Bernd Stiegler: [Intertextualität] Einleitung. In der Intertextualitätsdebatte sind zwei Positionen zu unterscheiden. Die eine, vertreten vor allem durch Theoretiker der französischen Gruppe Tel Quel wie Julia Kristeva und Jaques Derrida, entwickelt eine allgemeine Texttheorie, die zugleich literatur- und kulturkritische Ziele verfolgt. Die von der traditionellen Literaturwissenschaft angenommene Einheit eines Textes wird ebenso wie die Instanzen Autor, Subjekt und Werk zugunsten eines textübergreifenden allgemeinen Zusammenhanges, der als Intertext bezeichnet wird, aufgelöst. Die andere Position, für die besonders der Hermeneutik und Semiotik verpflichtete Theoretiker wie Gérard Genette, Michael Riffaterre, Karlheinz Stierle, Renate Lachmann, Ulrich Broich und Manfred Pfister einstehen, geht von einem auf literarische Texte eingeschränkten Textbegriff aus. Ihr Interesse gilt bewußten, intendierten und markierten Verweisen eines Textes auf andere Texte, die dann in systematischer Weise erfaßt, klassifiziert und analysiert werden sollen. Der Begriff <> wurde Ende der sechziger Jahre von Julia Kristeva in ihrem Aufsatz Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman geprägt. Kristeva entdeckte in Texten des russischen Literaturtheoretikers Bachtin die Möglichkeit, Literatur und Gesellschaft zusammen zu denken. Beide werden in diesem Entwurf einer allgemeinen Kultursemiotik als Zeichensysteme verstanden und können daher auch aufeinander bezogen werden. Kristeva unterscheidet 328 einen <> (die Kultur), der alle Zeichensysteme umfaßt, und einzelne textuelle Organisationen innerhalb dieser allgemeinen Ordnung. Bachtin nahm <> und <> als Grundprinzipien der Gesellschaft und der Literatur an. Autoritäre und hierarchische Gesellschaften sind durch eine monologische und zentralisierte Kommunikationsstruktur charakterisiert, während die Dialogizität oder Dezentralisation die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen subvertiertiert. Bachtin identifizierte auch in literarischen Texten diese Grundformen und entwarf eine <>, deren Aufgabe es ist, die sprachlichen Organisationsforn (literarischer) Texte als allgemeine kulturelle Kommunikationsformen herauszuarbeiten. Eine solche umfassende Theorie sieht in der Kunst Veränderungsmöglichkeiten für die Gesellschaft artikuliert und kann diese sogar kommunikationstheoretisch begründen. Prosatexte zeichnen sich durch eine dialogische Form aus, wenn es zu einer Überlagerung, Dissonanz und Ambivalenz der Stimmen kommt. Literarische Texte gewinnen eine gesellschaftskritische Kraft, weil sie festgefügte Ordnungen aufbrechen und Positionen relativieren können, indem sie durch perspektivische Brechung, durch Ironie, Parodie und Polemik die Einsinnigkeit der tradierten Bedeutung und Deutung subvertieren. Kristeva nennt dies eine <>: Strukturen werden nicht als feste, beständige und unveränderliche Gegebenheiten, sondern als Prozeß und Transformation gedacht. Damit ergibt sich ein gesellschafts- und kulturkritisches Potential der Texte Bachtins, an das Julia Kristeva anknüpft. Sie ersetzt das Konzept der Dialogizität durch das der Intertextualität und radikakalisiert den Textbegriff, der nun auch die Gesellschaft, Geschichte und Kultur als Zeichensysteme umfaßt. Für die Semiotik und den Strukturalismus sind die Gegenstände nicht als solche gegeben, sondern immer nur dank Zeichensystemen erkennbar. 329 Die von Kristeva geforderte umfassende Kultursemiotik, die alle kulturellen Zeichensysetme und zugleich die Ideologiekritik zur Aufgabe hat, fällt auch unter diese Regel. Als gesetzte Theorie muß sie sich selbst kritisieren und ist ebenfalls in einem unabschließbaren Prozeß begriffen. Intertextualität als texttheoretisches Konzept und ideologiekritisches Modell impliziert die Selbstreflexivität der Theorie. Im Prozeß der Transformation und Ersetzung innerhalb eines (allgemeinen) Textes, der alle (Sub-)Texte miteinschließt, ist jeder einzelne Text ein Mosaik aus Zitaten. Er setzt sich nur durch die Transformation anderer Texte zusammen und ist wesentlich durch seine Aktivität und Prozessualität gekennzeichnet. Er nimmt das vorhandene Zeichen- und Textmaterial auf und überführt es in eine neue Ordnung. Damit sind für Kristeva nicht nur alle Texte Intertexte, sondern es müssen auch die traditionellen Kategorien von Subjekt, Autor und Werk einer kritischen Revision unterzogen werden, da Werke keine abgrenzbaren Einheiten darstellen, immer kollektiv sind und der Autor im Schreibprozeß implizit und explizit fortwährend Verbindungen mit anderen Texten herstellt. Der literarische Text entsteht gerade durch diese intertextuellen Verbindungen und kann nicht isoliert von ihnen gesehen werden. Zugleich wird auch die Unterscheidung zwischen Autor und Leser zugunsten einer textuellen Produktivität aufgegeben. Jeder Leser nimmt aktiv an der Transformation des Zeichenmaterials teil und stellt in seiner Lektüre Beziehungen zu anderen Texten her. Roland Barthes spricht von der Unmöglichkeit, außerhalb des unendlichen Textes zu leben, dem beispielsweise Prousts Recherche, das Fernsehen oder die Zeitung gleichermaßen angehören. Diese aktive Rolle des Lesers wird auch in der Rezeptionsästhetik - vor allem bei Wolfgang Iser - herausgestellt, in der dem Leser die Aufgabe zukommt, <> des Textes zu überbrücken und in ein Spiel textueller Reorganisation des Textes 330 und auch der entworfenen Wirklichkeitsmodelle einzutreten. Wenn poetische Sprache - und das macht ihre spezifische kulturkritische Kraft aus - sich durch unzählige Kombinationen, Verbindungen, Überschneidungen und Sinnvervielfältigungen auszeichnet, so kann ein Zeichenmodell, das in einem Wort eine Bedeutung und in einem Text ein Zentrum sucht, keine Gültigkeit mehr haben. Die subversive, revolutionäre poetische Sprache ist für Kristeva nach anderen logischen Prinzipien organisiert und erfordert daher auch eine fortwährende Neubestimmung der Literaturwissenschaft. Diese Überlegungen Kristevas formulieren exemplarisch den Traum einer Überwindung der binären Logik. Heute erscheint er nicht nur merkwürdig antiquiert, sondern wird auch als zugehörig zu einer bestimmten Denktradition erkennbar. Diese suchte die gesamte abendländische Kultur durch eine Erneuerung ihrer logischen Grundsätze zu revolutionieren und wurde vor allem im Dekonstruktivismus und in den Gender Studies fortgeführt. Dieser Versuch steht im Verdacht, einem Irrationalismus zu verfallen und zugleich unbegründbare und beliebige neue Setzungen zu unternehmen. Für die texttheoretisch-kulturkritische Richtung in der Intertextualität ist die Sinnvervielfältigung kein Problem, denn im Gegenteil gerade Kennzeichen der subversiven Kraft der Literatur. Für die hermeneutisch-textdeskriptive Richtung dagegen stellt die Sinnkomplexität ein zentrales Problem dar, das gelöst werden muß, um Beschreibungsverfahren von intertextuellen Bezügen entwickeln zu können. Einer Generalisierung des Textbegriffes (der Text wird zur Kultur) und der Intertextualität bei Kristeva steht eine Rückkehr zu einem eingeschränkten Textbegriff (Text ist ein isolierbarer literarischer Text) und einer notwendig ausgewiesenen und somit analysierbaren Intertextualität gegenüber. Ziel ist es, handhabbare Unterscheidungs- und Ordnungskriterien aufzustellen, die eine präzise Beschreibung intertextueller Verfahren ermöglichen. Das Problem 331 der Intertextualität verschiebt sich somit vollkommen und ihr Feld wird radikal eingegrenzt. Für diese Tradition der Intertextualitätstheorie bleibt die Einheit des Kunstwerkes und des Textes bestehen. Die beiden Grundpositionen der Intertextualitätstheorie verfolgen nicht nur unterschiedliche Interessen, sondern sind nur kompatibel, wenn auf die zugrundeliegende Texttheorie verzichtet wird. In der Aneignung der von Julia Kristeva formulierten Problematik durch die hermeneutische Tradition bleibt von den radikalen text- und gesellschaftstheoretischen Konsequenzen nichts bestehen. Herausgearbeitet wird eine intertextuelle Poetik, die ein Beschreibungsinstrumenntarium für intertextuelle Bezüge bereitstellt. Analysierbar ist einzig eine im Text ausgewiesene bzw. markierte intertextuelle Relation und ihr gilt das literaturwissenschaftliche Interesse. Für Karlheinz Stierle wird die Intertextualität erklärbar als eine Bewegung von Frage und Antwort in ständigem Rückgriff auf das gemeinsame Sachproblem von Text und Intertext. Text und Intertext sind durch eine Fragestellung verbunden, die zwar in den beiden Texten unterschiedliche Deutungen und Antworten erfahren kann, sie aber dennoch ein ihnen Gemeinsames bezieht. Die Intertextualität beendet für Stierle nicht einen unendlichen Verweisungszusammenhang von Texten, in dem jeder textexterne Weltbezug notwendig verschwindet oder, genauer, nur als Text denkbar wird, sondern weist über die Texte hinaus auf einen Sachbezug, der sie verbindet und auf den auch die Interpretation zurückgreifen kann. In der Intertextualitätstheorie kommt es auch zu einer rezeptionsorientierten Ausrichtung. Michael Riffaterre untcrscheidet eine lineare und eine intertextuelle Lektüre. Für ihn sind intertextuelle Bezüge durch Brüche in der sprachlichen Ordnung des Textes erkennbar, die durch überdetererminierte und vieldeutige einzelne Elemente entstehen. Spuren fremder Texte fügen sich nicht nahtlos in einen Text ein, 332 sondern bleiben als Verweis lesbar und stören somit eine lineare Lektüre. Gérard Genette stellt m seinem Buch Palimpseste ein extrem detailliertes Beschreibungsmodell vor, das versucht, alle Formen der Intertextualität in ein Ordnungs- und Verteilungsschema zu überführen. Ulrich Broich und Manfred Pfister unterscheiden verschiedene Grade oder Intensitäten von Intertextualität, die anhand bestimmter Kriterien bestimmt werden können. Kriterien sind so u. a. die semantische und ideologische Spannung zwischen den Texten; der Bekanntheitsgrad des Prätextes, auf den Bezug genommen wird; die Relevanz des Prätextes für den Text; die Häufigkeit, Genauigkeit und Ausdrücklichkeit der intertextuellen Verweise. In der deutschen Rezeption der Intertextualitätsdiskussion findet eine Harmonisierung dieses ehemals im Wortsinne literaturkritischen Konzepts mit der traditionellen Literaturwissenschaft statt. Karlheinz Stierle nimmt nicht nur eine Priorität der Werkidentität gegenüber seiner Offenheit an, sondern skizziert auch eine Begründung literarischer Formen und Gattungen. Literatur Bachtin, M.: Probleme der Poetik Dostojewskis, München 1971. - Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt a. M. 1979. Barthes, R.: Die Lust am Text. Frankfurt a. M. 1974. Broich, U. / Pfister, M. (Hrsg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985. Genette, G.: Palimpseste. Frankfurt a. M. 1993. Kristeva, J.: Dialog und Roman bei Bachtin. In: J. Ihwe (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1972. S. 345-375. - Der geschlossene Text. In: P. V. Zima (Hrsg.): Textsemiotik als Ideologiekritik. Frankfurt a. M. 1977. S. 194-229. 333 Lachmann, R. (Hrsg.): Dialogizität. München 1982. - Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a. M. 1990. Plett, H. F. (Hrsg.): Intertextuality. Berlin / New York 1991. Riffataterre, M.: Semiotique intertextuelle: L'interprétant In: Revue d´ Esthétique 1/2 (1979) S. 128-146. - La production du texte. Paris 1983. Schmid, W / Stempel, W.-D. (Hrsg.): Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Wien 1983. Stierle, K. / Warning, R. (Hrsg.): Das Gespräch. München 1984 (Poetik und Hermeneutik. 11.) 334 JULIA KRISTEVA Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman Wenn die Wirksamkeit des wissenschaftlichen Verfahrens im Bereich der Geisteswissenschaften von jeher in Frage gestellt worden ist, so fällt auf, daß diese Infragestellung zum ersten Mal gerade auf der Ebene der untersuchten Strukturen erfolgt, die sich auf eine andere Logik als die der Wissenschaft berufen. Es handelt sich um die Logik der Sprache (und a fortiori der poetischen Sprache), die der <> (écriture) ihr Zutagetreten verdankt. Gemeint ist hier jene Literatur, die die Ausarbeitung des poetischen Sinnes als eines dynamischen Gramms fühlbar macht. Es bieten sich zwei Möglichkeiten der semiologischen Analyse von literarischen Texten: schweigen und sich der Stimme enthalten, oder sich darum bemühen, ein jener anderen Logik isomorphes Modell auszuarbeiten, ein Modell der Architektur der poetischen Bedeutung, die heute für die Semiologie ins Zentrum des Interesses gerückt ist. Der russische Formalismus, auf den sich heute die strukturale Analyse beruft, sah sich vor eine ähnliche Entscheidung gestellt, als ihm aus außerliterarischen und außerwissenschaftlichen Gründen ein Ende gesetzt wurde. Diese Untersuchungen sind aber fortgesetzt worden; sie wurden vor kurzem durch Analysen von Michail Bachtin[1] bekannt. Bachtins Arbeiten stellen eines der bedeutendsten Ereignisse der formalen Schule dar und zugleich einen der fruchtbarsten Versuche ihrer Weiterführung. Weit entfernt der technischen Strenge der Linguisten, impulsiv, mitunter sogar prophetisch schreibend, erörtert Bachtin fundamentale 335 Probleme, denen sich die strukturale Analyse der Erzählung (récit) heute konfrontiert sieht und die die Lektüre der Prinzip bereits vor vierzig Jahren konzipierten Texte wieder aktuell machen. Bachtin gehört zu den ersten, die die statische Zerlegung der Texte durch ein Modell ersetzen, in dem die literarische Struktur nicht ist, sondern sich erst aus der Beziehung zu einer anderen Struktur herstellt. Diese Dynamisierung des Strukturalismus wird erst durch eine Auffassung möglich, nach der das <> nicht ein Punkt (nicht ein feststehender Sinn) ist, sondern eine Überlagerung von Text-Ebenen, ein Dialog verschiedener Scheibweisen: der des Schriftstellers, der des Adressaten oder auch der Person), der des gegenwärtigen oder vorangegangenen Kontextes. Indem er den Begriff Wortstatus (statut du mot) als kleinste Einheit der Struktur einführt, stellt Bachtin den Text in Geschichte und die Gesellschaft, welche wiederum als Texte angesehen werden, die der Schriftsteller liest, in die er einfügt, wenn er schreibt. Die Diachronie verwandelt sich in Synchronie, und im Lichte dieser Verwandlung erscheint die lineare Geschichte als eine Abstraktion; die einzige Möglichkeit für den Schriftsteller, an der Geschichte teilzunehmen, besteht nun im Überschreiten dieser Abstrakion durch ein Schreiben-Lesen (une écriture-lecture), d. h, durch die Anwendung einer bezeichnenden Struktur, zu einer anderen in funktioneller oder oppositioneller Beziehung steht. Geschichte und Moral werden innerhalb Infrastruktur der Texte >geschrieben< und >gelesen<. So gehorcht das polyvalente und mehrfach bestimmte poetische Wort den Regeln einer Logik, die über die Logik des kodifizierten Diskurses hinausgelangt und sich nur am Rande der offiziellen Kultur völlig verwirklicht. Daher sucht Bachtin die Wurzeln dieser Logik konsequenterweise im Karneval. Die Rede des Karnevals (le discours carnavalesque) durchbricht die Regeln der von der Grammatik und Semantik zensierten Sprache und ist dadurch gesell- 336 schaftliche und politische Widerrede: es handelt sich um eine Äquivalenz, sondern um die Identität zwischen der Zurückweisung des anerkannten linguistischen Kodes und der Zurückweisung des anerkannten Gesetzes. 1. Das Wort im intertextuellen Raum Die Einführung des spezifischen Wortstatus innerhalb der verschiedenen Gattungen bzw. Texte als eines Signifikanten der Modi für das literarische Verständnis stellt die poetische Analyse in den neuralgischen Punkt der heutigen Geisteswissenschaften: nämlich in den Schnittpunkt von Sprache (der realen Praxis des Denkens) und Raum (der einzigen Dimension, in der sich die Bedeutung durch eine Verbindung von Unterschieden artikuliert). Den Wortstatus untersuchen heißt, daß man die Artikulation des Wortes - als eines semischen Komplexes -- in bezug auf die übrigen Wörter des Satzes untersuchen sollte, daß man die Funktionen (Relationen) auf der Ebene der Artikulationen von umfangreicheren Sequenzen wiederfinden sollte. Gegenüber dieser räumlichen Auffassung des poetischen Funktionierens der Sprache wird man zu allererst die drei Dimensionen des textuellen Raumes definieren, in dem sich die verschiedenen Operationen der semischen Mengen und der poetischen Sequenzen realisieren. Die drei Dimensionen sind: das Subjekt der Schreibweise, der Adressat und die anderen Texte. (Diese drei Elemente stehen miteinander in einem Dialog.) Der Wortstatus läßt sich also folgendermaßen definieren: a) horizontal: das Wort im Text gehört zugleich dem Subjekt der Schreibweise und dem Adressat b) vertikal: das Wort im Text orientiert sich an dem vorangegangenen oder synchronen literarischen Korpus. Nun ist aber der Adressat in das diskursive Universum des Buches lediglich als Diskurs einbezogen worden. Er wird aber mit dem anderen Diskurs (dem anderen Buch), auf den sich der Schriftsteller beim Schreiben des eigenen 337 Textes bezieht, so in eins gesetzt, daß die horizontale Achse (Subjekt-Adressat) und die vertikale Achse (Text-Kontext) koinzidieren. Diese Koinzidenz enthüllt eine wesentliche Tatsache: das Wort (der Text) ist Überschneidung von Worten (von Texten), in der sich zumindest ein anderes Wort (ein anderer Text) lesen läßt. Diese beiden Achsen, die Bachtin Dialog und Ambivalenz nennt, werden von ihm nicht immer klar voneinander unterschieden. Dieser Mangel an Strenge ist jedoch eher eine Entdeckung, die Bachtin als erster in die Theorie der Literatur einführt: jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle der Begriffe der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache läßt sich zumindest eine doppelte lesen. So erweist sich der Status des Wortes -- aufgefaßt als textuelle Minimaleinheit --sowohl als Mediator, der das strukturelle Modell mit dem kulturellen bzw. historischen Zu-sammenhang verbindet, wie auch als Regulator des Übergangs von Diachronie in Synchronie (in literarische Struktur). Durch den Begriff des Status wird das Wort verräum-licht: es fungiert in drei Dimensionen (Subjekt-Adressat-Kontext) als eine Gesamtheit semischer Elemente im Dialog oder als eine Gesamtheit ambivalenter Elemente. Somit wird die Aufgabe der literarischen Semiologie darin bestehen, Formalismen zu finden, die den verschiedenen Modi von Wort- oder Sequenzverknüpfungen im dialogischen Text-Raum entsprechen. Die Beschreibung des spezifischen Funktionierens der Wörter in den verschiedenen Gattungen (oder Texten) der Literatur erfordert also ein translinguistisches Verfahren: 1) die literarische Gattung wird als ein unreines semiologisches System gefaßt werden müssen, das <>. 2) Man wird mit umfangreichen Einheiten von Diskurs-Sätzen, Repliken, Dialogen usw. arbeiten -- ohne sich gezwungenermaßen 338 nach dem linguistischen Modell zu richten --; dieses Verfahren wird durch das Prinzip der semantischen Expansion gerechtfertigt. Auf diese Weise könnte als Hypothese aufgestellt und bewiesen werden: jegliche Entwicklung der literarischen Gattungen ist eine unbewußte Veräußerlichung der linguistischen Strukturen auf ihren verschiedenen Ebenen. So exteriorisiert der Roman den linguistischen Dialog. 2. Wort und Dialog Die russischen Formalisten beschäftigte der Begriff <>. Sie betonten den dialogischen Charakter der linguistischen Kommunikation und hielten den Monolog, diese <> der allgemeinen Sprache für sekundär im Vergleich zum Dialog. Einige von ihnen unterschieden zwischen dem monologischen Diskurs als <<Äquivalent eines psychischen Zustandes>> und der Erzählung als <>. Eichenbaums berühmte Studie über Gogols Mantel. geht von solchen Auffassungen aus. Eichenbaum stellt fest, daß der Gogolsche Text sich auf eine mündliche Form des Erzählens und auf deren linguistische Charakteristika (Intonation, syntaktischer Aufbau des oralen Diskurses, respektives Lexikon usw.) stützt. Während Eichennbaum also zwei erzählerische Modi einführt, den indirekten und den direkten Modus, und ihre gegenseitigen Beziehungen in der Erzählung untersucht, läßt er außer acht, daß sich in den meisten Fällen der Autor der Erzählung, bevor er sich auf den oralen Diskurs bezieht, zuerst auf den Diskurs des Anderen stützt; der orale Diskurs ist nur dessen Folge, der Andere ist der Träger des oralen Diskurses. Für Bachtin erhält die Zerlegung in Dialog und Monolog eine Bedeutung, die weit über den konkreten Sinn hinausgeht, in dem die Formalisten von ihr Gebrauch machten. Sie entspricht nicht der Unterscheidung von direkt und indirekt (Monolog/Dialog) in der Erzählung oder im Theaterstück. 339 Bei Bachtin kann der Dialog monologisch sein, und der sogenannte Monolog ist oft dialogischer Art. Für ihn verweisen die Termini auf eine linguistische Infrastruktur, deren Studium einer Semiologie der literarischen Texte zukommt, die weder mit den linguistischen Methoden noch mit den logischen Gegebenheiten allein vorlieb nimmt, die im Gegenteil ausgehend von beiden entstehen sollte. <> (Bachtin 1963). Auf den Unterschied zwischen dialogischen und rein linguistischen Beziehungen insistierend, hebt Bachtin doch hervor, daß die Beziehungen, auf deren Basis die Erzählung strukturiert wird (Autor/Person; wir können hinzufügen: Subjekt des Aussagens/Subjekt der Aussage [sujet de l'enoncition/sujet de l'enoncé]), nur dadurch möglich sind, daß der Dialogismus der Sprache (langage) selbst inhärent ist. Bachtin erklärt nicht, worin diese Zweiseitigkeit der Sprache (langue) besteht, unterstreicht aber, daß <> Dialog die einzig mögliche Sphäre für das Leben der Sprache (langage) ist>>. Heute können wir dialogische Beziehungen auf mehreren Ebenen der Sprache wiederentdecken: in der kombinatorischen Dyade Sprachkompetenz/Sprachverwendung (langue/parole); in den Systemen der Sprachkompetenz (kollektive und monologische Vereinbarungen, sowie das System von korrelativen Werten, die im Dialog mit den 340 anderen aktualisiert werden) und in den Systemen der Sprachverwendung (wesentlich <>, keine reine Kreation, sondern individuelle Ausbildung auf der Basis des Zeichen-Austausches). Auf einem anderen Niveau (das mit dem des ambivalenten Raumes im Roman vergleichbar wäre) hat man sogar den <> (langage) demonstriert: sie ist syntagmatisch, (indem sie sich in Ausdehnung, Vorhandensein und durch Metonymie realisiert) und systematisch (indem sie sich in Verbindung, Abwesenheit und durch Metaphern realisiert). Es wäre wichtig, die dialogischen Austauschprozesse zwischen diesen beiden Achsen der Sprache als Basis der romanhaften Ambivalenz linguistisch zu analysieren. Erwähnen wir auch die doppelten Strukturen und ihr Ineinandergreifen in den Relationen Kode/Botschaft (code/message), die auch dazu beitragen, die bachtinsche Idee des der Schrache inhärenten Dialogismus zu verdeutlichen. Der bachtinsche Diskurs weist auf das hin, was Benveniste meint, wenn er vom Diskurs spricht, d. h. von <> (langage). In Bachtins eigenen Worten heißt es: <> (Bachtin 1963). Für Bachtin, der aus einem mit gesellschaftlichen Problemen beladenen revolutionären Rußland stammt, ist der Dialog nicht nur die vom Subjekt übernommene Sprache, sondern vielmehr eine Schreibweise (écriture), in der man den anderen liest (ohne jegliche Anspielung auf Freud). So bezeichnet der bachtinsche Dialogismus die Schreibweise zugleich als Subjektivität und als Kommunikativität, oder besser gesagt, als Intertextualität. In Anbetracht dieses Dialogismus verwischt sich der Begriff <> und macht einem anderen Platz: dem der <>. 3. Ambivalenz Der Terminus <> impliziert das Eindringen der Geschichte (der Gesellschaft) in den Text und des Textes in die Geschichte. Für den Schriftsteller ist dies ein und dasselbe. Wenn Bachtin von <>, spricht, sieht er die Schreibweise als Lektüre des vorausgegangenen literarischen Korpus, versteht er den Text als Absorption eines anderen Textes und als Antwort auf einen anderen Text. (Der polyphone Roman wird als Absorption des Karnevals untersucht, der monologische Roman als Drosselung jener literarischen Struktur, die Bachtin wegen ihres Dialogismus eine <> oder <> der Literatur nennt. Lautréamont wollte im Dienste einer hohen Moralität schreiben. In seiner Praxis offenbart sich diese Moralität als Ambivalenz von Texten: die Chants de Maldoror und die Poésies sind ein ständiger Dialog mit dem vorausgegangenen literarischen Korpus, ein unaufhörliches Zurückweisen der vorausgegangenen Schreibweise. Dialog und Ambivalenz erweisen sich also als der einzige Weg, der es dem Schriftsteller erlaubt, in die Geschichte einzutreten, indem er eine ambivalente Moral predigt: die der Negation als Affirmation. Dialog und Ambivalenz führen zu einer wichtigen Schlußfolgerung. Die poetische Sprache im inneren Raum der Texte sowie im Raum der Texte ist ein <>. Das poetische Paragramm, von dem bei Saussure die Rede ist (Anagrammes), geht von Null bis Zwei: in seinem Feld existiert die <> (die Definition, <>) nicht. Das bedeutet folgendes: Die Definition, die Bestimmung, 342 das Zeichen <<=>> und der Begriff >Zeichen< selber, der eine vertikale (hierarchische) Zerlegung in Signifikant (Sa) und Signifikat (Sé) voraussetzt, können nicht auf die poetische Sprache angewandt werden, die aus einer Unmenge von Verknüpfungen und Kombinationen besteht. Der Begriff Zeichen (Sa-Sé) ist Ergebnis einer wissenschaftlichen Abstraktion (Identität - Substanz -- Ursache -- Ziel; Struktur des indogermanischen Satzes) und bezeichnet eine lineare, gleichzeitig vertikale und hierarchisierende Gliederung. Der Begriff Double ergibt sich aus der Reflexion über die poetische (nicht-wissenschaftliche) Sprache und bezeichnet eine <> (Verräumlichung) und eine Korrelierung (ein In-Wechselbeziehung-Setzen) der literarischen (linguistischen) Sequenz. Er impliziert, daß die minimale Einheit der poetischen Sprache zumindest eine <> ist (nicht im Sinne der Dyade Signifikant/Signifikat, sondern im Sinne von <>, und er läßt das Funktionieren der poetischen Sprache ein <> erscheinen, in dem jede <> (von nun an darf das Wort nur mehr in Anführungszeichen verwendet werden, denn jede Einheit ist eine doppelte) als mehrfach bestimmter Gipfel fungiert. Das Double wäre also die minimale Sequenz dieser paragrammatischen Semiologie, die sich nach Saussure {Anagrammes) und Bachtin ausarbeiten ließe. Wir sollen diesen Gedankengang hier nicht zu Ende führen, jedoch im folgenden eine der Konsequenzen hervorheben, die sich daraus ergeben: ein logisches System, das der Basis 0/1 arbeitet (falsch/wahr, Nichts/Notation) ist untauglich, um das Funktionieren der poetischen Sprache zu erklären. In der Tat ist die wissenschaftliche Verfahrensweise eine auf dem griechischen (indogermanischen) Satz basierende logische Verfahrensweise, die auf der Subjekt/Prädikat-Konstruktion beruht und mit Identifikation, Determination und Kausalität operiert. Die moderne Logik von Frege und 343 Peano bis Lukasiewicz, Ackermann oder Church, die sich in den 0/1-Dimensionen bewegt, oder auch die Logik eines Boole, die von der Mengentheorie ausgehend Formalisierungen liefert, die dem Funktionieren der Sprache schon eher isomorph sind, bleiben in der Sphäre der poetischen Sprache unanwendbar, wo die 1 keine Grenze ist. Man könnte die poetische Sprache also nicht mittels der heute vorhandenen logischen (wissenschaftlichen) Verfahren formalisieren, ohne sie dadurch zu entstellen. Eine Semiologie der literarischen Texte muß mit einer poetischen Logik aufgebaut werden, in der der Begriff der <> (puissance du contnu) das Intervall von 0 bis 2 umfassen würde, eine Kontinuität, wo 0 denotiert und 1 implizit überschritten wird. In dieser spezifisch poetischen <> von Null zum Double ist das (linguistisch, psychisch und gesellschaftlich) <> die 1 (Gott, das Gesetz, die Definition), und die einzige linguistische Praxis, die diesem ) <> entkommt, ist der poetische Diskurs. Es ist kein Zufall, daß die Unzulänglichkeiten der aristotelischen Logik hinsichtlich ihrer Anwendung auf die Sprache zum einen dem chinesischen Philosophen Chang Tung-Sun hervorgehoben wurden, der einem anderen linguistischen Horizont entstammt (dem der Ideogramme, in dem sich statt Gott der Dialog Yin-Yang entfaltet); zum anderen von Bachtin, der versuchte, den Formalismus durch eine dynamische Theorie zu überwinden, die in einer revolutionären Gesellschaft entstand. Für ihn ist der erzählende Diskurs, den er mit dem epischen Diskurs gleichsetzt, ein Verbot, <> Erzählung, die der 0/1-Logik folgt, ist dogmatisch. Der realistische bürgerliche Roman (Tolstoj), den Bachtin monologisch nennt, tendiert dazu, sich in diesem Raum zu bewegen. Die realistische Schilderung, die Definition eines <>, die Erschaffung 344 einer <>, das Entfalten eines <>, all diese Elemente des beschreibenden Erzählens gehören in das 0/1-Intervall, sind also monologischer Art. Der einzige Diskurs, in dem sich die poetische O/2-Logik völlig realisiert, wäre der des Karnevals: er durchbricht die Regeln des linguistischen Kodes und die Regeln der gesellschaftlichen Moral, indem er eine Logik des Traums annimmt. Eigentlich ist dieses <> des linguistischen (logischen, gesellschaftlichen) Kodex im Karneval erst möglich und wirksam, weil es sich ein <> gibt. Der Dialogismus ist nicht <Hohn<>> (Lautréamont) --- und doch tragisch, ein Imperativ, der anders ist als der Imperativ der 1. Man müßte dies für den Dialog spezifische Durchbrechen, das sich ein Gesetz gibt, hervorheben, um es radikal und kategorisch von dem fiktiven Durchbrechen zu unterscheiden, das eine gewisse >erotisch<-parodierende moderne Literatur aufweist. Diese will sich als <> und <> aufgefaßt sehen, sie läßt sich also in das Feld des sein Durchbreche hersehenden Gesetzes eintragen; sie ist Kompensation des Monologismus, geht nicht über den 0/1-Bereich hinaus hat nichts mit der revolutionären Problematik des Dialogismus zu tun, der einen formalen <> gegenüber Norm und eine Relation von gegensätzlichen, nicht-ausschließenden Termini impliziert. Der Roman, der die Struktur des Karnevals einbezieht, wird polyphoner Roman genannt. Unter den Beispielen, Bachtin anführt, sind Rabelais, Swift und Dostojewskij. Wir könnten den gesamten <> Roman des 20. Jahrhunderts (Joyce, Proust, Kafka) hinzufügen und präzisieren, daß der polyphone <> Roman, obwohl er im Vergleich zum Monologismus einen Status besitzt, der dem des dialogischen Romans früherer Epochen analog ist, von diesem jedoch deutlich unterscheidet. Ende des 19. Jahrhunderts hat sich eine Trennung vollzogen: der Dialog bei Rabelais, Swift oder Dostojewskij verharrt auf dem repräsentativen, fiktiven Niveau, 345 während der polyphone Roman unseres Jahrhunderts sich <> (Joyce) und der Sprache innerlich (Proust, Kafka) macht. Von nun an (nach dieser nicht nur literarischen, sondern auch gesellschaftlichen, politischen und philosophischen Trennung) stellt sich das Problem der Intertextualität (des intertextuellen Dia1ogs) als solches. Die Theorie selbst von Bachtin (ebenso wie die Theorie der saussureschen Anagrammes) datiert seit dieser Trennung. Bachtin entdeckte den textuellen Dialogismus in der Schreibweise von Majakowskij, Chlebnikow und Belyj (um nur einige der Schriftsteller der Revolution zu erwähnen, bei denen diese Trennung sichtbare Spuren hinterließ), bevor er den textuellen Dialogismus als Prinzip jeden Aufruhrs und jeder kontestativen Produktivität auf die Literaturgeschichte allgemein ausdehnte. Der bachtinsche Begriff <> würde als semischer Komplex im Französischen implizieren: Double, Sprache (langage) und eine andere Logik. Von diesem Terminus her, den die literaturbezogene Semiologie übernehmen könnte, läßt sich ein neuer Zugang zu poetischen Texten gewinnen. Die vom <> implizierte Logik ist zugleich: 1) eine Logik der Distanz und der Relation zwischen den verschiedenen Termini des Satzes oder der Erzählstruktur, die auf ein Werden hinweist - im Gegensatz zur Ebene der Kontinuität und der Substanz, welche wiederum einer Logik des Seins folgen und als monologisch zu bezeichnen sind; 2) eine Logik der Analogie und der nicht-ausschließenden Opposition - im Gegensatz zur Ebene der Kausalität und der identifizierenden Determination, die als monologisch bezeichnet werden kann; 3) eine Logik des <> (diesen Begriff entlehnen wir Cantor), die von der <> der poetischen Sprache (0-2) aus ein zweites Formationsprinzip einführt, nämlich daß eine poetische Sequenz allen vorausgegangenen Sentenzen der Aristotelischen Reihe (der wissenschaftlichen, er monologischen, der erzählenden) <> (nicht kausal deduziert) ist. So zeigt sich der ambivalente Raum im Roman von zwei Formationsprinzipien bestimmt: dem monologischen (jede Sequenz wird von der vorausgegangenen determiniert) und dem dialogischen (transfinite Sequenzen, die der vorausgegangenen kausalen Reihe unmittelbar überlegen sind). Am anschaulichsten wird der Dialog in der Struktur der karnevalesken Sprache, in der die symbolischen Relationen und die Analogie den Beziehungen Substanz-Kausalität überlegen sind. Der Begriff Ambivalenz wird für die Permutation der zwei Räume verwendet, die in der Romanstruktur auftreten: 1) des dialogischen Raumes, 2) des monologischen Raumes. Die Auffassung der poetischen Sprache als Dialog und Ambivalenz bringt Bachtin nun dazu, die Romanstruktur neu zu bewerten; diese nimmt die Form einer im Typologie des Diskurses verbundenen Klassifizierung der Worte der Erzählung an. 4. Die Klassifikation der Wörter in der Erzählung Nach Bachtin lassen sich in der Erzählung (récit) drei Kategorien von Wörtern unterscheiden: a) das direkte Wort, das auf sein Objekt verweist, bringt die letzte Bedeutungs-Instanz des Subjekts eines Diskurses innerhalb der Rahmen eines Kontextes zum Ausdruck; das Wort des Autors, dieses ansagende, aussagende, ausdrückende, denotative Wort muß ihm das objektiv-unmittelbare Verständnis verschaffen. Es kennt nur sich selbst sein Objekt, an das es sich anzupassen versucht. (Es ist sich der Einflüsse von fremden Wörtern nicht bewußt.) b) das objekthafte Wort (mot objectal) ist die direkte Rede der <>. Es erhält eine objektive, unmittelbare Bedeutung, befindet sich jedoch nicht auf derselben Ebene wie der Diskurs des Autors, der von ihm Abstand nimmt. Es orientiert sich zugleich an seinem Objekt und ist selbst Objekt der Orientierung des Autors. Es ist ein fremdes 347 Wort, das sich dem Wort der Erzählung als einem Gegenstand des Verständnisses des Autors unterwirft. Die Ausrichtung des Autors an dem objekthaften Wort dringt aber in dasselbe nicht ein; sie nimmt es als Ganzes, verändert weder seinen Sinn noch seine Tonalität; sie ordnet es ihren eigenen Aufgaben unter, ohne daß sie demselben eine andere Bedeutung verleiht. Auf diese Weise ist das (objekthafte) Wort, das zum Objekt eines anderen (denotativen) Wortes geworden ist, sich dessen nicht <>. Somit sind das objekthafte Wort sowie auch das denotative Wort eindeutig. c) Der Autor kann sich aber des fremden Wortes bedienen, um diesem einen neuen Sinn zu geben, wobei er dessen ursprünglichen Sinn bewahrt. Daraus folgt, daß das Wort zwei Bedeutungen erhält, daß es ambivalent wird. Dieses ambivalente Wort ist also das Resultat der Verknüpfung zweier Zeichensysteme. In der Entwicklung der Gattungen taucht es in der Menippea (la ménippée) und im Karneval auf. Die Verknüpfung zweier Zeichensysteme relativiert den Text. Dieses ist der Stilisierung zu verdanken, die dem Wort des Anderen gegenüber einen Abstand herstellt - im Gegensatz zur Imitation (hier denkt Bachtin eher an die Repetition), die das Nachgeahmte (das Wiederholte) ernst nimmt, es sich eigen macht, es sich aneignet, ohne es zu relativieren. Diese Kategorie von ambivalenten Wörtern wird dadurch gekennzeichnet, daß der Autor die Rede des Anderen für seine eigenen Zwecke ausnutzt, ohne aber gegen deren Gedanken zu verstoßen; er verfolgt deren Weg, wobei er sie zugleich relativiert. Nichts dergleichen in der zweiten Kategorie von ambivalenten Wörtern, für die die Parodie ein typisches Beispiel ist. Hier führt der Autor eine der Bedeutung des anderen Wortes entgegengesetzte Bedeutung ein. Die dritte Kategorie des ambivalenten Wortes, für die die versteckte innere Polemik ein Beispiel ist, wird wiederum durch den aktiven (modifizierenden) Einfluß des fremden Wortes auf das Wort des Autors gekennzeichnet. Es <> der Schriftsteller, aber ein fremder Diskurs ist 348 stets anwesend in jener von ihm selbst entstellten Rede. In diesem aktiven Typus von ambivalentem Wort wird das Wort des Anderen durch das Wort des Erzählers (narrateur) dargestellt. Beispiele dafür sind die Autobiographie, das polemische Geständnis, die Beichte, die Replik eines Dialogs und der verschleierte Dialog. Der Roman ist die Gattung, die ambivalente Wörter besitzt; dies ist die spezifische Charakteristik seiner Struktur. (345-357) KARLHEINZ STIERI.E Werk und Intertextualität 349 I Jeder Text situiert sich in einem schon vorhandenen Universum der Texte, ob er dies beabsichtigt oder nicht. Die Konzeption eines Textes finden heißt, eine Leerstelle im System der Texte finden oder vielmehr in einer vorgängigen Konstellation von Texten. Diese kann weiter oder enger gedacht sein: weiter etwa als Konstellation einer Literatur oder einer Gattung, enger als Konstellation eines Gesamtwerks, oder als thematische Konfiguration, als Serie und schließlich als Fortsetzung oder Bearbeitung, sei es eines fremden oder eines eigenen Werks. [. ..] Der Konstellation entspringt die Möglichkeit des Textes, die der Text selbst einlöst, über- oder unterbietet. Indem aber die Leerstelle in der Konstelation der Texte besetzt wird, die Möglichkeit des Textes zu ihrer Realisierung kommt, verändert die Konstellation sich selbst und erzeugt damit neue Leerstellen. Da also das Universum der Texte sich unablässig erweitert, ist auch der Ort des Textes in ihm nicht statisch. Der Text ist Moment einer Bewegung, die über ihn hinausdrängt, und damit zugleich Moment einer sich beständig wandelnden Konfiguration. Kein Text setzt am Punkt Null an. So sind auch die Texte, den Ursprung einer Gattung begründen, zunächst doch, und sei es in prekärer Weise, auf eine schon vorgängige Gattung zurückbezogen, ehe sie im nachhinein in eine Konfiguration eintreten, die ihre generische Potentialität ans Licht bringt. Die Konfiguration der Texte, der sich der Text verdankt, ist aber nicht identisch mit der Konfiguration, in die der Text für seinen Leser eintritt. Beide Konfigurationen streben immer weiter auseinander, je größer die Distanz zwischen dem ersten Leser und dem aktuellen Leser geworden ist, je mehr Texte sich zwischen den gegebenen Text 350 und seinen Rezipienten schieben. So ist die Intertextualität des Textes eine unendlich vielfältige Bestimmtheit und Bezogenheit. Ihre Erfassung ist eine unendliche Aufgabe die zwar theoretisch postulierbar, faktisch aber nicht einlösbar ist. Was wir Text nennen, ist ein Zustand der Sprache, dessen Möglichkeiten an komplexe Voraussetzungen gebunden sind. Elementarer als der in sich selbst zurücklaufende, aus sich selbst herausgehende Text ist die sprachliche Interaktion des Gesprächs, bei dem die Beteiligten in wechselnden Rollen als Sprecher und Hörer agieren und so eine kontinuierliche Sprachbewegung hervorbringen, die indes von der Identität des Textes gewöhnlich weit entfernt ist. Nur im idealen Fall des gelungenen Gesprächs geht aus dem Hin und Her der Rede ein gemeinsamer Text hervor, dem im Hinblick auf seinen wechselnden Ursprung dennoch so etwas wie eine abgehobene Identität zukommt. Erst wenn die Rollen von Sprecher und Hörer asymmetrisch verteilt sind, kann der Text sich als ein in sich selbst ruhender Zusammenhang und Aufbau entfalten. Dann aber geht die Dialogizität in den Text selbst ein und bestimmt sein inneres Verhältnis. Nur der Text, der in sich selbst dialogisch ist, der das ursprüngliche Modell des Gesprächs in sich hineingen und damit zugleich das Prinzip der Intertextualität in sich aufgenommen hat, ist Text im eigentlichen Sinne. Die >Selbstversorgtheit< des Textes projiziert zugleich das Prinzip der Loslösung von der Unmittelbarkeit der Situation durch die Mittelbarkeit des >selbstversorgten< Satzes auf die höhere Einheit, die die Abfolge der Sätze in einer freilich nicht mehr formal gesicherten Ordnung organisiert. Dies gilt aber insbesondere für jene Texte, die wir kraft ihrer Selbstbezüglichkeit und inneren Verweisungsdichte im eigentlichen Sinne als Werke bezeichnen. Das Werk erfüllt die Bestimmung des Texts zur Schrift, indem es so angelegt ist, daß es sich erst in wiederholten Lektüren eines Lesers wie in wiederholten Lektüren einer Folge von Lesern erschließt. 351 Wenn das Werk sich bestimmt aus seiner Selbstbezüglichkeit, es andererseits aber seinen Ort hat in einer Konfiguration der Texte, wie ist dann das Verhältnis von werkimmanenter Intertextualität des Kontexts und werküberschreitenden Intertextualität der Textkonstellation zu denken? II Es scheint zunächst notwendig, die beiden Perspektiven produktionsästhetischer und rezeptionsästhetischer Intertextualität voneinander zu scheiden. Es gibt eine produktionsäästhetische Intertextualität elementarer Art, die allein darin besteht, daß ein Text eine Leerstelle in einer Textkonstellation finden muß. Die Besetzung dieser Leerstelle aber verlangt, daß der Text selbst in sich gesättigt ist und sich als Text aus der Abhängigkeit seiner Vorgegebenheiten emanzipiert. Andererseits kann der Prozeß der Textkonstitution selbst als ein Prozeß der produktiven Intertextualität aufgefaßt werden, sofern der Text aus einer Folge von Verbesserungen, Erweiterungen, Umstellungen etc., d. h. aus einer Varietät von >Fassungen< hervorgeht. Für die rezeptionsästhetische Perspektive der Intertextualität stellt sich nun aber die Frage, ob jede produktionsästhetische Intertextualität auch eine rezeptionsästhetische sein muß. Ein Beispiel kann diese Frage verdeutlichen. Valérys Gedicht Le cimetiere marin ist, wie sich klar nachweisen läßt, eine Replik auf das Kapitel Mittags in Nietzsches Also sprach Zarathustra. Doch hat das Gedicht seine eigene Wirkungsgeschichte gehabt, ohne daß dieser Zusammenhang deutlich gewesen wäre. Der Nachweis, daß Valérys Gedicht so etwas wie eine neue Variante von Nietzsches >Mittagsmythos< ist, scheint für die poetische Wirkung des Gedichts nicht von entscheidender Bedeutung, wenngleich er in produktionsästhetischer Perspektive durchaus von Interesse sein dürfte. Wenn die Einsicht in diesen Zusammenhang also rezeptionsästhetisch gesehen keinesfalls unerläßlich ist, so kann die Kennt- 352 nis der produktionsästhetischen intertextuellen Beziehung doch in die Erfahrung des Gedichts eingebracht werden, und zwar sowohl im Sinne einer Erklärungsrelation wie auch als ästhetisch wirksame Hintergrundgegebenheit, die den Text selbst in seiner Eigenheit als eine konkrete Differenz heraushebt. Das Beispiel zeigt, daß die bloße Feststellung einer intertextuellen Beziehung noch nicht ausreicht, um jene Besonderheit zu bestimmen, die sie ästhetisch charakterisiert. Wenn aber das Werk in produktionsästhetischen intertextuellen Bezügen stehen kann, die der Aktualisierung durch den Leser nicht bedürfen, obwohl sie für eine Steigerung seiner Wahrnehmung nutzbar gemacht werden können, so gibt es andererseits intertextuelle Relationen der Rezeption, die durch keine produktionsästhetische Relation abgedeckt sind. Prinzipiell ist jedes Werk mit jedem korellierbar. In jedem Fall ist das Ergebnis solcher Korrelation ein Bewußtsein konkreter Differenz, das die pure Faktizität des je einzelnen Werks aufhebt und perspektiviert . Jede Korrelation solcher Art ist ein vom Interpreten in Gang gesetztes Experiment, das das Bewußtsein des Werks steigert. Die konkrete Differenz der experimentierend gesetzten intertextuellen Relation schafft ein Reflexionsmedium, in dem das Werk als dieses zu gesteigertem Bewußtsein kommen, sein Eigenes freigeben kann. Experimente solcher Art sind geeignet, Stereotypen der Wahrnehmung aufzubrechen und das Werk in ungewohnte Beleuchtung zu stellen. Wenn es also prinzipiell möglich ist, daß erst die Auslegung die intertextuelle Relation setzt oder aber der einfache Zufall vorgängiger Lektüren, so wird die privilegierte, in den Blick genommene intertextuelle Relation doch gewöhnlich dadurch gelenkt, daß der Text selbst eine oder mehrere intertextuelle Relationen anzeigt. Der Text selbst hat die Möglichkeit, ein Reflexionsmedium zu setzen, in dem er sich als eine differenzierende Distanznahme zu einem oder 353 mehreren Texten präsentiert und diese Distanznahme in die Konkretheit des Werks einschreibt. Es gibt elitäre literarische Kulturen, wie jene der griechischen und römischen Antike, des Mittelalters und der Renaissance, wo mit der Einlösung von werkspezifischen Differenzen gerechnet wird und wo das neue Werk einen ganzen Kanon literarischer Bezüge notwendigerweise ins Spiel bringt. Jeder Text ruft in solchen ausdifferenzierten literarischen Kommunikationssystemen eine ganze ins Spiel zu bringende literarische Tradition auf und gibt ihr durch die produktive Differenz gleichsam neue Gegenwärtigkeit. Aus der Dichte der Bezüge aber erwächst eine Bildsprache, die nicht mehr einzelnen Texten zuweisbar ist, sondern an der alle teilhaben. Es gibt die diffuse Intertextualität der Topoi, die immer schon über die eine konkrete, in den Blick zu bringende intertextuelle Relation hinausreicht und diese ihrerseits in ein reiches Netz intertextueller Bezüge einbringt. Eine solche literarische Kultur setzt einen literarischen Kanon voraus, der allen gemeinsam ist, die an dieser Kultur teilhaben. (7-11) Indem das Werk sich selbst in eine intertextuelle Relation einrückt oder aber versuchsweise zum Moment einer intertextuellen Relation gemacht wird, scheint es sein Zentrum zu verlieren und in eine bewegliche Identität einzutreten, die erst aus der intertextuellen Relation selbst hervorgeht. Die Kategorie der Intertextualität ist eine Kategone der Dezentrierung und der Offenheit. J. Kristeva, die den Begriff in die literaturwissenschaftliche Diskussion eingeführt hat, sah in ihm die Chance, die Vorstellung von der Identität des Werks sowie von seiner Zurückführbarkeit auf die perso-nale Identität eines Autors wie schließlich auch die Auffassung von der referentiellen Determiniertheit des Werks als literarische Mythen des bürgerlichen Bewußtseins zu entlarven. Während es der Rezeptionsästhetik in einer ersten Phase ihrer Entwicklung zunächst darum ging, das Werk in der Gebrochenheit seiner geschichtlich bedingten Rezeptions- und Aktualisierungsweisen 354 zur Darstellung zu bringen, erblickte J. Kristeva in der Kategorie der Intertextualität die Möglichkeit, das im Rezeptionsakt aufgeworfenen Problem der Intersubjektivität, wie es von Sartre formuliert worden war, grundsätzlich zu eliminieren. Die Auffassung der Tel Quel-Gruppe von der Subjektlosigkeit der literarischen Produktion erhielt durch das Theorem der Intertextualität ein neues Fundament. Doch wird zu prüfen sein, ob nicht die Kategorie der so verstandenen Intertextualität selbst einer neuen literaturwissenschaftlichen Mythenbildung entspringt. III Was Kristeva mit scheinbarer texttheoretischer Stringenz als Intertextualität bezeichnet, ist in Wirklichkeit ein komplexer Zusammenhang von Relationen, der der systematischen Durchdringung und Differenzierung bedarf, wenn der Bezug zwischen Texten im Spielraum seiner Mögliche erfaßt werden soll. Im folgenden soll versucht werden, eine solche Differenzierung zu skizzieren, und zwar primär mit Bezug auf Aspekte der Intertextualität von Dichung: Literatur. Während Kristeva, ausgehend von einer vermeintlich >materialistischen< Literaturbetrachtung, die Kategorie der Intertextualität als eine einfache Relation auffaßt, soll im folgenden die Notwendigkeit verdeutlicht werden, zwischen semiotischer, phänomenologischer, hermeneutischer und pragmatischer Perspektive bei der Bezugnahme der Werke auf andere Werke zu unterscheiden. Die Stimme des Textes ist begleitet vom Rauschen der Intertextualität. In jedem Wort ist das Rauschen seiner Bedeutungen und Verweisungen vernehmbar. Jeder Satz, jede Satzbewegung löst Erinnerungen, Verweisungen aus, und bei entsprechender Richtung der Aufmerksamkeit kann das Rauschen der Intertextualität die Stimme des Textes übertönen. Aber wie es ist, wenn die Intertextualität selbst Stimme wird, 355 vernehmbar herausgehoben aus dem Rauschen der unbestimmten Verweisungen? Erst hier kann ja in einem prägnanten Sinne von Intertextualität die Rede sein. Der Ausdruck <> bezeichnet ein Verhältnis, das zwischen einen Text und seinen Bezugstext gesetzt ist. Die Setzung dieses Verhältnisses ist semiotisch eine Verweisung oder beim bloß experimentierenden Bezug die Fiktion einer Verweisung. In dieser Verweisung selbst liegt aber schon eine prinzipielle Asymmetrie, die die Rede von der Intertextualität der Werke problematisch macht. Gegeben ist ein Text in seiner konkreten Artikulation. Dieser verweist durch partielle Rekurrenz zumindest auf einer der Ebenen seiner Konstitution auf einen oder mehrere andere Texte, die nicht selbst gegeben, sondern abwesend sind. Eine solche Verweisung kann übrigens durchaus auch allein von der Gleichgestaltigkeit eines Rhythmus ihren Ausgang nehmen. So gibt es Gelegenheitsgedichte Mörikes, wo der Pfarrer, der sich in die Welt des Dichtens flüchtet, --unbewußt? -- in den Duktus protestantischer Kirchenlieder verfällt. Eine Relation, bei der Gegebenes auf Abwesendes verweist, ist in allgemeinster Hinsicht eine semiotische Relation. In diesem Sinne ist die Intertextualitätsrelation eine komplexe semiotische Relation insofern, als in ihr ein sprachlich organisierter Zeichenzusammenhang auf einen anderen sprachlich organisierten Zeichenzusammenhang verweist, aber so, daß diese Verweisung selbst nicht sprachlicher Art ist. Doch sind in dieser Relation beide Zeichenzusammenhänge nicht gleichwertig. Einer von beiden ist artikuliert, denotativ gegeben, der andere unartikuliert, konnotativ. Der denotierte Text ist in der intertextuellen Relation die Basis des konnotierten Texts. Diese Differenz aber ist gerade bei Werken der Dichtung und Literatur, die auf ästhetische Erfahrung angelegt sind, von grundsätzlicher Bedeutung. Denn sie bezeichnet zugleich eine Differenz der phänomenologisch erfaßbaren Ge- 356 gebenheitsweisen, von der die ästhetische Erfahrung selbst wesentlich bestimmt ist. Erst wenn die semiotische Relation der Intertextualität als phänomenologische Relation in den Blick kommt, kann die Erfahrung der Öffnung des Werks auf andere Werke wirklich erfaßt werden. Phänomenologisch ist das semiotische Verhältnis von Denotation und Konnotation ein Verhältnis von Thema und Horizont. Das Werk schafft sich einen Horizont, vor dem es sich in seiner Besonderheit darstellt. Soll dieser Horizont aber ein erfahrbarer, ästhetisch gegenwärtiger Horizont sein, nicht nur ein gewußter Horizont, so bedarf es nicht nur der Verweisung selbst, sondern ihrer ästhetischen Vergegenwärtigung. Werke sind nicht unendlich bedeutungsoffen. Es sind Äquivalente von Aufmerksamkeitsleistungen. Im Gegensatz zur unendlichen Komplexität und Offenheit des alltäglichen Lebens ist das Werk eine Ausgrenzung, bei der sich für den Leser Entlastung der Aufmerksamkeit vom <> mit Steigerung der Aufmerksamkeit verbindet. Es ist eine subtile Einsicht Lessings, daß der menschliche Geist, gerade weil er von beschränktem Fassungsvermögen ist, der ästhetischen Erfahrung eines Ganzen nur unter der Bedingung einer form- und gattungskonstitutiven Reduktion teilhaftig werden kann. Das Werk setzt die Priorität seiner Werkidentität über seine Offenheit und Unbestimmtheit. So läßt es sich als ein bestimmtes Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit beschreiben. Das Werk selbst ist das Zentrum eines Sinns, der über es hinausreicht. Es konstituiert ein Sinnfeld, dessen Mittelpunkt es zugleich ist. Alles, was m diesem Feld erscheint, ist auf die Mitte zentriert, die das Werk selbst setzt. Eben deshalb kann auch die >Intertextualität< das Werk nicht dezentrieren. Das dezentrierte, fremden Texten anheimgefallene Werk müßte seine ästhetische Identität verlieren. Die intertextuelle Gegebenheit ist nicht nur die Funktion eines semiotisch abgerufenen Vorwissens, das der Rezipient ins Spiel zu bringen hat. Der Text vielmehr spielt den Bezugstext herein, 357 und zwar in einer Artikuliertheit, Reliefhaftigkeit, die das Ganze des intertextuellen Bezugstexts nicht einfach als Wissen voraussetzt, sondern es im Medium seiner konkreten Aufgerufenheit erscheinen läßt. Die Weise, wie ein Text eines anderen Texts inne ist, bestimmt seine ästhetische Gegenwärtigkeit. Besonders deutlich kann dies werden, wenn man vergleichend das Medium des Bildes heranzieht. Gerade bei der >intervisuellen< Relation eines Bildes zu einem anderen zeigt sich klar die Differenz der Gegebenheitsweisen. Das zitierte Bild muß im zitierenden Bild <> sein, wenn dieses in seiner eigenen Logik nicht gerstört werden soll. [.. .] Doch ist die intertextuelle Relation als Aufbau von semiotischer und phänomenologischer Relation noch nicht zureichend erfaßt. Sie erscheint in einer dritten Hinsicht als hermeneutische oder pragmatische Relation. Die Weise, wie Text einen Text vergegenwärtigt, sagt zugleich etwas darüber aus, wie der Text sich zu dem Text verhält, den er heraufruft. Die >Intertextualität< ist keine bedeutungsleere und intentionslose Verweisung. Das hermeneutische oder pragmatische Verhältnis eines Textes zu einem Text mag das einer Applikation sein oder der Überbietung, der Aufbietung einer Autorität, der ironischen Distanznahme, der Erweiterung, der Korrektur oder der Ausschöpfung eines Spielraums, der durch den vorgängigen Text oder durch eine Folge vorgängiger Texte gesetzt ist. Wenn bei poetischen und literarischen Werken der phänomenologische Aspekt offen sein muß auf einen hermeneutischen oder auch pragmatischen, so gilt dies mehr noch für argumentierende Texte. Texte, literarische wie nichtliterarische, stehen zueinander nicht nur in einem Verhältnis der semiotischen Differenz, sondern, auf der Grundlage einer semiotischen Differenz, in einem Sachbezug, der als dieser das Verhältnis der als das Verhältnis der Texte zueinander überschreitet und damit auch die intertextuelle zu einer anderen als intertextuellen Relation macht. [...] 358 Die bisherigen Überlegungen erweisen den Ausdruck >Intertextualität< als problematisch. Denn die Intertextualität selbst ist nur ein Moment einer komplexeren Beziehung, die über die bloße Textgestalt hinausreicht. Für diese ist die Gegebenheitsweise ebenso von Belang wie die, den Text überschreitende, Bezogenheit auf eine Sache. Diese Bezogenheit aber bedeutet nicht eine Dezentrierung des Textes, sondern vielmehr seine Situierung. Die >intertextuelle< Relation ist Moment der Identität des Textes selbst und gewinnt nur im Hinblick auf diese ihre spezifische Bedeutung. Im Text, im Werk ereignet sich die neue Erfahrung als Reorganisation eines vorgängigen Wissens, das erst durch diese neue Gestalt seine Prägnanz und seine innere Kohärenz erhält. Das Werk ist nie eine bloße Maximierung von Referenzen auf andere Werke, sondern immer ein Vollzug unter Formbedingungen, die die Aufmerksamkeit auf eine je ins Werk gesetzte Relevanzfigur konzentrieren. Der Test als Werk spielt durch die Verfahren der partiellen Konvergenz ein anderes Werk herein, macht es gegenwärtig durch die Weise des Hereinspielens und gibt ihm so eine spezifische Konturiertheit, die es von sich selbst aus noch nicht hat. Erst so wird aber die intertextuelle Relation prägnant, doch hört sie eben dadurch damit zugleich auf, eine dezentrierende intertextuelle Relation zu sein. Der hereingespielte Text ist darüber hinaus auch gar nicht als Text hereingespielt, sondern als Erinnerung an die Lektüre eines Textes, das heißt als angeeigneter, umgesetzter, in Sinn oder Imagination übeführter Text. Der Text als Werk hat seine eigene Autorität in der Bestimmtheit seiner Form. Solche Autorität schließt aber Liberalität der Applikationsmöglichkeiten, der Auslegbarkeiten, Fortführbarkeiten und Bezugnahmen nicht aus. Beide betreffen ganz verschiedene Aspekte des Werks, die voneinander geschieden werden müssen. M. Bachtin, der mit seiner Theorie der Dialogizität, auf der J. Kristeva fußt, sich der Autorität des <> widersetzte, sah 359 nicht, daß die Autorität der Form, die die Identität des Werks bestimmt, nicht notwendig eine autoritäre, ideologische Vereinseitigung seiner >Aussage< zur Folge haben muß. Die Liberalität der Sinndimensionen gerade des ästhetischen Texts erweist, daß Autorität und Liberalität des Werks keine sich ausschließenden, sondern komplementäre Momente sind. Dialogisch in einem genaueren Sinne kann der Bezug zwischen Texten nicht heißen. Jeder Text macht den hereingeholten Text zum Moment seiner eigenen Bewegung. Dialog setzt die Autonomie der Aktanten des Dialogs voraus. Gerade diese aber erscheint in der intertextuellen Relation aufgehoben (12-17) Die große Vielfalt möglicher Bezüge, unter denen Texte zu Texten in ein Verhältnis treten können, wird durch den Begriff der Intertextualität nicht erhellt, sondern eher verdunkelt. Wird das Feld der Relationen zwischen Texten aber systematisch erschlossen, so erweist sich, daß der >Intertextualität< keinesfalls jene Kraft zukommt, um derentwillen J. Kristeva das Konzept eingeführt hatte: die Kraft nämlich, die Identität der Werke zu dezentrieren, die Werke zum Moment eines subjektlosen Prozesses der sich ausspielenden textuellen Differenz zu machen. Der Mythos der Intertextualität hält, dies wäre als Resümee aus unserer Betrachtung zu ziehen, einer systematischen Betrachtung nicht stand. Daß aber das Konzept der Intertextualität, wenn es von einer textideologischen zu einer deskriptiven, auf das je einzelne Verhältnis bezogenen Kategorie gemacht wird, für das Verständnis einer noch zu wenig beachteten kommunikativen Dimension der Werke fruchtbar ist, steht dennoch außer Frage. (21) Textnachweise 477 Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Jens Ihwe (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd, 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft. II. Frankfurt a. M.: Athenäum, 1972. S. 345 bis 375. -- Übers. aus dem Frz. von Michael Korinman und Heiner Stück. Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität. In: Wolf Schmidt / Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.): Dialog der Texte. Wien: Institut für Slawistik der Universität Wien, 1983. (Wiener slawistischer Almanach. Sonderbd. 11.) S. 7-26. - Mit Genehmigung der Gesellschaft zur Förderung slawistischer Studien, Wien. ------------------------------- [1] Michail Bachtin hat folgende Bücher veröffentlicht: Problemy poetiki Dostojewskowo, Moskau 1963, und Twortschestwo Francois Rabelais, Moskau 1965.