden gegen die Jünger des Herrn […]. Als er aber auf dem Wege war und in die Nähe von Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel; Er aber sprach: Herr, wer bist du? Der sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst. Steh auf und geh in die Stadt; da wird man dir sagen, was du tun sollst. […] Saulus aber richtete sich auf von der Erde; und als er seine Augen aufschlug, sah er nichts. Sie nahmen ihn aber bei der Hand und führten ihn nach Damaskus; und er konnte drei Tage nicht sehen und aß nicht und trank nicht. Es war aber ein Jünger in Damaskus mit Namen Hananias; dem erschien der Herr und sprach: Hananias! […] Steh auf und geh in die Straße, die die Gerade heißt, und frage in dem Haus des Judas nach einem Mann mit Namen Saulus von Tarsus. Denn siehe, er betet und hat in einer Erscheinung einen Mann gesehen mit Namen Hananias, der zu ihm hereinkam und die Hand auf ihn legte, damit er wieder sehend werde […]: Geh nur hin; denn dieser ist mein auserwähltes Werkzeug, dass er meinen Namen trage vor Heiden und vor Könige 1 Für wichtige Hinweise danke ich Dr. Helmut H (Mainz) und meinem Mann Ralph Z . CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 „Nun fiel es mir zum ersten Male ein, die Kirche mit dem Theater zu vergleichen“ 33 und vor das Volk Israel. […] Und Hananias ging hin und kam in das Haus und legte die Hände auf ihn und sprach: Lieber Bruder Saul, der Herr hat mich gesandt, Jesus, der dir auf dem Wege hierher erschienen ist, dass du wieder sehend und mit dem Heiligen Geist erfüllt werdest. Und sogleich fiel es von seinen Augen wie Schuppen und er wurde wieder sehend; und er stand auf, ließ sich taufen […].“2 So berichtet die biblische Apostelgeschichte über die Bekehrung des Saulus. Wichtige Elemente der Erzählung sind die mit demAuftreten Jesu verbundene Lichterscheinung, die anschließende Blindheit des Saulus und seine Befreiung von ihr, durch die es Saulus „wie Schuppen“ „von seinen Augen“ fällt. Dabei wird er nicht nur wieder sehend, sondern für ihn wird zugleich eine umfassende Lebenswende eingeleitet, die aus Saulus den Christen Paulus macht. Ähnlichen Grundmustern, einer plötzlichen, eine Lebenswende markierenden Begegnung mit Gott oder einem Boten Gottes, folgen auch die zahlreichen, unter anderem in der Legenda Aurea überlieferten apokryphen Heiligenlegenden. Auch in diesen mittelalterlichen Heiligenviten markiert häufig eine Lichterscheinung und eine Heilung von einer realen oder auch nur subjektiv wahrgenommenen Blindheit die Begegnung mit Gott. Vor allem die nur subjektiv wahrgenommene Blindheit kann Zeichen dafür sein, dass in der Bekehrung „das vergangene Leben reinterpretiert“3 und das zukünftige Leben „in einem veränderten gesellschaftlichen Beziehungsnetz“4 neu ausgerichtet wird. Bei den meisten Heiligenlegenden erfolgt die Bekehrung ähnlich wie bei dem biblischen Damaskus-Erlebnis plötzlich und schockartig. In der von T C aufgezeichneten Vita des Heiligen F A erfolgt sie dagegen in einem längeren, sich allmählich vollziehenden Prozess.5 Eine ähnlich wie das Damaskus-Erlebnis schockartig über den Protagonisten hereinbrechende und mit Lichterscheinungen verbundene Bekehrung schildert ein biographischer Beitrag aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: „Endlich kam der ersehnteAbend heran und mit bangem und sehnsüchtigen Herzklopfen saß ich zwischen Vater und Mutter vor dem verhängnisvollen Vorhange; – dieser rollte hinauf und es war, als wäre plötzlich ein Schleier vor meinen Augen zerrissen und eine neue Welt, ein wahres Leben vor mir eröffnet. Ich fühlte eine innere Freudigkeit in meinem Gemüthe, die ich mir damals nicht zu enträthseln vermochte, ein Gefühl, dem gleich, wenn man lange im Finstern ängstig umhergetappt und auf einmahl unerwartet ins milde Licht geleitet wird […].“6 2 Apostelgeschichte 9, 1–18. Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, rev. Fass. v. 1984, Ausg. in neuer Rechtschreibung, Stuttgart 1984. 3 Otto B : Bekehrung/Konversion. Religionsgeschichtlich, in: RGG. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 1: A–B, 4. Aufl., Tübingen 1998, Sp. 1228–1239, hier Sp. 1228. 4 Ebd. 5 Vgl. Jacques L G : Franz von Assisi, 2. Aufl., Stuttgart 2007, S. 53. 6 Lebens-Abriß des teutschen dramatischen Künstlers Johann Karl Liebich, Unterneh- CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 34 Sabine Gruber Auch hier zerreißt ein Vorhang vor den Augen und die Welt erscheint in einem neuen, überraschenden Licht,7 und auch hier leitet das Erlebnis eine umfassende Lebenswende des jungen Protagonisten ein. Auslöser dieser Lebenswende ist jedoch keine Begegnung mit Gott oder einem Boten Gottes, sondern der erste Besuch des Protagonisten im Theater. Bei dem Text handelt es sich um ein Zitat aus den nur fragmentarisch erhaltenen und erstmals 1817 in der Zeitschrift Der Gesellschafter erschienenen8 autobiographischen Aufzeichnungen von Johann Karl L , dem in seiner Zeit berühmten Direktor des Prager Ständetheaters. Das einzige Wort, das hier nicht zur Beschreibung eines Bekehrungserlebnisses zu passen scheint und den Gesamteindruck stört, ist das Wort „verhängnisvoll“. Ähnliche, scheinbar banal mit der faszinierenden Wirkung eines aufgehenden Theatervorhangs auf ein Kind erklärbare und gleichwohl einschneidende Erlebnisse finden sich auch in anderen autobiographischen Beiträgen der Zeit, so auch in der Autobiographie August Wilhelm I s, die ebenfalls den ersten Blick des jungen I auf einen aufgehenden Theatervorhang in einen die Ratio transzendierenden Kontext stellt: „Endlich mag das Bild sich verloren haben; wenigstens erinnere ich nichts von allem, was in dem Zeitraume mit mir vorgegangen ist, bis ich das erste Schauspiel gesehen habe. Dieß muß im Jahre 1765 gewesen seyn. Wie ich hier wieder viele Lichter, viele Menschen, einen großen Raum und bunte Farben auf dem Vorhange sah, so stand auf einmal jenes entzückende Bild wieder vor mir. Die Musik, das Hinaufrollen, das Verschwinden des großen Vorhanges, dünkte mich eine Zauberey. Der große, freundliche, helle Raum hinter dem Vorhange war mir unerwartet.“9 Auch die Autobiographie August von K s berichtet vom „Hinaufrauschen“ eines Vorhangs, das dem kindlichen Zuschauer eine neue, unbekannte Welt eröffnet, der es unbedingt angehören will, und die ihn seiner vertrauten Umgebung entfremdet. Hier bricht das Erlebnis allerdings nicht schockartig über den mer und Director des K. ständischen Theaters zu Prag, in: Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz, 1817, S. 289f. 7 Dass die mit dem Aufgehen des Vorhangs verbundene Lichterscheinung stilisiert wurde, zeigt ein Blick auf die zeitgenössische Beleuchtungstechnik, die noch nicht zur Erzeugung derart blendend heller Lichter fähig war. Ähnlich gesteigerte Schilderungen der Theaterbeleuchtung, die diese symbolisch überhöhen und gleichzeitig spätere Möglichkeiten der Beleuchtungstechnik vorwegnehmen, finden sich auch bei E. T. A. H (Vgl. Heide E : Theater in der Erzählkunst. Eine Studie zum Werk E. T. A. Hoffmanns, Tübingen 1977, S. 19f.). 8 Lebens-Abriß des teutschen dramatischen Künstlers Johann Karl Liebich, 73. Blatt, S. 289f., 74. Blatt, S. 294f., 75. Blatt, S. 298f., 76. Blatt, S. 302f., 77. Blatt, S. 306f., 78. Blatt, S. 309–311, 79. Blatt S. 314f., 80. Blatt, S. 318f. 9 August Wilhelm I : Über meine theatralische Laufbahn, Heilbronn 1886, S. 4. CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 „Nun fiel es mir zum ersten Male ein, die Kirche mit dem Theater zu vergleichen“ 35 Protagonisten herein, sondern wird bereits durch eine entsprechend gehobene Stimmung vorbereitet: „Meine Neugier war ohne Gränzen. Mit einem heiligen Schauer betrat ich das Schauspielhaus. Die vielen Lichter, die versammelte Menge, die Schildwachen, die geheimnisvolle Gardine, alles das spannte meine Erwartung aufs höchste. Man gab den Tod Adams, von Klopstock. Der Vorhang rollte auf; ich war ganz Auge, ganz Ohr; mir entging kein Wort, keine Bewegung. Ich kam wie betäubt nach Hause. Man fragte mich, wie es mir gefallen? Ach Gott! gefallen war nicht das rechte Wort. Ich sollte erzählen, und konnte weder Anfang noch Ende finden. Ich wünschte mir, auf der Welt nichts mehr, als das Glück, täglich einem solchen Schauspiele beizuwohnen. Unbegreiflich war es mir, wie die Leute davon so ruhig sprechen und ihre Geschäfte nach wie vor ganz ordentlich betreiben konnten.“10 Nicht nur in Biographien bekannter Theaterautoren und -direktoren wie L , I und K , die die Motivation ihrer Protagonisten für ein dem Theater gewidmetes Leben beschreiben wollen, sondern auch in biographischen Beiträgen über Laien finden sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ähnliche, zu einem religiösen Erweckungserlebnis stilisierte Erstbegegnungen mit dem Theater. So berichtet der Neue Nekrolog der Deutschen über den nicht als Theatermacher, sondern lediglich als Theaterliebhaber hervorgetretenen Karl Conrad Freiherrn T -N : „Da aber schon trat ein Wendepunkt in seiner ersten Neigung ein. Man gestattete dem Knaben den Besuch des Schauspiels. Die erste Vorstellung, welcher er beiwohnte, war die Dittersdorffsche Oper Die Liebe im Narrenhause und unmittelbar darauf Kotzebues Menschenhaß und Reue. Der Eindruck, den diese Vorstellungen auf ihn machten, war so gewaltig und unauslöschlich, daß er sich ausschließlich dem Nachgenusse in der Erinnerung hingab […].“11 Meistens wird die so einschneidende erste Begegnung mit dem Theater als zwar eine Lebenswende markierendes, aber positiv zu bewertendes Erlebnis beschrieben, nur in dem L -Text findet sich immerhin das zur gehobenen Stimmung des Protagonisten nicht recht passende Adjektiv „verhängnisvoll“. Eine Ausnahme machen hierin die Lebensbeschreibungen des als „Theatergrafen“ bekannt gewordenen Karl Friedrich H -N , in denen der Begegnung mit dem Theater eine in der Tat „verhängnisvolle“ und ins Verderben führende Wirkung nachgesagt wird. Diese Lebensbeschreibungen verhalten sich also gegenüber einer Heiligenvita kontrastierend. Die Tatsache, dass Karl Friedrich Graf H -N einen großen Teil seines Vermögens verloren und damit seine Familie nahe an den finanziellen Ruin gebracht hatte, wurde von seinen Biographen auf eine unstillbare 10 Lebensbeschreibungen berühmter und merkwürdiger Personen unserer Zeit, hg. v. C. N (u. a.), Bd. 5, Quedlinburg/Leipzig 1823, S. 13. 11 Neuer Nekrolog der Deutschen, 9 (1831), 2. Teil, Ilmenau 1833, S. 996. CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 36 Sabine Gruber und irrationale Theaterleidenschaft zurückgeführt, die ihm „geradezu den Kopf verdreht“ habe.12 Nicht nur die passive Hingabe an eine neue Erfahrung, der eine lebensverändernde Kraft zugesprochen wird, haben die jugendlichen Protagonisten der zitierten biographischen und autobiographischen Darstellungen mit biblischen Bekehrten und mittelalterlichen Heiligen gemeinsam, sondern auch die Tatsache, dass es nicht bei bloßer Passivität bleibt und das erste Theatererlebnis der Anstoß für eine umfassende Lebenswende und für eine Abkehr von der für den Protagonisten vorgesehenen bürgerlichen Laufbahn oder Adelslaufbahn ist sowie dass die Protagonisten versuchen, sich das zunächst passiv Erlebte durch Nachahmung aktiv anzueignen. August Wilhelm I berichtet beispielsweise, er habe schon bald nach seinem ersten Theaterbesuch versucht, den erlebten Zauber selbst zu erneuern: „Ich suchte allein zu seyn, allein an das zu denken, wovon niemand in meinem Entzücken mit mir reden wollte. Ich zog heimlich die Fenstervorhänge auf und nieder, weil man mich auslachte, daß ich mit diesem Spielwerke den Zauber wieder herstellen wollte.“13 Nicht nur das erste Theatererlebnis selbst wird in den oben angesprochenen und in mehreren weiteren Biographien der Zeit in einen quasi-religiösen Kontext gestellt, indem es sich auf biblische und apokryphe Bekehrungsgeschichten bezieht, sondern auch der Ort, an dem das Erlebnis stattfindet, wird analog zu einer Kirche beschrieben, die traditionell religiösen Erlebnissen einen Raum bietet. In einigen biographischen Texten wird nicht nur eine Analogie beider Räume hergestellt, sondern auch die Ähnlichkeit von Kirche und Theater explizit angesprochen. I schreibt in seiner Autobiographie: „Da ich fleißig in die Kirche geführt wurde, erinnerte man mich einst, daß es besser wäre, dem nachzudenken, was ich dort sähe und hörte, als mich an den Possen zu üben, die ich auf dem Ballhofe gesehen hätte. Nun fiel es mir zum ersten Male ein, die Kirche mit dem Theater zu vergleichen, weil ich hoffte, da ich nicht mehr nach dem Ballhofe geschickt wurde, die Empfindung, die ich vor dem großen Vorhange gehabt hatte, dort wieder zu erneuern. Ich freute mich auf den nächsten Sonntag, und ging rasch und munter den Kirchweg hin.“14 Gehen bei I die Theatererlebnisse seinen Erlebnissen in der Kirche voraus und soll ihm die Kirche als Surrogat für die ihm nicht mehr verfügbaren Theatererlebnisse dienen, verhält es sich bei Johann Karl L umgekehrt. Er gilt zunächst als frommer Junge, weil er so begeistert von kirchlichen Ritualen ist, aus 12 Eduard V : Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation, Bd. 36, Hamburg 1856, S. 127. 13 I , S. 7. 14 Ebd., S. 8. CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 „Nun fiel es mir zum ersten Male ein, die Kirche mit dem Theater zu vergleichen“ 37 späterer Sicht wird jedoch deutlich, dass seine Erlebnisse in der Kirche in Analogie zu seinen Theatererlebnissen und als eine Art Vorstufe zu diesen gesehen werden: „Hätten die guten Leute gewusst, daß es die bunten Gewänder beim Hochamte, das Menschengewühle an den Sonntagen in der Domkirche, der Glanz der hundert Kerzenlichter und die Musik auf dem Chore war, die mich angezogen, ich wäre minder gelobt worden […].“15 Die Muster dieser als säkulare Erweckungsgeschichten beschriebenen Theatererlebnisse sind nicht nur in der Bibel und der hagiographischen Literatur des Mittelalters sowie der frühen Neuzeit, sondern auch in der den biographischen Texten zeitlich unmittelbar vorausgehenden Literatur zu suchen, so in der häufig zitierten Episode aus Wilhelm Meister, in der der Protagonist die aufwändige neue Dekoration seines Elternhauses im Vergleich mit der Faszination des Theatervorhangs nur als einen schwachen Abglanz erleben kann: „Als Wilhelm seine Mutter des andern Morgens begrüßte, eröffnete sie ihm, daß der Vater sehr verdrießlich sei und ihm den täglichen Besuch des Schauspiels nächstens untersagen werde. ,Wenn ich gleich selbst‘, fuhr sie fort, ,manchmal gern ins Theater gehe, so möchte ich es doch oft verwünschen, da meine häusliche Ruhe durch deine unmäßige Leidenschaft zu diesem Vergnügen gestört wird. Der Vater wiederholt immer, wozu es nur nütze sei, wie man seine Zeit nur so verderben könne.‘ [...] ,Diese seidenen Tapeten, diese englischen Mobilien, sind sie nicht auch unnütz? Könnten wir uns nicht mit geringeren begnügen? Wenigstens bekenne ich, daß mir diese gestreiften Wände, diese hundertmal wiederholten Blumen, Schnörkel, Körbchen und Figuren einen durchaus unangenehmen Eindruck machen. Sie kommen mir höchstens vor wie unser Theatervorhang. Aber wie anders ist’s, vor diesem zu sitzen! Wenn man noch so lange warten muß, so weiß man doch, er wird in die Höhe gehen, und wir werden die mannigfaltigsten Gegenstände sehen, die uns unterhalten, aufklären und erheben.‘“16 Ein weiterer wichtiger literarischer Prätext der späteren Autobiographik ist Karl Philipp M ’ Roman Anton Reiser, der wie in den oben zitierten biographischen Texten die Analogie von Kirche und Theater beschreibt. Ist es zunächst Pastor Paulmann, der aufgrund seiner Predigten eine unwiderstehliche Faszination auf den jungen Anton ausübt, ist es später das Theater, das eine ähnliche Gegenwelt zur Alltagswelt repräsentiert wie die Kirche. Versucht er zunächst, die Welt des Pastors Paulmann durch Imitation seiner Deklamation nachzuahmen, tut er das gleiche später in Bezug auf das Theater, und wie I die nicht erneuerbaren Theatererlebnisse durch Besuche in der Kirche erneuern wollte, versuchte Anton R Erlebnisse, die er zuvor in der Kirche hatte, im Theater wieder- und besser zu erleben: „Insbesondre zog er sich alles aus, was das Theater anging, denn diese Idee war jetzt schon die herrschende in seinem Kopfe und gleichsam schon der Keim zu allen seinen künftigen Widerwärtigkeiten. Durch das Deklamieren in Sekunda war sie 15 Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz, 1817, S. 289f. 16 Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 7, 2. Aufl., Hamburg 1955, S. 11f. CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 38 Sabine Gruber zuerst lebhaft in ihm erwacht und hatte die Phantasie des Predigens allmählich aus seinem Kopf verdrängt – der Dialog auf dem Theater bekam mehr Reize für ihn als der immerwährende Monolog auf der Kanzel. – Und dann konnte er auf dem Theater alles sein, wozu er in der wirklichen Welt nie Gelegenheit hatte – und was er doch so oft zu sein wünschte – großmütig, wohltätig, edel, standhaft, über alles Demütigende und Erniedrigende erhaben – wie schmachtete er, diese Empfindungen, die ihm so natürlich zu sein schienen und die er doch stets entbehren mußte, nun einmal durch ein kurzes, täuschendes Spiel der Phantasie in sich wirklich zu machen. – Das war es ohngefähr, was ihm die Idee vom Theater schon damals so reizend machte. – Er fand sich hier gleichsam mit allen seinen Empfindungen und Gesinnungen wieder, welche in die wirkliche Welt nicht paßten. – Das Theater deuchte ihm eine natürlichere und angemeßnere Welt als die wirkliche Welt, die ihn umgab.“17 Die Nähe der (auto-)biographischen Texte zur zeitgenössischen und zeitlich unmittelbar vorausgehenden Literatur lässt sich nicht nur damit erklären, dass fremde oder eigene Lebensläufe im Rückblick literarisch überhöht wurden, sondern auch damit, dass zeitgenössische Diskurse über das Theater sowohl in der Biographik als auch in der Belletristik ihre Spuren hinterließen. Hagiographische Literatur ist als Erbauungsliteratur stark von der mit ihr verknüpften Funktion bestimmt, „für die der Hagiograph das Leben und Sterben eines Heiligen schrieb.“18 Daran anknüpfend stellt sich die Frage, welchen Nutzen die Autoren biographischer Texte damit verfolgten, Lebensläufe analog zum Narrativ religiöser Erweckung zu erzählen und den Theaterenthusiasten zwar nicht als von Gott, aber ebenso wie Heilige ohne eigenes Zutun und gegen den Willen seiner Umgebung von der Kunst Erwählten darzustellen. Zwar ist unbestreitbar, dass „Gottesdienst und Theater, das Religions- und das Kunstsystem […] auf vergleichbare Art und Weise“ verlaufen,19 es ist aber auffällig, dass die oben genannten Analogien von Theater und Kirche erst seit dem späten 18. Jahrhundert diskutiert werden.20 Das liegt zum einen daran, dass derartige Vergleiche erst mit der Ausdifferenzierung des Systems der Kunst als eines eigenständigen Systems möglich wurden. Erst mit der Ausgliederung eines eigenständigen Systems Kunst und der sich in der Folge entwickelnden Vorstellungen einer Kunstreligion 17 Karl Philipp M : Anton Reiser, Frankfurt/M. 1979, S. 169–171. 18 Hagiographie II. Römisch-katholische Kirche 1. Mittelalter, in: Die Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. 14: Gottesdienst – Heimat, Berlin/New York 1985, S. 365– 370. 19 Michael M -B : Liturgiegeschichte als Theatergeschichte. Ein Gang durch die Geschichte des evangelischen Gottesdienstes mit Seitenblicken auf die Theatergeschichte, in: „Gottesdienst und Dramaturgie“. Liturgiewissenschaft und Theaterwissenschaft im Gespräch, hg. v. Irene M , Klaus R und Wolfgang , Leipzig 2010, S. 61–78, hier S. 77. 20 Siehe hierzu auch die erste Publikation, die sich ausführlich mit dem Verhältnis von Kirche und Theater auseinandersetzt: Heinrich A : Theater und Kirche in ihrem gegenseitigen Verhältnis historisch dargestellt, Berlin 1846. CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 „Nun fiel es mir zum ersten Male ein, die Kirche mit dem Theater zu vergleichen“ 39 war die Analogisierung von Kirche und Theater moralisch vertretbar und rational nachvollziehbar. Bereits einige Jahre später war es möglich, dass W (gleichzeitig ein Wegbereiter so genannter Kunstreligion) Theatererlebnisse nicht mehr aus religiösen Erlebnissen herleitete, sondern umgekehrt Religiosität als Theatralik entlarvte: „Hier habe ich recht deutlich bestätigt gefunden, wovon Nicolai erzählt: jenes starre Aufschlagen des Blickes beym Gebet, [...] jene unansehnlichen, schnellen u stummen Lippenbewegungen, beym Beten; [...] Der geübteste Schauspieler kann ein feuriges Gebet nicht treuer u vollkommener darstellen, als es diesen Leuten zur Gewohnheit geworden ist, u als ich besonders an einem kleinen Mädchen bemerkte.“21 Die Ausdifferenzierung der Kunst als eines eigenständigen Systems erklärt jedoch nur, weshalb Vergleiche zwischen Kirche und Theater seit dem späten 18. Jahrhundert möglich und akzeptabel waren, aber nicht, welches Ziel damit verfolgt wurde, Lebensläufe von Theatermachern und Theaterinteressierten zu säkularen Heiligenviten umzugestalten. Insbesondere der Lebenslauf L hat neben seinem quasi-religiösen theatralen Initiationsereignis vieles gemeinsam mit den regelmäßigen Anfechtungen der Heiligen durch eine verständnislose Umgebung, von denen ihre Viten meistens geprägt sind, etwa wenn sein Vater dem jungen L drohte: „Ich schlage dir alle Knochen entzwei [...] wenn ich erleben sollte, daß ich Sorge, Mühe und Geld für deine Erziehung umsonst verschwendete, um dich am Ende als einen elenden Komödianten in der Welt herumziehen zu sehen.“22 Im späten 18. Jahrhundert befand sich vor allem das deutschsprachige Sprechtheater in einer Umbruchsphase. Während die bildenden Künstler bereits im 17. Jahrhundert begonnen hatten, sich zu professionalisieren, sahen sich Schauspieler „im Gegensatz zu bildenden Künstlern dem Vorwurf der Prostitution und Ehrlosigkeit ausgesetzt, da ihr Körper als temporäre ‚Handelsware‘ genutzt wurde“. Im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts wurde dieses harte Verdikt über den Beruf des Schauspielers zwar nach und nach abgemildert, er blieb aber weiterhin suspekt und die Existenz der Schauspieler prekär,23 und die bürgerlichen Schichten hatten zunächst die „jahrhundertelange Ablehnung des Theaters von christlicher Seite“24 21 Wilhelm Heinrich W . Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Silvio V u. Richard L , Heidelberg 1991, Bd. 2: Briefwechsel. Reiseberichte. Philologische Arbeiten. Das Kloster Netley. Lebenszeugnisse, S. 203. 22 Der Gesellschafter, 1817, 302. 23 Anja H : „[…] ein ächter Künstler muß sich schämen, so große Einnahmen zu veröffentlichen!“ Schauspieler und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, in: Gabriele B – Helga F – Markus W (Hgg.): Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste, Tübingen 1998, S. 361–372, hier S. 363. 24 Vgl. ebd. sowie Erika F -L : Geschichte des Dramas. Epochen der Iden- CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 40 Sabine Gruber in säkularisierter Form übernommen. Die Situation war also keinesfalls so, dass Schauspieler ein ähnliches Ansehen genossen hätten wie Geistliche, deren hohes Ansehen gleichwohl seit dem späten 18. Jahrhundert im Schwinden begriffen war. Eher ist, wie die oben zitierte Gottesdienstbeschreibung Wilhelm Heinrich W zeigt, im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zu bemerken, dass die Kirche in abwertender Weise mit Theatralik in Verbindung gebracht wird.25 Dieses galt jedoch nur für die in der Regel noch nicht sesshaften deutschsprachigen Schauspielgesellschaften, nicht für die italienischen Opernsänger, die an den Höfen hohe Achtung genossen. Die Einstellung des bürgerlichen Publikums gegenüber deutschsprachigen Schauspielern war zwiespältig und bewegte sich zwischen Hochachtung für deren Leistungen auf der Bühne und gleichzeitiger Verachtung ihrer unbürgerlichen Lebenssituation.26 Noch 1787, ein Jahr bevor der Vater Johann Karl L dessen fragmentarischer Autobiographie zufolge drohte, ihm alle Knochen zu brechen, wenn er den Beruf des Schauspielers ergreife, rät „der Verfasser des Aufsatzes ‚Versuch über den Stand und die Schätzung der Schauspieler‘ davon ab, den Beruf des Schauspielers zu ergreifen, wenn man sich in der Lage sieht, ein anderes Metier zu wählen, in dem weniger Vorurteile zu überwinden sind.“27 In die gleiche Zeit fallen jedoch auch zahlreiche Versuche, dem Schauspielerberuf durch verschiedene Maßnahmen zu bürgerlichem Ansehen zu verhelfen. Zu nennen sind dabei vor allem die Bemühungen um eine professionellere Ausbildung der Schauspieler, die Einrichtung fester Spielstätten für die deutschsprachigen Schauspielgesellschaften, vor allem die Gründung des Hamburger Nationaltheaters,28 und Versuche, Schauspielern beispielsweise durch die Gründung von Pensionskassen eine verlässliche finanzielle Lebensgrundlage zu verschaffen, wie Johann Karl L dies als Direktor des Prager Ständetheaters praktizierte.29 tität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 1: Von der Antike bis zur deutschen Klassik, 3. Aufl., Tübingen/Basel 2010, die in diesem Zusammenhang vor allem die Aktivitäten Conrad E s nennt. 25 Hans H : Theater und Pädagogik. Grundlagen, Kriterien, Modelle pädagogischer Theaterarbeit, Münster 2003, S. 160. 26 In Anton Reiser finden sich zahlreiche Bemerkungen, die in eine gegenteilige Richtung weisen und in – die reale Situation verkennender – Weise die Annahme äußern, das Theater bringe für seine Protagonisten eine gesellschaftliche Aufwertung mit sich. Sie können somit als Hinweise auf die Realitätsfremdheit und Realitätsflucht des Romanprotagonisten gedeutet werden (vgl. Eckehard C , Karl Philipp Moritz und die Ursprünge der deutschen Theaterleidenschaft, Tübingen 1962, S. 100). 27 Vgl. Sybille M -S : Deutsches Theater im 18. Jahrhundert, Tübingen 1982, S. 103. 28 Zit. nach: ebd., S. 105. 29 Vgl. ebd., S. 112. CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 „Nun fiel es mir zum ersten Male ein, die Kirche mit dem Theater zu vergleichen“ 41 Diese Versuche, den Schauspielerberuf in die bürgerliche Kultur zu integrieren, gingen zeitlich mit der oben beschriebenen Hagiographisierung von Lebensläufen im Zeichen des Theaters einher. Die diskursive Aufwertung des Standes der Schauspieler und Theatermacher in Autobiographik und Dichtung war also verbunden mit Versuchen, ihm in lebenspraktischer Weise – durch die oben genannten Maßnahmen – zu mehr Ansehen zu verhelfen. Diese doppelte Strategie ist zwar nachvollziehbar, erklärt jedoch auch noch nicht, weshalb sich die Autoren der biographischen Texte, aber auch der literarischen Texte mit Bezug auf das Theater hierzu der Sprache der Religion bedienten, die durch die eben erst erfolgte Ausgliederung des Systems der Kunst erst für nicht religiöse Kontexte verfügbar geworden war. Der zeitgenössische Diskurs über die Kunstreligion zeigt, dass beide, Kunst und Religion, als Phänomene gesehen wurden, die sich dem rationalen und mit benennbaren Zwecken verbundenen Gefüge der Alltagswelt entziehen. Wenn in Bezug auf die Kunst und hier insbesondere die Schauspielkunst religiöse Sprache verwendet wurde, dann geschah das also vor allem in der Absicht, zu betonen, dass sich Kunst wie Religion jeder Dienstbarmachung im Sinne eines damit verbundenen Zwecks entzieht. Wenn von Lebenswenden, die zur Abkehr von bürgerlichen oder adligen Lebensläufen und zur Hinwendung zum Theater führen, in religiöser Terminologie gesprochen wird, wird damit außerdem betont, dass von der Schauspielkunst eine ebenso starke Macht ausgeht, wie von einer göttlichen Instanz, und dass derjenige, der in den Einfluss dieser Macht gerät, sich ihr nicht mehr willkürlich entziehen kann, sondern sich der höheren Macht beugen muss. Nach dieserArgumentation war F A sAbkehr von seinem Leben in Luxus und seine Hinwendung zu einem Leben in Armut und Einfachheit genauso wenig von dessen Willen abhängig, wie die gegen das elterliche Verdikt verteidigte Entscheidung L s für die Schauspielkunst es war. Die religiöse Sprache betont zudem, dass dies nicht – wie beim oben genannten „Theatergrafen“ – im Zeichen des Verhängnisses geschieht, sondern im Zeichen einer Erwählung, hier durch die Kunst, dort durch die göttliche Instanz, die zugleich eine Auszeichnung des Erwählten ist. Anders als bezüglich des „Theatergrafen“ wird die Erwählung des Protagonisten durch die darstellende Kunst in den meisten Autobiographien und Biographien des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts als Aufwertung eines vorher in alltäglich-banalen Bahnen verlaufenden Lebenslaufes verstanden. Nur wenige Texte erzählen die Entscheidung für das Theater in traditioneller und vermutlich durch das alte kirchliche Verdikt über das Theater beeinflusster Weise als einen Weg in das Verderben. Es lässt sich festhalten, dass Umbruchszeiten gesellschaftliche Diskurse generieren, die sowohl die Dichtung als auch die Autobiographik in ähnlicher Weise prägen können. Dabei ist die Richtung der Wechselwirkungen zwischen Autobio- CEEOL copyright 2024 CEEOL copyright 2024 42 Sabine Gruber graphik und Dichtung nicht immer eindeutig feststellbar und beide können sich wechselweise beeinflussen. Die Diskurse, die im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert in Autobiographien und Dichtung über das Theater geführt wurden, dienten einer moralischen Legitimierung des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses im Bereich der Theaterkunst. War auf der einen Seite die Anknüpfung an die Religion als stärkste moralstiftende Kraft logisch, so wurde sie doch erst möglich, weil die Lösung religiöser Diskursformen von religiösen Inhalten als Folge der Relativierung von Religion denkbar wurde. Insofern spiegelt sich in der Parallelsetzung von Theater und Religion nicht nur eine Aufwertung der Ersteren wider, sondern auch eine Positionsveränderung der Letzteren, die schließlich zu einem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust führen sollte.