Intertextualität (nach Gérard Genette)
Seit den siebziger Jahren ist der Begriff der ´Intertextualität´ zu einem zentralen Konzept der Literaturwissenschaft und vor allem der Erzählforschung geworden. Grundsätzlich kann man zwei unterschiedliche Ansätze unterscheiden. Im ersten - eher theoretisch orientierten - wird ´Intertextualität´ sehr weit gefaßt. Hier steht die Offenheit und der prozessuale Charakter der Literatur im allgemeinen im Mittelpunkt (vgl. Intertextualität - weitere Begriffsfassung - nach Julia Kristeva). Im zweiten Ansatz geht es eher darum, die Beziehungen zwischen konkreten Texten zu klären und zu systematisieren. Er ist besonders für Aspekte der praktischen Analysearbeit fruchtbar. Dabei sind die Klassifizierungsversuche, die der französische Literaturwissenschaftlers Gérard Genette vorgeschlagen hat, gut zu handhaben.
Genette versucht die Relationen verschiedener Texte zueinander zu systematisieren und diese Beziehungen zu erklären. Sein Oberbegriff der ´Transtextualität´ faßt fünf unterschiedliche Formen textübergreifender Beziehungen zusammen.
Die erste ist die ´Intertextualität´ in einem engeren Sinne. Genette unterscheidet innerhalb der "effektiven Präsenz eines Textes in einem anderen" drei Erscheinungsformen: das Zitat (in Anführungszeichen, mit oder ohne genaue Quellenangabe), das Plagiat (nicht deklarierte, aber wörtliche Übernahme) und die Anspielung (fragmentarische, nicht deklarierte Entlehnung, die der Leser nur erkennt und versteht, wenn ihm der Bezugstext bekannt ist; ansonsten wird die Anspielung überlesen oder kann nur vermutet werden). (Genette, S.10)
Eine zweite Form textübergreifender Beziehungen ist die ´Paratextualität´ (griechisch ´para´ bedeutet ´neben, über ... hinaus´) Der Paratext bildet einen Kommentar zum eigentlichen Text, indem er ihm Informationen hinzufügt, die die Lektüre steuern können. Hinsichtlich seiner räumlichen Nähe zum Buch gliedert sich der Paratext für Genette zum einen in den ´Peritext´, der - wie Schutzumschlag, Titel, Gattungsangabe, Vor- und Nachwort oder auch verschiedene Motti - relativ fest mit dem Buch verbunden ist. Zum anderen gibt es den ´Epitext´, der Mitteilungen über das Buch enthält, die in der Regel an einem anderen Ort plaziert sind - wie Interviews, Briefwechsel oder Tagebücher.
Die ´Metatextualität´ (griechisch ´meta´: ´zwischen, hinter, nach´) als dritte Art der ´transtextuellen´ Beziehungen meint den Kommentar eines Textes durch einen anderen, wie das beispielsweise in Form der Literaturkritik oder des wissenschaftlichen Schreibens über Literatur geschieht.
Mit der ´Hypertextualität´ beschäftigt sich Genette ausführlicher in seinem Buch Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Diese vierte Erscheinungsform der ´Transtextualität´ meint die komplette Umformung eines Ausgangstextes. Sie kann auf zwei verschiedenen Wegen vonstatten gehen: Entweder mittels der Technik der ´Transformation´, wobei das Thema das selbe bleibt, jedoch in einem anderen Stil behandelt wird (z.B. die Umformung der Homerischen Odyssee im Ulysses von James Joyce). Mit der Technik der ´Imitation´ hingegen wird der Stil beibehalten, aber das Thema verändert. (Genettes Beispiel ist Vergils Aeneis, wo im Stile von Homers Odyssee ein anderes Thema behandelt wird.) Diese beiden Beziehungstypen sind relativ stabil und gut voneinander abgrenzbar. Dagegen gehen die verschiedenen funktionalen Arten, in denen sich der Hypertext auf seinen Ausgangstext beziehen kann (spielerisch, satirisch, ernst), eher ineinander über und sind in der Praxis mitunter schwer auseinanderzuhalten.
Register Beziehung
spielerisch ironisch
satirisch polemisch
ernst humoristisch
Transformation Parodie Travestie Transposition Imitation Pastiche Persiflage Nachbildung (Die Tabelle stammt aus Genette, Palimpseste, 1993, S.44.)
Die fünfte und letzte Form ´transtextueller´ Beziehungen sieht Genette in der ´Architextualität´ (griechisch ´archein´: ´der erste sein´). Hier geht es vor allem darum, wie ein Text sich in eine übergreifende Kategorie, zum Beispiel die Gattung einschreibt. Das mag recht abstrakt klingen. Tatsächlich denken wir aber ständig und mit Selbstverständlichkeit über Gattungsbezüge nach, wenn wir den Unterschied oder die Gemeinsamkeiten eines Textes von und mit anderen beschreiben.
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Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main 1993.Sekundärliteratur:
- G. Genette: Einführung in den Architext, Stuttgart 1990.
- G. Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main 1993.
- G. Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt am Main 1992.