Gérard Genette: Palimpseste. die Literatur auf zweiter Stufe. Fünf Typen der Transtextualität S. 10 I Heute (am 13. Oktober 1981) glaube ich fünf Typen transtextueller Beziehungen unterscheiden zu können, die nun in der Reihenfolge zunehmender Abstraktion, Implikation und Globalität aufgezählt werden sollen. Der erste wurde vor einigen Jahren von Julia Kristeva^1 unter der Bezeichnung Intertextualität erforscht, und dieses Wort liefert uns unser terminologisches Paradigma. Ich definiere sie wahrscheinlich restriktiver als Beziehung der Kopräsenz zweier oder mehrerer Texte, d.h. in den meisten Fällen, eidetisch gesprochen, als effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text. In ihrer einfachsten und wörtlichsten Form ist dies die traditionelle Praxis des Zitats^1 (unter Anführungszeichen, mit oder ohne genaue Quellenangabe); in einer weniger expliziten und auch weniger kanonischen Form die des Plagiats (etwa bei Lautréamont), das eine nicht deklarierte, aber immer noch wörtliche Entlehnung darstellt; und in einer noch weniger expliziten und weniger wörtlichen Form die der Anspielung, d. h. einer Aussage, deren volles Verständnis das Erkennen einer Beziehung zwischen ihr und einer anderen voraussetzt, auf die sich diese oder jene Wendung des Textes bezieht, der ja sonst nicht ganz verständlich wäre: Wenn also etwa Mme des Loges beim Sprichwortspiel mit Voiture ihm erklärt: <> [Dieser taugt nichts, zapfen Sie uns einen anderen an], hat das Verb percer (im Sinn von <>) nur dann seine Berechtigung und kann nur dann verstanden werden, wenn man weiß, daß Voiture Sohn eines Weinhändlers war [<>: ein Faß anstechen]. Oder wenn - in einem akademischeren Register - Boileau an Ludwig XIV. schreibt: Au recit que pour toi je suis pret d' entreprendre, Je crois voir les rochers accourir pour m'entendre^3 [Zu der Erzählung, die ich bereit bin, für dich zu beginnen, glaube ich Felsen heranrollen zu sehen, die mir zuhören wollen], dann würden diese höchst munteren und neugierigen Felsen wahrscheinlich jedem, der mit der Legende von Orpheus und Amphion nicht vertraut ist, absurd erscheinen. Die implizite (und manchmal zur Gänze hypothetische) Verfassung des Intertextes stellt seit einigen J. Kristeva, Semeidtike, Paris: Seuil, 1969. Zur Geschichte dieser Technik vgl. die Habilitationsschrift A. Compagnons, La Seconäe Main, Paris: Seuil 1979. Das erste Beispiel stammt aus dem Artikel allusion von Dumarsais' Traktat Les Tropes, das zweite aus den Figures du discours Fontaniers. Jahren das hauptsächliche Arbeitsgebiet Michel Riffaterres dar, der die Intertextualität im großen und ganzen weit umfassen- der definiert, als ich es hier tue; seine Definition schließt offenbar auch alles das ein, was ich als Transtextualität bezeichne: <>, so schreibt er etwa, <>, wobei er so weit geht, in seiner Sicht die Intertextualität (wie ich die Transtextualität) mit der Literarität gleichzusetzen: <>^1 Dieser prinzipiellen Ausweitung steht faktisch eine Ein- schränkung gegenüber, da die von Riffaterre untersuchten Bezüge durchweg semantisch-stilistische Mikrostrukturen in der Größen- ordnung eines Satzes, Fragmentes oder eines kurzen, im allgemei- nen poetischen Textes betreffen. Die <> des Intertextes im Sinn Riffaterres bezieht sich somit (wie die Anspielung) eher auf einzeln vorkommende Figuren (auf Details) als auf ein in seiner Gesamtstruktur betrachtetes Werk, dessen Bezüge in den hier un- tersuchten Bereich fallen. H. Blooms Buch über die Mechanismen literarischer Einflußnahme^2 behandelt - bei völlig verschiedener Vorgangsweise - genau diesen Typus von eher intertextuellen als hypertextuellen Interferenzen. Der zweite Typus betrifft die im allgemeinen weniger explizite und weniger enge Beziehung, die der eigentliche Text im Rahmen des von einem literarischen Werk gebildeten Ganzen mit dem unterhält, was man wohl seinen Paratext^3 nennen muß: Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen; Motti; Illustrationen; Waschzettel, Umschlag und viele andere Arten zusätzlicher, auto- oder allographer Signale, die den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten und manchmal mit einem offiziellen oder offiziösen Kommentar versehen, dem 1. M. Riffaterre, La trace de l'intertexte, in: la Pensee, Oktober 1980; La syllepse intertextuelle, in: Poetique, 40, November 1979. Vgl. La Production du texte, Paris: Seuil, 1979, und Semiotique de lapoesie, Paris: Seuil, 1982. 2. H. Bloom, The Anxiety of Influence, Oxford: Oxford U. P., 1973 ff. 3. Dieser Begriff ist hier in einem mehrdeutigen, ja sogar heuchlerischen Sinn zu verstehen, wie er etwa in Adjektiven wie parafiskalisch oder paramilitärisch zum Ausdruck kommt. sich auch der puristischste und äußeren Informationen gegenüber skeptischste Leser nicht so leicht entziehen kann, wie er möchte und es zu tun behauptet. Ich will hier nicht versuchen, das - zukünftige? - Forschungsgebiet dieser Beziehungen anzuschneiden und ihm so den Reiz zu nehmen; wir werden ausreichend Gelegenheit bekommen, uns mit ihnen zu beschäftigen. Das Feld dieser Beziehungen stellt zweifellos einen privilegierten Ort der pragmatischen Dimension des Werkes dar, d.h. seiner Wirkung auf den Leser - und insbesondere den Ort dessen, was man seit Philippe Lejeunes Arbeiten über die Autobiographie den Gattungsvertrag (oder -pakt) nennt.^1 Als Beispiel (und als Vorgriff auf eines der folgenden Kapitel) möchte ich hier nur den Ulysses von Joyce anführen. Wie bekannt, enthielt dieser Roman bei seinem Vorabdruck in mehreren Folgen Kapitelüberschriften, die auf die Beziehung jedes dieser Kapitel zu einer Episode der Odyssee hinwiesen: <>, <>[2], <> usw. Als der Roman in Buchform erschien, hatte Joyce diese Zwischentitel, die doch äußerst bedeutsam gewesen wären, gestrichen. Stellen nun diese verschwundenen, von den Kritikern aber nicht vergessenen Zwischentitel einen Bestandteil des Textes des Ulysses dar oder nicht? Diese heikle Frage, die ich gerne den Verfechtern der Textimmanenz anheimstelle, gehört eindeutig dem Bereich paratextueller Beziehungen an. Ähnlich kann auch ein <> in der Form von Entwürfen, Skizzen oder verschiedenen Ideensammlungen als Paratext funktionieren: Die Tatsache etwa, daß sich Lucien und Mme de Chasteller schließlich wiederfinden, geht aus dem Text von Lucien Leuwen genaugenommen nicht hervor; einziger Beleg dafür ist ein Entwurf des Schlusses, der von Stendhal mitsamt dem ganzen Roman aufgegeben wurde. Sollen wir ihn nun in unsere Beurteilung der Handlung und der Charaktere der Personen mit einbeziehen? (Oder grundsätzlicher: Sollen wir einen postumen Text, aus dem nicht hervorgeht, ob und in welcher Form er veröffentlicht worden wäre, wenn der Autor länger gelebt hätte, überhaupt lesen?) Es kommt aber auch vor, daß ein Text zum Paratext eines anderen wird: Soll sich der Leser von Bonheur fou (1957)[3], 1 Dieser Begriff ist recht optimistisch, was die Rolle des Lesers betrifft, der ja nichts unterschrieben hat und entweder weiterliest oder nicht. Nichtsdestoweniger stellen Gattungs- (oder andere) Merkmale für den Autor eine Verpflichtung dar, der er- bei Strafe einer schlechten Rezeption - öfter nachkommt, als zu erwarten wäre: Wir werden auf mehrere Beispiele dafür stoßen. der auf der letzten Seite erfahren muß, daß Angelo nun wahrscheinlich doch nicht zu Pauline zurückkehren wird, sich an Mort d' un personnage (1949) erinnern, in dem er ihren Kindern und Kindeskindern begegnet, was dieser Gelehrtenfrage von vornherein jede Grundlage entziehen würde? Wie man sieht, ist die Paratextualität vor allem eine Fundgrube von Fragen ohne Antworten. Den dritten Typus textueller Transzendenz^1 bezeichne ich als Metatextualität; dabei handelt es sich um die üblicherweise als <> apostrophierte Beziehung zwischen einem Text und einem anderen, der sich mit ihm auseinandersetzt, ohne ihn unbedingt zu zitieren (anzuführen) oder auch nur zu erwähnen: So bezieht sich etwa Hegel in der Phänomenologie des Geistes andeutungsweise und gleichsam stillschweigend auf Rameaus Neffe. Dies ist die kritische Beziehung par excellence. Selbstverständlich wurden bestimmte kritische Metatexte sowie die Geschichte der Gattung Literaturkritik bereits ausgiebig untersucht (Meta-Metatext); ich bin mir aber nicht sicher, ob dabei der Existenz und der Bedeutung der metatextuellen Beziehung die ihr gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Das kann aber noch werden.^2 Der fünfte (ich weiß), abstrakteste und impliziteste Typus ist die oben definierte Architextualität. Hier handelt es sich um eine unausgesprochene Beziehung, die bestenfalls in einem paratextuellen Hinweis auf die taxonomische Zugehörigkeit des Textes zum Ausdruck kommt (in Form eines Titels wie Gedichte, Essays oder Der Rosenroman usw. oder, was häufiger der Fall ist, eines Untertitels, der den Titel auf dem Umschlag ergänzt, etwa Hinweise wie Roman, Erzählung, Gedichte usw.). Bleibt sie vollkommen unausgesprochen, dann entweder deshalb, weil Offensichtliches nicht mehr eigens betont werden muß, oder, im Gegenteil, um jegliche 1.Vielleicht hätte ich doch ausführen sollen, daß Transtextualität nur eine Transzen denz unter anderen ist; immerhin unterscheidet sie sich von jener anderen Transzen denz, die den Text mit der Realität außerhalb des Textes verbindet, die mich aber im Moment nicht (direkt) interessiert - ich weiß aber sehr wohl, daß es sie gibt: Es kann vorkommen, daß ich meine Bibliothek verlasse (ich habe keine Bibliothek). Und was das Wort Transzendenz betrifft, das mir als Übertritt zur Mystik angelastet wurde, so wird es hier in einem rein technischen Sinn verwendet: als Gegenteil von, glaube ich, Immanenz. 2. Als ersten Ansatz dazu sehe ich M. Charles, La lecture critique, in: Poetique, 34, April 1978. 13 Zugehörigkeit zurückzuweisen bzw. dieser Frage überhaupt auszuweichen. Jedenfalls wird von einem Text nicht verlangt, daß er seine Zugehörigkeit zu einer Gattung kennt und deshalb auch deklariert: Weder bezeichnet sich ein Roman explizit als Roman noch ein Gedicht als Gedicht. Und vielleicht noch weniger (da die Gattung ja nur ein Aspekt des Architextes ist) der Vers als Vers, Prosa als Prosa, eine Erzählung als Erzählung usw. Letztlich ist es nicht Aufgabe des Textes, seine Gattung zu bestimmen, sondern die des Lesers, des Kritikers, des Publikums, denen auch freisteht, die über den Paratext beanspruchte Gattungszugehörigkeit zu bestreiten: So hört man etwa häufig von dieser oder jener <> Corneilles, daß sie keine echte Tragödie, oder daß der Rosenroman kein Roman sei. Der implizite und durchaus diskussionswürdige Charakter dieser Beziehung (zum Beispiel: Welcher Gattung gehört La Divina Commedia an?) sowie die Tatsache, daß sie historischen Schwankungen unterworfen ist (lange narrative Dichtungen wie das Epos werden heute kaum mehr als der <> zugehörig empfunden, deren Geltungsbereich zunehmend schrumpfte, bis sie mit der Lyrik gleichgesetzt wurde), verringert keineswegs ihre Bedeutung: Das Wissen um die Gattungszugehörigkeit eines Textes lenkt und bestimmt, wie man weiß, in hohem Maß den <> des Lesers und damit die Rezeption des Werkes. Ich habe die Erörterung des vierten Typus der Transtextualität absichtlich hintangestellt, da wir uns hier ausschließlich mit ihm befassen werden. Er ist es, den ich auf den Namen Hypertextualität umgetauft habe. Darunter verstehe ich jede Beziehung zwischen einem Text B (den ich als Hypertext bezeichne) und einem Text A (den ich, wie zu erwarten, als Hypotext^1 bezeichne), wobei 1. Dieser Begriff wird von Mieke Bai, Notes on narrative embedding, in: Poetics Today, Winter 1981, natürlich in einer davon völlig verschiedenen Bedeutung verwendet, nämlich ungefähr in der, die ich einst der metadiegetischen Erzählung gab. Wie man sieht, liegt im Bereich der Terminologie noch einiges im argen. Manche werden daraus den Schluß ziehen: <> Ein schlechter Rat: Dies wäre noch schlimmer, da der alltägliche Sprachgebrauch von derart vertrauten und derart scheinbar transparenten Wörtern gepflastert ist, daß man sie gerne verwendet und Bände und Kolloquien lang theoretisiert, ohne auf die Idee zu kommen, sich die Frage zu stellen, wovon man eigentlich spricht. Anläßlich des, wenn man so sagen kann, Begriffs der Parodie werden wir sehr bald auf ein typisches Beispiel für diese <> stoßen. Der <> einer Fachsprache hat zumindest den Vorteil, daß jeder seiner Sprecher im allgemeinen weiß und auch angibt, welche Bedeutung er allen seinen Begriffen gibt. 14 Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist. Wie aus der Metapher sich überlagern und der negativen Bestimmung ersichtlich, handelt es sich hier um eine provisorische Definition. Oder, um es anders zu sagen: Wir gehen vom allgemeinen Begriff eines Textes zweiten Grades (für einen derart vorläufigen Zweck verzichte ich auf die Suche nach einem Präfix, das sowohl das hyper- als auch das meta- enthält), d.h. eines Textes aus, der von einem anderen, früheren Text abgeleitet ist. Diese Ableitung kann deskriptiver und intellektueller Art sein, wenn ein Metatext (etwa diese oder jene Seite der Poetik des Aristoteles) von einem anderen Text (Oedipus Rex) <>. Sie kann aber auch ganz anders geartet sein, wenn B zwar nicht von A spricht, aber in dieser Form ohne A gar nicht existieren könnte, aus dem er mit Hilfe einer Operation entstanden ist, die ich, wiederum provisorisch, als Transformation bezeichnen möchte, und auf den er sich auf eine mehr oder weniger offensichtliche Weise bezieht, ohne ihn unbedingt zu erwähnen oder zu zitieren. Die Aeneis und der Ulysses stellen zweifellos, in unterschiedlichem Ausmaß und in verschiedener Hinsicht, zwei Hypertexte (unter anderen) ein und desselben Hypotextes, nämlich der Odyssee, dar. Wie aus diesen Beispielen ersichtlich, wird der Hypertext weit häufiger als der Metatext als <> Werk angesehen - unter anderem aus jenem einfachen Grund, weil er als Ableitung von einem Werk narrativer oder dramatischer Fiktion nach wie vor ein Werk der Fiktion darstellt und deshalb in den Augen des Publikums sozusagen automatisch dem Feld der Literatur zugeschlagen wird; diese Bestimmung stellt aber keine seiner unabdingbaren Eigenschaften dar, und wir werden durchaus auf Ausnahmen stoßen. Ich habe diese beiden Beispiele auch aus einem anderen, wichtigeren Grund gewählt: Aeneis und Ulysses weisen zwar die Gemeinsamkeit auf, von der Odyssee nicht auf dieselbe Weise abgeleitet worden zu sein wie die betreffende Seite der Poetik von Ödipus Rex, nämlich als Kommentar, sondern mittels eines transformierenden Verfahrens; der Unterschied liegt darin, daß es sich in beiden Fällen nicht um denselben Typ von Transformation handelt. Die von der Odyssee zum Ulysses führende Transformation kann (in sehr groben Zügen) als einfache oder direkte Transformation beschrieben werden, die darin besteht, die Handlung der Odyssee ins Dublin des 20. Jahrhunderts zu verlegen. Die Trans- 15 formation derselben Odyssee zur Aeneis ist entgegen allem Anschein (und trotz der engeren historischen Nachbarschaft) komplexer und indirekter, da Vergil die Handlung der Odyssee ja nicht wirklich von Ogygia[4] nach Karthago und von Ithaka ins Latium verlegt: Er erzählt vielmehr eine ganz andere Geschichte (die Abenteuer Aeneas' und nicht Odysseus'), und läßt sich dabei von dem durch Homer^1 mit der Odyssee (und ebenfalls mit der Ilias) begründeten, zugleich formalen und thematischen Gattungstypus leiten: er hat Homer, wie schon seit Jahrhunderten festgestellt wird, nachgeahmt. Die Nachahmung ist zweifellos auch eine Transformation, stellt aber ein komplexeres Verfahren dar, da sie -- um es wiederum sehr summarisch zu sagen -- zunächst die Erstellung eines Modells der (sagen wir epischen) Gattungskompetenz erfordert, das, der Odyssee (und möglicherweise auch anderen Werken) als einzelnen Performanzen entnommen, zur Erzeugung einer unbeschränkten Zahl mimetischer Performanzen fähig ist. Dieses Modell stellt somit eine Zwischenstufe, eine unerläßliche Vermittlung zwischen dem nachgeahmten und dem nachahmenden Text dar, die bei der einfachen und direkten Transformation fehlt. Für die Transformation eines Textes kann ein einfacher und mechanischer Eingriff ausreichen (im Extremfall das Herausreißen einiger Seiten: dies wäre eine reduzierende Transformation); um ihn nachzuahmen, muß er aber zumindest teilweise beherrscht werden: Man muß die Fähigkeit besitzen, diese oder jene seiner Eigenschaften zu reproduzieren, zu deren Nachahmung man sich entschlossen hat; es versteht sich zum Beispiel von selbst, daß Vergils mimetischer Gestus all das vernachlässigt, was bei Homer mit der griechischen Sprache untrennbar verbunden ist. Man könnte zu Recht einwenden, daß das zweite Beispiel nicht komplexer als das erste ist und daß Joyce und Vergil lediglich verschiedene typische Eigenschaften der Odyssee beibehalten und ihre jeweiligen Werke auf sie abgestimmt haben: Joyce entnimmt ihr ein bestimmtes Handlungs- und Beziehungsschema zwischen den Personen, das er in einem völlig anderen Stil behandelt, Vergil entnimmt ihr einen bestimmten Stil, den er auf eine andere Handlung anwendet. Oder, krasser gesagt: Joyce erzählt die Geschichte 1. Selbstverständlich können weder der Ulysses noch die Aeneis auf eine direkte oder indirekte Transformation der Odyssee reduziert werden (auf diesen Punkt werde ich noch zurückkommen). Diese ihre Eigenschaft ist aber die einzige, die für uns hier von Belang ist. 16 des Ulysses in einer anderen Manier als Homer, Vergil erzählt die Geschichte des Aeneas in der Manier Homers; es handelt sich somit um spiegelverkehrte Transformationen. Diese schematische Opposition (dasselbe anders sagen/etwas anderes auf dieselbe Weise sagen) trifft in diesem Fall durchaus zu (obwohl sie die zum Teil vorhandene Analogie zwischen den Taten Ulysses' und Aeneas' unberücksichtigt läßt) und wird sich uns in vielen Fällen als hilfreich erweisen. Wie wir aber ebenfalls sehen werden, hat sie keine universelle Gültigkeit und übergeht vor allem den unterschiedlichen Komplexitätsgrad dieser beiden Verfahrenstypen. Zur besseren Veranschaulichung dieses Unterschiedes muß ich paradoxerweise einfachere Beispiele heranziehen. Betrachten wir also einen literarischen (oder paraliterarischen) Minimaltext wie etwa folgendes Sprichwort: Le temps est un grand maitre [wörtl.: Die Zeit ist ein großer Meister]. Um es zu transformieren, genügt es, irgendeinen seiner Bestandteile irgendwie abzuändern; wenn ich also einen Buchstaben streiche und schreibe: Le temps est un gran maitre, dann wird der <> Text auf eine rein formale Weise in einen <> Text (falsche Orthographie) verwandelt; ersetze ich aber einen Buchstaben durch einen anderen und schreibe wie Balzac durch den Mund Mistigris'^1 Le temps est un grand maigre [Die Zeit ist ein großer Magerer], bewirkt der Austausch des einen Buchstabens den Austausch eines Wortes, was eine neue Bedeutung ergibt usw. Einen Text nachzuahmen ist etwas ganz anderes: Nachahmung setzt voraus, daß ich in dieser Aussage eine bestimmte, typische Manier erkenne (nämlich die des Sprichworts), d. h. zum Beispiel, um es kurz zu sagen, ihre Bündigkeit, ihren entschiedenen, affirmativen Ton und ihre Metaphorizität; und daß ich eine andere, geläufige oder weniger geläufige Meinung in dieser Manier (in diesem Stil) ausdrücke, zum Beispiel die Tatsache, daß alles seine Zeit braucht, woraus folgendes neues Sprichwort^2 entsteht: Paris n' a pas ete bau en un jour [Paris ist nicht an einem Tag erbaut worden]. Hieraus geht, wie ich hoffe, deutlich hervor, inwiefern das zweite Verfahren komplexer und vermittelter ist als das erste. Dies hoffe ich deshalb, weil es mir im Moment nicht möglich ist, die Analyse dieser Verfahren, denen 1. Honoré de Balzac, Un debut dans la vie, Paris: Gallimard, S. 771. 2. Weder bemühe ich mich, noch gebe ich mich der Lächerlichkeit preis, es selbst erfinden: Es stammt aus demselben Text Balzacs, dem wir unten begegnen werden. 17 wir zu gegebener Zeit und am richtigen Ort noch begegnen werden, weiter auszuführen. II Als Hypertext bezeichne ich also jeden Text, der von einem früheren Text durch eine einfache Transformation (wir werden einfach von Transformation sprechen) oder durch eine indirekte Transformation (durch Nachahmung) abgeleitet wurde. Bevor wir sie näher untersuchen, sollten wir uns mit zwei Punkten näher auseinandersetzen. Zunächst dürfen die fünf Typen der Transtextualität nicht als voneinander getrennte Klassen betrachtet werden, die keinerlei Verbindungen oder wechselseitige Überschneidungen aufweisen. Sie sind im Gegenteil eng, und oft in aufschlußreicher Weise miteinander verbunden. Zum Beispiel: Architextualität als Zugehörigkeit zu einer Gattung kommt historisch fast immer durch Nachahmung (Vergil ahmt Homer nach, Guzman hat den Laza-rillo zum Vorbild), also als Hypertextualität zustande; ein Werk wird oft aufgrund paratextueller Hinweise einem Architext zugeschrieben; diese Anhaltspunkte stellen selbst erste Anfänge von Metatexten dar (<>), und der Paratext, ein Vorwort oder anderes, enthält weitere Formen des Kommentars; auch der Hypertext kann oft als Kommentar gelten: Eine Travestie wie Virgile travesti ist auf ihre Weise eine <> der Aeneis, und Proust sagt (und beweist auch), daß das Pastiche <> ist; kritische Metatexte werden zwar ohne einen - oft beträchtlichen - Anteil an Intertext in der Form von belegenden Zitaten konzipiert, aber kaum je so niedergeschrieben; auch der Hypertext kommt ohne dergleichen aus, aber auch nicht vollständig, und seien es nur Anspielungen im Text (Scarron verweist manchmal auf Vergil) oder Paratext (der Titel Ulysses); und vor allem stellt die Hypertextualität als Klasse von Werken selbst einen gattungsbildenden oder vielmehr Gattungen überschreitenden Architext dar: Damit meine ich eine Klasse von Texten, die bestimmte kanonische (wenn auch <>) Gattungen wie das Pastiche, die Parodie und die Travestie umfaßt und in anderen - wahrscheinlich allen anderen - enthalten ist: Bestimmte Epen wie die Aeneis, bestimmte Romane wie Ulysses, bestimmte 18 Tragödien oder Komödien wie Phädra oder Amphitryon und bestimmte Gedichte wie Booz endormi usw. gehören sowohl der anerkannten Klasse ihrer offiziellen Gattung als auch, und das wurde oft übergangen, der der Hypertexte an; und wie alle Gattungskategorien deklariert sich auch die Hypertextualität sehr häufig mittels eines paratextuellen Hinweises, der Vertragswert hat: Virgile travesti ist ein expliziter Vertrag über eine burleske Travestie, Ulysses ist, als Anspielung, ein impliziter Vertrag, der den Leser zumindest darauf aufmerksam machen kann, daß es zwischen dem Roman und der Odyssee eine Beziehung geben könnte usw. Die zweite Feststellung bezieht sich auf einen Einwand, der dem Leser wahrscheinlich schon in den Sinn gekommen war, als ich die Hypertextualität als Klasse von Texten beschrieb. Betrachtet man die Transtextualität im allgemeinen nicht als Textklasse (eine Behauptung ohne Sinn: es gibt keinen Text ohne textuelle Transzendenz), sondern als einen Aspekt der Textualität und, in weiterer Folge, wie auch Michel Riffaterre zu Recht einwenden würde, der Literarität, dann müßte man ebenso ihre Bestandteile (Intertextualität, Paratextualität usw.) nicht als Klasse von Texten, sondern als Aspekte der Textualität betrachten. Und genau dies ist - die Einschränkung ausgenommen - meine Meinung. Die verschiedenen Formen der Transtextualität sind zugleich Aspekte jeder Textualität und, potentiell und in verschieden großem Ausmaß, von Textklassen: Jeder Text kann zitiert und damit zum Zitat werden, aber das Zitat stellt eine wohldefinierte literarische Praxis dar, die über jede ihrer Anwendungen hinausgeht und die allgemeine Kennzeichen aufweist; jede Äußerung kann eine paratextuelle Funktion erhalten, das Vorwort (dasselbe gilt in meinen Augen für den Titel) ist aber eine Gattung; Literaturkritik (Metatext) ist selbstverständlich eine Gattung; nur der Architext ist keine Klasse, da er, wenn man so sagen kann, die (literarische) Klasseität selbst ist: Dennoch zeichnen sich manche Texte durch eine prägnantere (relevantere) Architextualität aus als andere, und schon die simple Unterscheidung zwischen Werken mit mehr oder weniger Architextualität (mehr oder weniger klassifizierbaren Werken) stellt, wie ich schon an anderer Stelle anmerkte, einen ersten Entwurf einer architextuellen Klassifizierung dar. Und die Hypertextualität? Selbstverständlich ist auch sie ein 19 universeller Aspekt der Literarität: Es gibt kein literarisches Werk, das nicht, in einem bestimmten Maß und je nach Lektüre, an ein anderes erinnert; in diesem Sinn sind alle Werke Hypertexte. Aber wie bei den Gleichen aus Orwells 1984[5] sind es manche mehr (oder offensichtlicher, massiver und expliziter) als andere: Virgile travesti etwa mehr als Rousseaus Confessions (Bekenntnisse). Je weniger massiv und deklariert die Hypertextualität eines Werkes ist, desto stärker hängt seine Analyse vom grundlegenden Urteil oder einer Interpretationsentscheidung des Lesers ab: Ich kann entscheiden, daß Rousseaus Bekenntnisse ein aktualisiertes Remake der Bekenntnisse des Augustinus sind, daß ihr Titel ein vertragliches Indiz dafür ist - und es werden sich, je nach dem Einfallsreichtum des Kritikers, detaillierte Bestätigungen dafür finden lassen. Ich kann in jedem beliebigen Werk die partiellen, lokalisierten und flüchtigen Echos irgendeines anderen, früheren oder späteren, Werks verfolgen. Ein derartiger Zugang hätte zur Folge, daß die Gesamtheit der Universalliteratur im Feld der Hypertextualität aufginge, was ihre Untersuchung zu einer kaum zu meisternden Aufgabe machen würde; vor allem aber räumt sie der hermeneutischen Tätigkeit des Lesers - oder Archilesers - eine Bedeutung ein und schreibt ihr eine Rolle zu, der ich nicht zustimmen könnte. Seit langem - und das durchaus zu meinem Vorteil - auf gespanntem Fuß mit der Texthermeneutik stehend, lege ich keinen Wert darauf, noch im fortgeschrittenen Alter mich einer Hermeneutik des Hypertexts anzuschließen. Die Beziehung zwischen dem Text und seinem Leser sehe ich unter einem sozialisierteren, vertragsähnlichen Blickwinkel als Bestandteil einer bewußten und organisierten Pragmatik. Von einigen Ausnahmen abgesehen, werden wir uns hier der Hypertextualität von ihrer sonnigsten Seite her nähern, nämlich jener, bei der die Ableitung des Hypertexts vom Hypotext zugleich massiv (das ganze Werk B wurde vom ganzen Werk A abgeleitet) deklariert wird und mehr oder weniger offiziell erfolgt. Ursprünglich hatte ich sogar beabsichtigt, die Untersuchung auf die offiziell hypertextuellen Gattungen (freilich ohne das Wort zu verwenden) wie die Parodie, die Travestie oder das Pastiche einzuschränken. Bestimmte Gründe, von denen noch die Rede sein wird, haben mich davon abgebracht oder genauer gesagt davon überzeugt, daß eine derartige Beschränkung nicht durchführbar ist. Wir haben daher einen weiten Weg vor uns: er führt von den genannten manifesten Praktiken bis hin zu inoffizielleren - derart inoffiziellen, daß es für sie keine Bezeichnung gibt und wir Begriffe für sie bilden werden müssen. Selbst wenn wir eine punktuelle und/oder fakultative Hypertextualität (die in meinen Augen eher der Intertextualität zuzurechnen wäre) beiseite lassen, haben wir, wie Laforgue in etwa sagt, noch genug Unendlichkeit am Hals. ------------------------------- [1] [2] eine Königstochter, die den gestrandeten Odysseus zum Hof ihres Vaters brachte [3] Jean Giono: le "cycle du Hussard" : Mort d'un personnage (1948), le Hussard sur le toit -- na støe¹e (1951), le Bonheur fou --Blánzivé ¹tìstí (1957) et Angelo (1958). Ces récits mettent en scene le personnage stendhalien d'Angelo, hussard piémontais et exilé politique dans les années 1830. [4] the home of the nymph Calypso, where she entertained Odysseus for seven years. [5] Da irrt Genette: Der Satz stammt aus der Animal Farm (Aufstand der Tiere): "Alle Tiere sind gleich" lautet der Wahlspruch ihrer Revolution. "Aber einige Tiere sind gleicher!" meinen die Schweine - und errichten zunächst unmerklich, dann mit offener Gewalt eine neue Schreckensherrschaft.