29. 9. 2005 Einführung Warum Intertextualität ? Das Thema meiner Vorlesungen ist von der Notwendigkeit diktiert, für die zahlreichen Diplomanden, die Intertextualität als Thema ihrer Arbeit wählen, ein Beschreibungsinstrumnentarium zu präsentieren, unsere Fähigkeiten einer Alyse des Sprachstils zu entwickeln und unser Sprachgefühl zu sensibilisieren und nicht zuletzt den Reiz der parodistischen und travestierenden Verfahren auszukosten. In der letzten Zeit habe ich interessante Diplomarbeiten betreut, bei denen mir allerdings ein eher intuitiver Ansatz bei dem Vergleich der Texte bewusst wurde. Kateøina Tauberová hat sich mit Arno¹t Goldflams Dramatisierung des Romanfragments Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil befasst und Monika Borecká schrieb über Turrinis Bearbeitung von Beaumarchais Komödie Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit. Um Turrinis groteske Zuspitzung der Konflikte zu signalisieren, das neue Stück Der tollste Tag genannt. Vor allem in den letzten Jahrzehnten hat die Erforschung der Intertextualität wesentliche Vervollkommnungen und Präzisierungen erfahren, die wir nicht links liegen lassen dürfen. Die Poststrukturalisten, haben die traditionelle Rolle des Autors demontiert. die Möglichkeiten des Textes, einen eindeutigen Sinn zu tragen in Frage gestellt und damit den traditionellen Text- bzw. Werkbegriff in der Intertextualitätstheorie neu definiert: Texte werden verstanden als Schnitt- und Knotenpunkte von Diskursen, aber nicht als selbständige, abgegrenzte Struktur. Jeder Text kann als Antwort auf viele andere Texte gedeutet werden, so daß man niemals einen Sinn des Textes freilegen kann, sondern mit unendlichen weiteren Verweisen auf andere Texte (Intertexte) konfrontiert wird. Das nicht abschließbare Spiel der Intertexte entspricht gewissermaßen Derridas différance, wo dieselbe Figur des ins Unendliche 'aufgeschobenen' Sinnes, der sich nur aus dem unendlichen differentiellen Spiel der Zeichen ergibt, vorausgesetzt wird - dort allerdings auf der Ebene der Zeichentheorie. Der 'traditionelle' hermeneutische Ansatz z. B. Gadamers, der die 'Wirkungsgeschichte' des Textes studiert hat, wurde dadurch durch eine neue Fragestellung abgelöst. Der Schnitt- und Knotenpunkt ist nämlich kein fester Punkt mehr, von dem aus die Hermenutiker die Wirkungsgeschichte eines Werks betrachtet haben. Man kann zwei Versionen der Intertextualität unterscheiden: 1. eine radikalere (u.a. von Julia Kristeva vertreten), welche nicht nur sprachliche Texte im engeren Sinne als Gegenstand der Intertextualität sieht, sondern auch die ganze kulturelle Welt als texte général deutet. -- 2. eine gemäßigtere Version (u.a. von dt. Anglisten Pfister, Broich, von der Russistin Renate Lachmann und des Romanisten Karlheinz Stierle), in der es um die Beschreibung der Verhältnisse zwischen sprachlichen Texten geht. Dieser Ansatz wird auch bei der Behandlung der Texte in diesem Vorlesungszyklus vorherrschen. Die klassische Rhetorik und Poetik (seit der Antike bis in die Frühe Neuzeit) arbeiten mit einer Kategorie, die als Vorläuferin der Intertextualität gelten kann: imitatio, die Nachahmung der literarischen Vorbilder, besonders in Stil und Struktur. Im Kontext dieses Literaturauffassung gilt eine Anknüpfung an literarische Vorbild eher als Qualitätsmerkmal, als Beweis, etwas Gleichwertiges schreiebn zu können, denn als ein mangelnde Originalität. Im 20. Jh. haben große Autoren wie z. B. Brecht, dessen Spürsinn für publikumswirksame Stoffe und Verfahren außer Zweifel ist, ebenfalls ziemlich unbekümmert, Texte anderer Autoren verwendet. Im Unterschied zu mittelalterlichen Autoren mussten sie sich allerdings gefallen lassen, dass sie des Plagiats bezichtigt wurden. Der (post-)moderne Intertextualitätsbegriff setzt eine historische Phase der Favorisierung von Originalität (des Autors) und Einzigartigkeit, Einmaligkeit des Textes voraus. Erst vor diesem Hintergrund kann die Vorstellung des literarischen Textes als eines Textes, der in seinen 'Prätexten'/'Intertexten' verschwindet, erst provokativ wirken. Programm der Vorlesungen Ich habe vor, Sie in den ersten Vorlesungen mit dem Ansatz Julia Kristevas, Karlheinz Stierles und Gérard Genettes bekannt zu machen, um dann auf intertetextulle Bezüge bei konkreten Texten einzugehen: 1. Thomas Mann (Lotte in Weimar, Der Erwählte) 2. Shakespears Sturm, Arno Schmidt Caliban über Setebos und Libu¹e Moníková. 3. Christoph Ransmayer: Die letzte Welt 4. Peter Rühmkorf: Dintemann und Schindemann. Aufgeklärte Märchen 5. Peter Turrini: De tollste Tag Den letzten Teil werden dann Parodien des Wiener Volkstheaters und einige Texte aus dem kabarettistischen Milieu bilden, die in der Chronologie der parodierten Texte ihnen nochmals deutsche Literaturgeschichte von Goethe bis Thomas Mann Revue passieren lassen. 1. Ferdinand Kringsteiner: Werthers Leiden; 2. Adolf Bäuerle: Kabale und Liebe (und den Jenauer Romantiker August Wilhelm Schlegel -- Schillers Lob er Frauen -- als Zugabe; 3. Karl Meisl: Die Kathi von Hollabrunn 4. Johann Nestroy: Tannhäuser 5. Parodie im 20. Jh.: Robert Neumann: Die Weise von Liebe und Tod des Cornet Christoph Rilke & Christina Morgenstern: Knochenfraß; Max Reinhardt: Karle & Dieter Saupe: Knuplhartha & M. Bieler: Sternstunden der Menschheit & Max Josef Wolf:Vor Troja nichts Neues & Dieter Saupe: Der unberechenbare Aufstieg des B. B & Erich Kästner: Surabaya-Johny II & Robert Neumann: Der Sturz; Armin Eichholz: Der wörtliche Leverknödel Studienmaterialien finden Sie nach jeder Stunde und für jede Stunde im IS MUNI. Wenn es mir ausnahmsweise nicht gelingen sollte, die Texte zu digitalisieren, werden Sie bei der Aufsicht in der Zentralbibliothek als Mastercopy vorliegen. Für manche Parodien werden wir auch auf die Texte aus der im Internet zugänglichen Anthologie LENORE FUHR UMS MORGENROT von Gunter Witting und Theodor Verweyen zurückgreifen können. http://www.phil.uni-erlangen.de/~p2gerlw/parodie/lenore.html Prüfungsmodalitäten Am Ende des Semesters gibt es einen Test, der die Kenntnis des Vorlesungsstoffes und der behandelten Texte sowie Ihre Fähigkeiten zu argumentieren überprüfen sollte (Sie brauchen mindesten 60 von 100 Punkten). Ich möchte Ihnen freistellen, zusätzliche Punkte durch Kurzreferate zu erwerben, die dann unter Studentenmaterialien ausgestellt werden. Damit können Sie auch ein weniger gutes Abschneiden bei dem Abschlusstest wettmachen. Vor allem hoffe ich, dass durch meine Vorlesungen gute Bachelor bzw. Magister-Arbeiten mitangeregt werden. Wichtige Namen und Begriffe ÿ Michail Bachtin (1895-1975): Dialogizität ÿ Julia Kristeva: Intertextualität als allgemeines Merkmal von Texten. Ein weiter Textbegriff: kulturell codierte Zeichensysteme jeder Art ÿ Renate Lachmann: drei 'Perspektiven': eine texttheoretische, eine textanalytische, eine literaturkritisch-kulturologische - Partizipation - Tropik - Transformation: "Darin verbergen sich Weiter- und Wiederschreiben, Widerschreiben und Umschreiben." ÿ Gérard Genette hat 1982 mit "Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe" (dt. 1993) eine terminologisch wichtige und umfassende Studie über "Hypertexte" vorgelegt. ÿ Broich / Pfister: engerer Intertextualitätsbegriff (setzt bewußten Bezug auf andere Texte an und ein 'mit einkalkuliertes' Intertextualitätsbewußtsein voraus, ebenso konkrete 'Intertextualitätssignale' (vgl. die traditionelle Einfluß- und Zitatforschung). - Typen: Einzeltextreferenz - Systemreferenz. Literaturhinweise: ÿ Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1990. ÿ Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität. In: Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Hrsg. von Wolf Schmid und Wolf-Dieter Stempel. Wien: Institut für Slawistik der Universität 1983, S. 7-26. ÿ Ulrich Broich / Manfred Pfister (Hrsg.): Intertextualität. Formen - Funktionen - anglistische Fallstudien. Tübingen: Niemeyer 1985. ÿ Shama Schahadat: Intertextualität: Lektüre - Text - Intertext. In: Einführung in die Literaturwissenschaft. Hrsg. von Miltos Pechlivanos u.a. Stuttgart - Weimar: Metzler 1995, S. 366-377. Fragen: Was bedeutet wörtlich "Palimpsest"?