Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe Titel der Originalausgabe: Palimpsestes. La Littérature du second degré Übersetzt nach der ergänzten 2. Auflage. Veröffentlicht mit Unterstützung der Maison des Sciences de l'homme, Paris, und des Ministers ti.mc.ais Charge de la culture. Edition suhrkamp 1686 Erste Auflage 1993 (c) Editions du Seuil, Paris 1982 (c) der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1993, Deutsche Erstausgabe Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Printed in Germany Inhalt 1: Fünf Typen von Transtextualität, darunter dieHypertextualität 9 II: Einige Vorsichtsmaßnahmen ..................................... 18 III: Paro>-.dia bei Aristoteles............................................... 21 IV: Geburt der Parodie?....................................................... 24 V: Die Parodie als Figur..................................................... 28 VI: Entwicklung der Vulgata.................................... 32 VII: Die hypertextuellen Verfahren im Überblick .. 39 VIII: Kurze Parodien...................................................... 47 IX: Oulipische Spiele ........................................................ 59 X: Ein Wort für ein anderes ........................................... 70 XI: 6 810000 Liter Wasser pro Sekunde............... 76 XII: Burleske Travestie........................................................ 79 XIII: Moderne Travestien ..................................................... 89 XIV: Die Nachahmung als Figur.................................. 96 XV: Daß es unmöglich ist, einen Text direkt nachzuahmen 107 XVI: Schwierige Unterscheidung der Register des Mimotextes 112 XVII: Persiflagen ....................................... 118 XVIII: Pastiches ........................................... 130 XIX: Flaubert durch Proust......................... 139 XX: Pastiches in Variationen..................... 162 XXI: Selbstpastiche.................................... 168 XXII: Fiktive Pastiches ................................ 174 XXIII: Komisch-Heroisches .......................... 181 XXIV: Gemischte Parodie.............................. 194 XXV: Der Antiroman .......................................... 202 XXVI: Play it again, Sam.............................. 215 XXVII: La chasse spirituelle ......................................................... 217 XVIII: Weiterführungen ................................................................. 222 XXIX: Enden von Marianne, Enden von Jakob........................... 227 XXX: La Fin de Lamiel......................................................... 233 XXXI: Zyklische Weiterführungen ................................... 238 XXXII: Aeneis, Télémaque.................................................... 247 XXXIII: Deiner gedenke ich, Andromache........ 249 XXXIV: Ungetreue Weiterführungen................. 261 XXXV: Mörderische Weiterführungen.............................. 266 XXXVI: Der Ritter, den es nicht gab ................................. 271 XXXVII: Supplement.................................................. 274 XXXVIII: Fortsetzung, Epilog, Lotte in Weimar........ 278 XXIX: Gattungsreaktivierung............................ 283 XL: Transposition ............................................. 287 XLI: Übersetzung....................................................... 289 XLII: Versifikation............................................................................. 294 XLIII: Prosifikation........................................................................... 297 XLIV: Transmetrisierung............................................ 305 XLV: Transstilisierung...................................................................... 309 XLV1: Quantitative Transformationen........................................... 313 XLVII: Aussparung.................................................... 315 XLVIII: Verknappung ............................................... 323 XLIX: Verdichtung .................................................. 332 L: Digest.................................................................... 342 LI: Proust an Madame Scheikévitch ............................................ 345 LII: Pseudoresümee bei Borges.................................................... 348 LIII: Erweiterung........................................................ 353 LIV: Dehnung.................................................... 360 LV: Amplifikation.................................................................... 363 LVI: Mehrdeutige Praktiken ..................................... 372 LVII: Intermodale Transmodalisierung.......................................... 382 LVIII: Hamlet von Laforgue .................................... 389 LIX: Intramodale Transmodalisierung................................ 391 LX: Rosenkranz und Güldenstern sind tot........ 402 LXI: Diegetische Transposition, angefangen mit dem Geschlecht 403 LXII: Annäherung ............................................. 415 LXIII: Pragmatische Transformation ................ 425 LXIV: Unamuno als Autor des Quijote.............. 432 LXV: Motivation .............................................. 439 LXVI: Demotivation.................................................................. 444 LXVII: Transmotivation............................................................ 448 LXVIII: Hymnen auf Helena..................................................... 453 LXIX: Sekundäre Aufwertung ............................................. 464 LXX: Primäre Aufwertung ................................................... 472 LXXI: Abwertung .................................................................. 477 LXXII: Macbett....................................................................... 482 LXXIII: Aragon als Autor des Telemach........................... 484 LXXIV: Die Geburt der Odyssee ......................................... 489 LXXV: Transumwertung....................................................... 493 LXXVI: Penthesilea .............................................................. 502 LXXVII: Neue Supplemente.................................................. 504 LXXVIII: Ein unqualifizierbarer Hypotext........................... 510 LXXIX: Hyperästhetische Praktiken...................................... 513 LXXX: Ende............................................................................... 526 Postskriptum.............................................................................. 537 S. 21 III Parodie: Dieser Begriff gibt heute zu einer vielleicht unvermeidlichen Verwirrung Anlaß, die offensichtlich älteren Datums ist. Am Ursprung seiner Verwendung, oder sehr nahe an ihm, steht einmal mehr die Poetik des Aristoteles. Aristoteles definiert die Dichtung als in Verse gefaßte Darstellung menschlicher Handlungen und unterscheidet dabei zwei Typen von Handlungen mit verschiedenem moralischem und/oder gesellschaftlichen Anspruch, nämlich hohe und niedrige, sowie zwei Darstellungsmodi, den narrativen und den dramatischen.[1] Aus der Überschneidung dieser beiden Oppositionen läßt sich ein Raster mit vier Begriffen bilden, der dem aristotelischen System der Dichtungsgattungen entspricht: vornehme Handlungen im dramatischen Modus: die Tragödie; vornehme Handlungen im narrativen Modus: das Epos; niedrige Handlungen im dramatischen Modus: die Komödie; die niedrige Handlung im narrativen Modus wird lediglich durch Anspielungen auf Werke erläutert, die mehr oder weniger unmittelbar mit dem Begriff der paro>-.dia bezeichnet werden. Da Aristoteles diesen Abschnitt nicht ausgearbeitet hat oder dieser uns nicht erhalten geblieben ist, und da auch die von ihm in diesem Zusammenhang zitierten Texte nicht überliefert sind, sind wir auf Hypothesen darüber angewiesen, woraus die Vierte Welt seiner Poetik grundsätzlich oder strukturell besteht; diese Hypothesen stimmen nicht unbedingt miteinander überein. Zunächst die Etymologie: o>-.de, das ist der Gesang; para: <>, <>; paro>-.dein, daraus paro>-.dia, es könnte sich (somit?) um ein Daneben-Singen handeln, also um einen falschen Gesang, oder um einen Gesang in einer anderen Stimme, um die 22 Gegenstimme im Kontrapunkt, oder um einen Gesang in einer anderen Tonlage: eine Melodie also verformen oder transponieren. Auf das Epos übertragen, legt diese Bedeutung mehrere Hypothesen nahe. Die wörtlichste nimmt an, daß der Rhapsode lediglich die traditionelle Diktion und/oder die Musikbegleitung des Vortrags modifizierte. Es wurde die Meinung vertreten, daß dies irgendwann zwischen dem 8. und dem 4. Jahrhundert die Innovation eines gewissen Hegemon vonThasos, dem wir noch begegnen werden, gewesen sei. Sofern dies wirklich die ersten Parodien waren, griffen sie nicht in den eigentlichen Text ein (was nicht ausschließt, daß dadurch auf die eine oder andere Art auf ihn eingewirkt wurde), und es versteht sich von selbst, daß davon keine schriftlichen Überlieferungen erhalten geblieben sind. In einem weiteren Sinn kann der Vortragende, indem er Eingriffe in den Text vornimmt, diesen mit Hilfe weniger (minimaler) Modifikationen auf einen anderen Gegenstand umlenken und ihm eine andere Bedeutung geben. Diese Interpretation, auf die wir auch noch zurückkommen werden, entspricht, um es sofort zu sagen, einer der heutigen Bedeutungen des französischen parodie und einer transtextuellen Praxis, die nach wie vor in (voller) Blüte steht. In einem weiter gefaßten Sinn könnte diese Transposition eines epischen Textes aus einer stilistischen Modifizierung bestehen, die ihn zum Beispiel aus seinem angestammten vornehmen Register in ein umgangssprachlicheres, ja sogar vulgäres Register transportiert: Diese Praxis wird im 17. Jahrhundert durch burleske Travestien vom Typ der Enéide travestie veranschaulicht. Aus der obengenannten Tradition ist uns aber weder zur Gänze noch in verstümmelter Form ein antikes Werk überliefert, das Aristoteles hätte kennen können und das uns die eine oder andere dieser Formen erläutern könnte. Auf welche Werke bezieht sich Aristoteles also? Vom zitierten Hegemon vonThasos, dem einzigen, dem er die von ihm als paro>-.dia bezeichnete Gattung zuschreibt, ist nichts erhalten geblieben, aber bereits die Tatsache, daß Aristoteles ihn erwähnt und eines oder einige seiner <>, wenn auch nur oberflächlich, beschreibt, zeigt, daß dieser sich nicht damit begnügt haben konnte, das Epos zu rezitieren (eine andere Tradition schreibt ihm eine ebenfalls <> inspirierte Gigantomachie zu, wobei es' 23 sich allerdings eher um eine dramatische Parodie handeln dürfte, wodurch sie automatisch aus dem von Aristoteles definierten Feld herausfiele). Von Nikochares zitiert Aristoteles offenbar (die Stelle ist ungewiß) eine Deiliade (von deilos, <>), die eine Ilias der Feigheit (zieht man die traditionelle Bedeutung des Suffixes -iade in Betracht, stellt Deiliade ein Oxymoron dar) und somit eine Art Anti-Epos gewesen sein soll: Das bringt uns der Sache schon näher, ist aber noch ein "wenig vage. Von Homer führt er einen Margites an, der sich zu den <> so verhalte <>: Diese Verhältnisgleichung gab mir die Idee einer Tabelle mit vier Feldern, die mir logisch unangreifbar und sogar absolut notwendig erscheint, was auch immer man (anstatt des Margites) in das vierte Feld schreibt. Nun definiert Aristoteles aber den komischen Gegenstand als Darstellung von Personen <> Standes und bestätigt dies eben anhand der <> des Hegemon und der Deiliade. Eine rein mechanische Verwendung dieser Definition würde die Hypothese (die hypothetische Einordnung dieser verschwundenen Texte) einer dritten Form von <> des Epos nahelegen, die man viel später, und wie wir sehen werden, etwas zu spät, als <> bezeichnen wird und die darin besteht, ein niedriges und zum Lachen reizendes Thema wie die Geschichte eines hasenfüßigen Kriegers in einem epischen (vornehmen) Stil abzuhandeln. Auch ohne auf die Werke Hegemons, auf die Deiliade oder den Margites zurückgreifen zu können, sehen wir, daß alle erhaltenen, und zweifellos späteren, griechischen Parodien dieser dritten Form entsprechen, ob es sich nun um die wenigen von Athenaios von Naukratis (Deipnosophistes, 2.-3. Jh. n. Chr., XV. Buch) zitierten Fragmente oder um den offenbar vollständigen Text der lange Zeit ebenfalls Homer zugeschriebenen Batrachomyomachia handelt, die den Gipfelpunkt der komisch-heroischen Gattung darstellt. Diese drei Formen der <> - also die, die der Begriff paro>-.dia selbst nahelegt und die, die sich aus den erhaltenen Texten erschließen lassen - sind voneinander völlig verschieden und können nur schwer aufeinander zurückgeführt werden. Ihnen gemein ist die Verspottung des Epos (oder auch jeder anderen vornehmen oder einfach ernsten und - eine im aristotelischen Rahmen notwendige Einschränkung - narrativen Gattung), die durch eine 24 Trennung von Schrift (Text, Stil) und Thema (dem heroischen Inhalt) zustande kommt. Die erste Form geht aus der Verwendung eines vornehmen, modifizierten oder nicht modifizierten Textes für einen anderen, im allgemeinen vulgären Gegenstand hervor; die zweite aus der Transposition eines vornehmen Textes in einen vulgären Stil; und die dritte aus der Verwendung eines vornehmen Stils, dem des Epos im allgemeinen, der Epen Homers oder, sofern eine derartige Spezifizierung überhaupt sinnvoll ist, eines Werkes Homers (der Ilias), für einen vulgären und nicht-heroischen Gegenstand. Im ersten Fall löst der <> einen Text von seinem Gegenstand ab, indem er ihn gerade so weit modifiziert, wie es notwendig ist; im zweiten überträgt er ihn zur Gänze in einen anderen Stil, läßt aber den Gegenstand so weit unberührt, wie es diese stilistische Transformation zuläßt; und im dritten Fall übernimmt er dessen Stil, um in diesem Stil einen anderen, vorzugsweise antithetischen Text über einen anderen Gegenstand zu verfassen. Griechisch paro>-.dia und lateinisch parodia decken, etymologisch gesehen, die erste und, im übertragenen Sinn, auch die zweite, und, empirisch (wie es scheint), die dritte ab. Das Französische wird diese Begriffsverwirrung übernehmen und sie im Lauf der Jahrhunderte noch etwas weiter verschärfen. S. 24 IV Geburt der Parodie? Auf Seite 8 des Essai sur laparodie von Octave Delepierre (1870)[2] stößt man auf folgende Fußnote, die einen zum Träumen bringen kann: <-.de, Gegenstimme.>> Man würde gerne wissen, woher unser Gelehrter diese außerordentlich wichtige Information hat, und ob sie nicht seine Erfindung ist. Da er auf derselben Seite das Wörterbuch Richelets 24 zitiert, schlagen wir auf gut Glück bei Richelet (1759, Artikel parodie) nach; auch er bezieht sich auf den öffentlichen Vortrag der Aeden und fügt hinzu: <> Das ist also die versteckte, aber, wie so oft, einige Zentimeter neben der Stelle, an der sie versickert ist, wieder ans Tageslicht tretende <> Delepierres. Und da Richelet sich an derselben Stelle, wenn auch in anderem Zusammenhang, auf die Autorität des Abbé Sallier beruft, werfen -- wir einen Blick in den Sallier[3]: Er führt, um sich von ihr zu distanzieren, die seiner Meinung nach weitverbreitete Ansicht an, die die Erfindung der Parodie Homer selbst zuschreibt, <> Auf diese Auffassung, die Sallier vielleicht vorschnell zurückweist, werden wir noch zurückkommen. <>, so fährt er jedenfalls fort, <> Sallier beruft sich auf keine Autorität zur Unterstützung einer <>, für die er zwar keine Verantwortung übernimmt, dabei aber sehr wohl durchblicken läßt, daß sie von ihm stammt; zufälligerweise verwies Richelet aber nicht nur auf Sallier, sondern zugleich auch auf die Poetik des Julius-Caesar Scaliger. Wir schlagen also bei Scaliger[4] nach: <> [...] Dieser Text, offensichtlich die Quelle der zuvor erwähnten, ist nicht besonders klar, und meine Übersetzung tut seiner Bedeutung da oder dort vielleicht auch Gewalt an. Immerhin läßt er die mit der Etymologie von parôdia, die von Scaliger auch angeführt wird, übereinstimmende Vorstellung vom Ursprung der Parodie als glaubwürdig erscheinen: eine mehr oder weniger wörtliche Wieder-holung des epischen Textes, der in Richtung auf eine komische Bedeutung hin umgelenkt (verdreht) wird. Im 10. Jahrhundert behauptete der byzantinische Enzyklopädist Suidas kurz und knapp[5], die Parodie bestünde - ich zitiere Richelets Übersetzung, die die Knappheit dieser Aussage noch verstärkt (griechischer Text: houto legetai hotan ek tragödias metenekhthe ho logos eis kömodian, wörtlich: <>) - darin, <>. Scaligers Beschreibung der Transposition des Dramatischen ins Narrative stellt die Parodie als komische Erzählung dar, die, abgesehen von unerläßlichen Modifikationen des Textes, aus den Versen eines Epos besteht. Die Parodie, die <> (oder auch der Tragödie), sei somit dort entstanden, wo Epen vorgetragen (oder Tragödien aufgeführt) wurden, wobei ihr Text zwar unverändert blieb, dabei aber so <> wurde, wie man einen Handschuh umstülpt. Auch hier würde man gerne weiter zurückgehen können, hinter Scaliger und Suidas von Überlieferung zu Überliefe- 27 rung vorstoßen und schließlich an ein Originaldokument gelangen. Aber weder Scaliger noch Suidas führen ein solches an, und der Faden scheint hier, bei dieser rein theoretischen Hypothese abzureißen, zu der sich Scaliger vielleicht durch die (unklare) Beziehung zwischen der Tragödie und dem Satyrspiel hat inspirieren lassen. Die Geburt der Parodie verliert sich, wie vieles andere auch, in grauer Vorzeit. Kommen wir aber auf die vom Abbé Sallier abgelehnte Auffassung <> zurück. Immerhin trifft zu, daß sich Homer, wörtlich oder nicht, oft wiederholt, und daß diese rekurrenten Formeln nicht immer auf dasselbe Thema angewandt werden. Die Eigenart der Formeltechnik, dieser Signatur des Vortrags und dieses Angelpunktes epischen Rezitierens, liegt nicht nur in jenen schmückenden Epitheta, die den Namen dieses oder jenes Helden unweigerlich begleiten -- der leichtfüßige Achilles, der erfindungsreiche Odysseus --, sondern vor allem in jenen verstreuten Stereotypen, Halbversen, Hexametern oder Versgruppen, die der Sänger in mal ähnlichen, mal stark unterschiedlichen Zusammenhängen bedenkenlos wiederverwendet. Houdar de La Motte[6] stieß sich an dem, was er die <> der Ilias nannte: <>, <> usw., und entrüstete sich darüber, daß Achilles im Zweiten Gesang genau dieselbe Rede hält, um die Moral seiner Männer zu stärken, wie im Neunten Gesang, um sie von der Notwendigkeit einer sofortigen Flucht zu überzeugen. Solche Wieder-holungen können auch als Selbstzitate aufgefaßt werden, und da bei ihnen derselbe Text auf einen anderen Gegenstand (in anderer Absicht) angewandt wird, läßt sich in ihnen das Prinzip der Parodie ausmachen. Sicher nicht ihre Funktion, da der Sänger durch diese Wiederholungen gewiß nicht zum Lachen reizen will; wenn dies aber ungewollt dennoch geschah, kann man ihn dann als Parodisten wider Willen bezeichnen? In der Tat gibt der epische Stil aufgrund seiner stereotypen Formeln nicht nur ein ideales Ziel für gefällige Nachahmungen und parodistische Verdrehungen ab, sondern er ist sozusagen ständig auf dem Sprung zum ungewollten Pastichieren und Parodieren seiner selbst. Pastiche und Parodie sind dem Text des Epos förmlich eingeschrieben, "was Scaligers 28 Definition eine tiefere Bedeutung verleiht, als ihm selbst bewußt gewesen sein dürfte: Als Tochter der Rhapsodie wächst die Parodie immer schon in deren Mutterschoß heran, und die Rhapsodie, die sich ständig und wechselseitig von ihrem eigenen Sprößling ernährt, ist, wie die Herbstzeitlosen Apollinaires, die Tochter ihrer Tochter. Die Parodie ist die Tochter der Rhapsodie und umgekehrt. Ein tiefgründigeres und auf jeden Fall interessanteres Mysterium als das der Dreieinigkeit: Die Parodie ist die Rückseite der Rhapsodie, und man weiß, was Saussure über die Beziehung von Vorder- und Rückseite gesagt hat. Ein Komiker ist ja auch nichts anderes als ein Tragöde, von hinten gesehen. V In den Poetiken der Klassik und sogar in der (noch zu besprechenden) Auseinandersetzung um die beiden Formen des Burlesken wird das Wort Parodie im allgemeinen nicht verwendet. Weder Scarron und seine Nachfolger bis hin zu Marivaux, noch Boileau oder, wenn ich nicht irre, Tassoni oder Pope betrachten ihre burlesken und neoburlesken Werke als Parodien - und sogar der Chapelain décoiffé, dem wir uns als kanonisches Beispiel dieser Gattung in ihrer striktesten Definition ausführlich widmen werden, trägt den nichtssagenden Titel Komödie. Von der Poetik vernachlässigt, nimmt der Begriff Zuflucht in der Rhetorik. Dumarsais untersucht ihn in seinem Traktat Les Tropes (1729) als eine der Figuren <> und zitiert und paraphrasiert dabei Robertsons griechischen Thesaurus, der die Parodie als <> definiert, wobei <>, fügt Dumarsais hinzu, <> Die strengste Form der Parodie, die Minimalparodie, besteht somit in der wörtlichen Wiederholung eines bekannten Textes, dem eine neue Bedeutung gegeben wird, wobei mit den Worten, soweit dies möglich und erforderlich ist, auf eine ähnliche Weise gespielt werden muß, wie es Racine hier mit dem Wort exploits tut: das perfekte Beispiel eines intertextuellen Wortspiels. Die eleganteste, weil sparsamste Parodie ist somit nichts anderes als ein aus seinem Zusammenhang gerissenes Zitat, dessen ursprüngliche Bedeutung verdreht und dessen getragener Ton verfälscht wird, wie dies auch Moliere auf köstliche Weise gelingt, wenn er folgenden Vers aus Sertorius dem Arnolphe in den Mund legt: Ich bin der Herr im Haus, und du folgst mir aufs Wort.[8] Die Verdrehung der Bedeutung ist aber unbedingt erforderlich, wenn auch Michel Butor aus einem anderen Blickwinkel zu Recht sagen konnte, daß jedes Zitat schon parodistisch sei[9], und obwohl 30 Borges anhand des imaginären Beispiels Pierre Ménards[10] zeigte, daß sogar die wörtlichste Abschrift eine Neuschaffung durch Ver-schiebung des Kontextes ist. Wenn etwa ein schulmeisterlicher Zeuge angesichts eines Selbstmordes durch den Dolch Théophile de Viau zitierte: Le voil`a donc, ce fer qui du sang de son maître S'est souille lâchement. Il en rougit, le traître [Da ist's, das Eisen, das vom Blute seines Herren Feige sich beschmutzte,. Darüber er errötet, der Verräter] so wird dieses Zitat mehr oder weniger Anklang finden: es ist nicht wirklich oder wahrnehmbar parodistisch. Wiederhole ich aber diese beiden Verse in Zusammenhang mit einer Verletzung durch ein Hufeisen, oder, besser noch, ein Bügeleisen oder einen Lötkol-ben, dann wäre dies bereits der Beginn einer zwar bescheidenen, aber immerhin echten Parodie mittels eines Wortspiels auf fer <>. Und wenn Cyrano in der Nasentirade die berühmte Paraphrase auf sich selbst anwendet, hat er gute Gründe, diese Anwendung als Parodie zu bezeichnen - was er mit folgenden Worten auch tut: Enfin, parodiant Pyrame en un sanglot: Le voi`a donc, ce nez qui des traits de son maître A détruit l'harmonie. II en rougit, le traître: [Und Pyramus in einem Schluchzen parodierend: Da ist sie, die Nase, die der Züge ihres Herren Harmonie zerstörte. Darüber er errötet, der Verräter.] An der Kargheit dieser Beispiele läßt sich erkennen, daß der Parodist nur selten die Möglichkeit hat, dieses Spiel sehr weit fortzusetzen. Daher wird die Parodie in diesem engen Sinn meist nur auf kurze Texte, wie etwa aus ihrem Zusammenhang gelöste Verse, 31 historische Worte oder Sprichwörter angewandt: so etwa Hugo, der in einem der Titel der Contemplations Caesars heroisches Veni, vidi, vici in ein metaphysisches Veni, vidi, vixi[11] umformt oder Balzac, der in Gestalt seiner Protagonisten die bereits erwähnten Wortspiele mit Sprichwörtern treibt: Le temps est un grand maigre [Die Zeit ist ein großer Dürrer], Paris n' apas été bâti en un four [Paris ist nicht in einem Backofen erbaut worden] (von Le temps est un grand maitre [Die Zeit ist eine große Lehrmeisterin], Paris n' apas été bâti en un jour [Paris ist nicht an einem Tag erbaut worden]) usw., oder Dumas, der einer schönen Frau dieses (geniale) zweisprachige Madrigal ins Album schreibt: Tibi or not to be. Der geringe Umfang dieser Parodien und die Aufnahme außer- oder paraliterarischer Elemente erklären, warum sie der Rhetorik zugewiesen und eher als Figur, als vereinzelt angewandte Ausschmückung der (literarischen oder nicht-literarischen) Rede, denn als Gattung, d.h. als Klasse von Werken betrachtet wurde. Dennoch läßt sich ein klassisches, ja sogar kanonisches Beispiel (Dumarsais erwähnt es im zitierten Kapitel) für eine sich über mehrere Seiten erstreckende Parodie im strengen Sinn anführen: der Chapelain décoiffé. Um 1664 vertrieben sich Boileau, Racine und einige andere die Zeit damit, vier Szenen aus dem ersten Akt des Cid zu einem Zank armseliger Literaten umzuschreiben. Die Don Diegue erwiesene Gunst des Königs wird zu einer Chapelain zugestandenen Pension, die ihm von seinem Rivalen La Serre, der ihn auch verhöhnt und ihm die Perücke vom Kopf reißt, geneidet wird; Chapelain bittet seinen Schüler Cassagne, ihn mit einem Gedicht, das La Serre aufs Korn nehmen soll, zu rächen. Der Text der Parodie folgt dem parodierten Text so genau wie möglich und gestattet sich nur wenige, aufgrund des Themenwechsels erforderliche Veränderungen. Zur Veranschaulichung hier die ersten vier Verse des Monologs Chapelain/Don Diegue, der (wie ich hoffe) vier andere in Erinnerung rufen wird: O rage, ô desespoir! O perruque ma mie! N'as tu donc tant dure que pour tant d'infamie? N'as-tu trompé l'espoir de tant de perruquiers Que pour voir en un jour flétrir tant de lauriers? [O Ausweglosigkeit! O Lockenhaupt, mein Lieb! Du bliebst so lange ganz, und nun dieser schmähliche Hieb! 32 Du warst das Vorbild der Perückenmacherzunft Und mußt nun zusehn, wie Dein Ruhm zusammenschrumpft!] Die Verfasser des Chapelain décoiffé haben dieses Spiel vernünftigerweise nach fünf Szenen abgebrochen; etwas mehr Ausdauer bei diesem recht anstrengenden Scherz hätte eine Komödie in fünf Akten ergeben können, die die Bezeichnung Parodie du Cid[12] voll und ganz verdient hätte. Im <> wird der rein transtextuelle Wert (und die Bedeutung) derartiger Übungen allerdings durch die Feststellung eingeschränkt, daß <>. Freilich kann man den Chapelain décoiffé auch lesen, wenn man Le Cid nicht kennt; die Funktion des einen wird man aber nicht wahrnehmen und schätzen können, ohne das andere im Kopf oder an der Hand zu haben. Diese Lektürebedingung ist ein Bestandteil der Definition der Gattung und - infolgedessen, aber notwendiger als bei anderen Gattungen -- der Wahrnehmbarkeit, und damit der Existenz des Werkes. Von diesem Punkt wird noch zu sprechen sein. VI Dumarsais wollte nur jene strenge Form als Parodie bezeichnet wissen, die, wie bereits erwähnt, der Etymologie von parodia entspricht. Diese vielleicht schon übermäßige Strenge sollte nur wenige Nachahmer finden. In seinem bereits zitierten Discours sur la parodie unterscheidet Abbé Sallier fünf Arbeiten der Parodie: Entweder man verändert ein einziges Wort eines Verses (wir sind bereits mehreren Beispielen begegnet), oder einen Buchstaben eines Wortes (wie bei Veni vidi vixi), oder man verdreht den Sinn eines Zitats, ohne dessen Text zu verändern (dies ist bei den <> des Beklagten der Fall), oder aber (und dies ist die letzte und laut Sallier <>) man verfaßt ein ganzes Werk <>: dies ist beim Chapelain décoiffé der Fall; diese ersten vier Arten stellen, je nach dem Umfang der vorgenommenen (rein semantischen) Veränderung (eines Buchstabens, eines Wortes, mehrerer Wörter), lediglich Varianten der Parodie im strengen Sinn laut Dumarsais dar. Die fünfte (die Sallier als vierte reiht, anscheinend ohne ihre Sonderstellung gegenüber den vier anderen zu bemerken) besteht hingegen darin, <> Diese Form der Parodie entspricht unserem satirischen Pastiche, d. h. einer stilistischen Nachahmung, die auf Kritik (<>) oder Verspottung abzielt -- eine Absicht, die im Fall Boileaus zwar im anvisierten Stil (der Kakophonie) zutage tritt, meist aber implizit bleibt; hier ist es dem Leser überlassen, vom karikaturistischen Aspekt der Nachahmung auf die spöttische Absicht zu schließen. Damit reiht sich das Pastiche (wieder) unter die Arten der Parodie ein. Der Abbé Sallier ist sich der Tatsache bewußt, damit ebenfalls die gesamte komisch-heroische Gattung einbezogen zu haben, da er sich eine Seite danach die Frage stellt, ob <> wirklich, wie von vielen behauptet, <> sei. Und wenn er sich gegen diese Ansicht wendet, dann nicht, weil die Batrachomyomachia kein <> abgibt, sondern einfach, weil ihr Entstehungsdatum nicht gesichert ist. Sie 34 ist zwar vielleicht nicht die älteste Parodie, stellt für ihn aber eine jener Parodien dar, die <> nachahmen: Man weiß, daß der <> und der <> Homers in klassischer Zeit weniger <> fand, als man sein Genie (von ferne) verehrte. Diese das satirische (z.B. komisch-heroische) Pastiche einschließende Definition der Parodie greift die implizite Definition der klassischen Antike wieder auf und wird sich im Lauf des 18. und 19. Jahrhunderts, oft in denselben, mehr oder weniger wörtlich von Sallier entlehnten Formulierungen, fortsetzen. Man begegnet ihr in der Encyclopedie (1765), im Dictionnaire universel der Jesuiten von Trevoux (Ausgabe von 1771), in den Essais de littérature von Marmontel (1787), im Essai Delepierres (1870), bis zum Vorwort der von Paul Madieres 1912 besorgten Anthologie Les Poetes parodistes. Nur Pierre Larousse (1875) und Littré (1877) scheinen bei dieser Einreihung zu zögern und lassen sie nur im erweiterten oder übertragenen Sinn zu. Der extensive Charakter dieser Definition wird von einem bedeutsamen Ausschluß begleitet und durch ihn offenbar auch bekräftigt: den der burlesken Travestie. In keinem dieser Bücher oder Artikel wird der Virgile travesti als Parodie angeführt, sondern durchgängig und ausschließlich der Chapelain décoiffé, die Batrachomyomachia oder Le Lutrin[13]. Die Encyclopedie definiert: <> und präzisiert: <>, was die von Scarron verwendeten Verfahren natürlich ausschließt, und fügt weiter unten hinzu, daß <> sind und daß der <> ist. Die drei Jahrhunderte umfassende Anthologie Madieres enthält im wesentlichen Parodien von der Art des Chapelain décoiffé, einige Pastiches, die alle aus dem 19. Jahrhundert stammen und auf Kosten Hugos, eines idealen Zieles, gehen sowie zwei oder drei Ausschnitte aus dramatischen Parodien wie Agnes de Cbaillot von Dominique (nach Ines de Castro von La Motte) oder Harnali von Duvert und Lauzanne (natürlich nach Hernani); wir werden diesen sehr unterschiedlichen und unbestimmten Werken noch begegnen; sie sind irgendwo zwischen der Parodie im engeren Sinn und dem satirischen Pastiche angesie- 35 delt, vermischen beide oder verwenden sie abwechselnd, vergessen sie auch manchmal oder suchen sich einen anderen Weg, der aber nie in die burleske Travestie mündet. Dieser beinahe einstimmige Ausschluß wird von Delepierre erklärt und begründet; er beruft sich dabei auf die Autorität P. de Montespins, Autor eines verschollenen Traité des Beiles Lettres (Avignon 1747): <> (ähnlich spricht Marmontel von einer <>). In dieser Ersetzung eines Themas oder einer Handlung sieht Delepierre die notwendige Bedingung jeder Parodie sowie ihren grundlegenden Unterschied zur burlesken Travestie: <> Scarron nimmt sich zwar einige Freiheiten bezüglich des Verhaltens, der Psychologie und der Sprache Didos und Aeneas', heraus, sie bleiben aber Dido und Aeneas, die Königin Karthagos und der trojanische Prinz, beide ihrem Schicksal unterworfen, und diese Kontinuität läßt die Travestie aus dem Feld der Parodie herausfallen. Dieser Auffassung schließt sich auch Victor Fournel in der seiner Ausgabe des Virgile travesti (1858) vorangestellten Studie <> an: <> Die burleske Travestie modifiziert also den Stil und beläßt das Thema; umgekehrt modifiziert die <> das Thema und beläßt den Stil, was auf zwei Wegen bewerkstelligt werden kann: entweder es wird der vornehme Text beibehalten und so wörtlich wie möglich auf ein vulgäres (reales und aktuelles) Thema angewandt: dies ist die Parodie im engeren Sinn (Chapelain décoiffé); oder aber es entsteht durch stilistische Nachahmung ein neuer, vornehmer Text, der auf ein vulgäres Thema bezogen wird: das komisch-heroische Pastiche (Le Lutrin). Von ihren völlig unterschiedlichen Textpraktiken (einen Text umschreiben, einen Stil imitieren) abgesehen, stimmen die Parodie im engeren Sinn und das komisch-heroische Pastiche insofern überein, als sie ein vulgäres Thema einführen, ohne die Vornehmheit des Stils anzutasten; er bleibt ja mit dem Text erhalten oder wird über den Weg des Pastiches wiederhergestellt. Diese beiden Methoden stehen über diesen gemeinsamen Nenner in Opposition zur burlesken Travestie: Sie lassen sich beide unter dem Oberbegriff der Parodie einordnen, aus dem die Travestie damit ausgeschlossen wird. Diese (klassische) Fassung der Vulga-ta läßt sich mit Hilfe eines einfachen Schemas anschaulich darstellen: Stil/Thema vornehm vulgär vornehm VORNEHME GATTUNGEN (Epos Tragödie) PARODIEN (Parodie im engeren Sinn, komisch-heroisches Pastiche vulgär BURLESKE TRAVESTIE KOMISCHE GATTUNGEN (Komödie, komische Prosa) 37 Diese funktioneile Verwandtschaft von Parodie und komisch-heroischem Pastiche kommt auch darin zum Ausdruck, daß letzteres ständig auf erstere zurückgreift: Die Batrachomyomachia entlehnt ständig aus der Ilias kriegerische Formeln, die sie dann auf ihre kampfeslustigen Tierchen überträgt; und wenn die Uhrmacherin des Lutrin mit ihrem Mann schimpft, um ihn von seinen nächtlichen Ausflügen abzuhalten, schmückt sie ihre Rede, wie wir noch sehen werden, ganz selbstverständlich mit Versatzstücken aus Texten, die zum Kanon derartiger Situationen zählen. Im Lauf des 19. Jahrhunderts verändert sich dieses semantische Feld in dem Maß, in dem die burleske Travestie nun zu den Bedeutungen von Parodie hinzugezählt wird und sich der im 18. Jahrhundert aus Italien importierte Begriff Pastiche als Bezeichnung für das bloße Vorhandensein stilistischer Nachahmung (ohne Rücksicht auf ihre Funktion) durchsetzt, während die Praxis der Parodie im engeren Sinn bei den Literaten allmählich in Vergessenheit gerät. Pierre Larousse führt 1875 als Beispiel für seine Definition der Parodie den Chapelain décoiffé an, der Larousse du XXe siecle (1928) ersetzt ihn aber kommentarlos durch den Virgile travesti: <> (d.h. genau das, was von Fournel, ihrem Herausgeber, 70 Jahre zuvor verneint worden war). Diese neue Vulgata läßt sich heute durch den Larousse classique von 1957 oder den Petit Robert von 1967 belegen: Larousse: <>; Robert: <> In beiden Fällen wird also die burleske Travestie als Grundbedeutung von Parodie angegeben, das satirische oder derb-komische Pastiche hingegen als erweiterte oder übertragene Bedeutung, wobei Bezeichnungen wie <> oder <> die Grenze zwischen ihnen noch weiter verwischen. Dabei bemühen sich diese Wörterbuch-Einträge noch -- gleichsam von Berufs und der Tradition wegen -- um eine einigermaßen saubere Gliederung des Wortfeldes. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird der Begriff Parodie heute automatisch und ausschließlich mit dem satirischen Pastiche assoziiert, weshalb er z. B. in geläufigen Redewendungen wie <>, <> oder auf so offen- 38 sichtliche Weise wie in der aus der Feder der Goncourts stammenden Bezeichnung für den Bois de Vincennes als <>[14] in Konkurrenz mit charge [Persiflage][15] und Karikatur tritt. Dafür ließen sich zahllose Beispiele anführen. Um die Darstellung nicht weiter ausufern zu lassen, stellen wir lediglich fest, daß wissenschaftliche Untersuchungen[16] eine (beinahe) durchgängige Anwendung des Begriffs Parodie auf das satirische Pastiche erkennen lassen und die Parodie vom Pastiche als die Nachahmung mit der stärksten satirischen oder karikaturistischen Wirkung unterscheiden. 1977 erschien in Frankreich eine Anthologie satirischer Pastiches unter dem Titel Parodies[17] Daß die Parodie im engeren Sinn und die burleske Travestie aus diesem Feld ausgespart bleiben, ist natürlich auf das Verschwinden dieser Praktiken in unserer Kultur zugunsten der Praxis der stilistischen Nachahmung zurückzuführen, obwohl sich heute die Parodie in Kurzformen wie dem Titel oder dem Werbeslogan (wir werden noch darauf zurückkommen) und einige volkstümliche Relikte der Travestie durchaus erhalten und sogar weiterentwickelt haben. Werden solche Formen infolge einer neuen Betrachtungsweise oder ihrer Rückkehr in die Literaturgeschichte wieder in das Wortfeld aufgenommen, bildet sich eine übersichtlichere Struktur heraus, die unter dem Begriff Parodie die drei Formen mit satirischer Funktion (Parodie im engeren Sinn, Travestie, karikaturale Nachahmung) zusammenfaßt und 39 nur das reine Pastiche, widersprüchlich verstanden als Nachahmung ohne satirische Funktion, beiseite läßt: Somit läßt sich durchaus sagen, daß die Pastiches Prousts reine Pastiches, und die von Reboux und Muller Parodien oder parodistische Pastiches sind. Diese gebräuchliche Aufteilung entspricht bewußt oder unbewußt[18] einem funktionellen Kriterium: Parodie enthält unweigerlich satirische und ironische Konnotationen, während Pastiche eher als neutralerer und mehr auf die Technik bezogener Begriff erscheint. Dies läßt sich grob[19] anhand folgender Tabelle darstellen: Funktion satirisch: <> nicht-satirisch Gattungen PARODIE IM ENGEREN TRAVESTIE SATIRISCHES PASTICHE PASTICHE SINN VII Als Abschluß dieser <> (Valéry) wollen wir uns noch ein letztes Mal um etwas Genauigkeit bemühen 40 und die uns beschäftigenden terminologischen Fragen ein für allemal entscheiden, damit sie uns in Zukunft nicht mehr belasten können. Das Wort Parodie gibt häufig Anlaß zu schädlicher Verwirrung, weil mit ihm abwechselnd die spielerische Deformation, die burleske Transposition eines Textes oder die satirische Imitation eines Stils gemeint ist. Der Hauptgrund für diese Verwirrung liegt in der funktionellen Übereinstimmung dieser drei Formen, die in jedem Fall, meist auf Kosten des <>Textes oder Stils, komisch wirken: bei der Parodie im engeren Sinn, weil dessen wörtliche Bedeutung auf einen Gegenstand angewandt wird, der sie verdreht und herabsetzt; bei der Travestie, weil der parodierte Inhalt durch ein System stilistischer Transpositionen und herabsetzender Themen abgewertet wird; beim satirischen Pastiche, weil die Manier des pastichierten Textes durch ein Verfahren der Übertreibung und stilistischen Überzeichnung ins Lächerliche gezogen wird. Hinter dieser funktioneilen Übereinstimmung verbergen sich jedoch weit wichtigere strukturelle Unterschiede, was den jeweiligen transtextuellen Status betrifft: Die Parodie im engeren Sinn und die Travestie operieren mit einer Transformation des Textes, das satirische Pastiche (wie jedes Pastiche) mit einer Nachahmung des Stils. Da der Begriff Parodie in der heute gängigen Terminologie implizit und daher auf verwirrende Weise auf zwei strukturell wider-sprüchliche Bedeutungen bezogen wird, sollten wir uns vielleicht an eine Reform dieses Systems wagen. Ich schlage also vor, als Parodie (wieder) die Bedeutungsänderung durch minimale Transformation eines Textes zu bezeichnen, wie dies beim Chapelain décoiffé der Fall ist; als Travestie die stilistisch herabsetzende Transformation nach Art des Virgile travesti; als Persiflage[20] (und nicht mehr, wie zuvor, als Parodie) das satirische Pastiche, für das die zahlreichen <> geschriebenen Werke ausgezeichnete Beispiele abgeben und von dem das komisch-heroische Pastiche eine Variante ist; und als Pastiche die ohne satirische Absicht unternommene Nachahmung eines Stils, wie dies zumindest auf einigen Seiten der Lemoine- 41 Affäre[21] geschieht. Den allgemeinen Ausdruck Transformation verwende ich schließlich als Oberbegriff für die beiden ersten Gattungen, die sich vor allem im Ausmaß der dem Hypotext zugefügten Deformationen unterscheiden, und den der Nachahmung als Oberbegriff für die beiden letzteren, die sich nur durch ihre Funktion und das Ausmaß der stilistischen Überzeichnung unterscheiden. So läßt sich eine neue Unterscheidung treffen, die nicht mehr funktionell, sondern strukturell ausgerichtet ist, da sie die Gattungen nach dem Kriterium der zwischen Hypertext und Hypotext bestehenden Beziehung (Transformation oder Nachahmung) zusammenstellt oder voneinander unterscheidet: Beziehung Transformation Nachahmung Nachahmung Gattungen PARODIE TRAVESTIE PERSIFLAGE PASTICHE Der Gegensatz zwischen den beiden Gliederungen derselben Begriffe, d. h. der vier kanonischen Gattungen des Hypertextes, läßt sich in folgender Tabelle veranschaulichen: Gebräuchliche (funktioneile) Gliederung Funktion satirisch (<>) nicht-satirisch (Pastiche) Gattungen PARODIE TRAVESTIE PERSIFLAGE PASTICHE Beziehung Transformation Nachahmung Strukturelle Gliederung Ich mache mir keinerlei Illusionen über das Schicksal, das diesen Vorschlag einer taxonomischen und terminologischen Reform erwartet: Wie die Erfahrung zeigt, ist es zwar sehr einfach, einen Neologismus einzuführen, nichts aber ist schwieriger, als einen gängigen Begriff oder eine gültige Bedeutung, also eine Gewohn- 42 heit, auszumerzen. Damit will ich also nicht den Mißbrauch des Wortes Parodie anprangern (denn darum geht es in der Hauptsache), sondern lediglich darauf aufmerksam machen und, da sich diese Lexikoneinträge nicht so ohne weiteres abändern lassen, ihren Benutzern zumindest ein Kontroll- und Entscheidungsinstrument an die Hand geben, mit dessen Hilfe sie notfalls rasch bestimmen können, woran sie (eventuell) denken, wenn sie (falls überhaupt) das Wort Parodie verwenden. Es liegt auch nicht in meiner Absicht, das Kriterium der Funktion durch das der Struktur gänzlich ersetzen zu wollen. Es geht mir vielmehr darum, es deutlich herauszuarbeiten, um zum Beispiel einen Platz für eine Form der Hypertextualität zu schaffen, deren literarische Bedeutung ungleich größer ist als die des Pastiches oder der im üblichen Sinn verstandenen Parodie, nämlich die, wie wir sie vorläufig bezeichnen wollen, ernste Parodie. Wenn ich hier zwei Ausdrücke aneinanderfüge, die in ihrer gewöhnlichen Verwendung ein Oxymoron bilden würden, dann will ich damit daraufhinweisen, daß man bestimmten Gattungsformen mit einer rein funktionellen Definition nicht gerecht wird: Definierte man etwa die Parodie nur durch ihre burleske Funktion, müßten Werke wie Laforgues Hamlet, Giraudoux' Elektra, Thomas Manns Doktor Faustus, Joyces Ulysses oder Tourniers Freitag, die zu dem Text, auf den sie sich beziehen, mutatis mutandis dieselbe Beziehung unterhalten wie der Virgile travesti zur Aeneis, unberücksichtigt bleiben. Jenseits funktioneller Unterscheidungen liegt hier wenn nicht Identität, so doch Kontinuität des Verfahrens vor, mit der man sich auseinandersetzen sollte und die einem (wie oben angekündigt) verbietet, sich mit den kanonischen Formeln zufriedenzugeben. Die von mir vorgeschlagene <> Gliederung stimmt, wie sich leicht feststellen läßt, mit der gebräuchlichen Gliederung in einem Punkt überein: in der innerhalb der beiden Beziehungskategorien möglichen Unterscheidung zwischen Parodie und Travestie einerseits und Persiflage und Pastiche andrerseits. Letztere beruht natürlich auf dem funktionellen Kriterium der Opposition zwischen satirisch und nicht-satirisch; erstere läßt sich durch ein rein formales Kriterium begründen, nämlich den Unterschied zwischen einer semantischen Transformation (Parodie) und einer stilistischen Transposition (Travestie), weist aber auch einen funktionellen Aspekt auf, da die Travestie ja unleugbar satirischer oder 43 aggressiver mit dem zu parodierenden Hypotext umgeht als die Parodie, die ihn nicht eigentlich als Objekt einer bloßstellenden stilistischen Bearbeitung, sondern lediglich als Modell der Konstruktion eines neuen Textes betrachtet, der sich nach Fertigstellung von seiner Vorlage ablöst. Meine Klassifizierung ist somit nur insofern struktural, als sie in groben Zügen zwischen Typen hypertextueller Beziehungen unterscheidet, wird jedoch wieder zu einer funktionellen Klassifikation, wenn sie zwischen konkreten Praktiken unterscheidet. Daher empfiehlt es sich, diese beiden Kriterien offiziell zu machen und sie in einer Tabelle mit zwei Eingängen, einem strukturalen und einem funktionellen, darzustellen, ähnlich wie das (implizite) Schema der Gattungen bei Aristoteles einen thematischen und einen modalen Eingang hat. Beziehung /Funktion nicht-satirisch satirisch Transformation PARODIE TRAVESTIE Nachahmung PASTICHE PERSIFLAGE Damit übernehmen wir zwar, wenn auch nur zum Teil, die funktionelle Gliederung, müssen aber offenbar an ihr eine Korrektur vornehmen: Die Unterscheidung zwischen satirisch und nicht-satirisch stellt natürlich eine Vereinfachung dar, da es zweifellos mehrere Arten gibt, nicht satirisch zu sein, und die Beschäftigung mit hypertextuellen Verfahren zeigt, daß es davon mindestens zwei gibt: die eine, zu der die Techniken des Pastiches und der Parodie gehören, will als Zerstreuung ohne aggressive oder spöttische Absicht lediglich unterhalten: Ich bezeichne dies als das spielerische Register des Hypertextes; und die andere, die bereits anläßlich Thomas Manns Doktor Faustus angeklungen ist, sollte daher mangels eines wirklichen Fachbegriffes als sein ernstes Register bezeichnet werden. Diese dritte funktionelle Kategorie zwingt uns dazu, unser Schema nach rechts zu erweitern, um Platz für eine dritte Spalte, die der ernsten Transformationen und Nachahmungen, zu schaffen. Diese beiden großen Kategorien sind nie als solche untersucht worden und tragen daher keinen eigenen Namen. 44 Die hypertextuellen Verfahren im Überblick Beziehung/Register spielerisch satirisch ernst Transformation PARODIE TRAVESTIE (Virgile travesti) TRANSPOSITION (Doktor Faustus) Nachahmung PASTICHE PERSIFLAGE (Nach Art von* ) NACHBILDUNG (Posthomerica) *Robert Neumann, Mit fremden Federn. (A. d. Ü.) Für die ernsten Transformationen schlage ich den neutralen und extensiven^1 Begriff der Transposition vor, und für die ernsten Nachahmungen läßt sich ein zu Pastiche und Apokryph ungefähr synonymer, aber neutralerer Begriff verwenden, nämlich der der Nachbildung. Damit haben wir nun ein vollständigeres und vorläufig endgültiges Schema, das uns immerhin bei der Erforschung des Territoriums hypertextueller Verfahren^2 als Landkarte dienen kann. Zur besseren Veranschaulichung habe ich jeder der sechs großen Kategorien den Titel eines typischen Werks in Klammern beigefügt, dessen Auswahl schon deshalb zufällig und sogar ungerecht sein mag, weil ein einzelnes Werk glücklicherweise immer einen komplexeren Status hat als die Gattung, der man es zuordnet.^3 Alles, was nun folgt, wird in gewisser Weise nichts anderes als ein langer Kommentar dieses Schemas sein, der es, wie ich hoffe, nicht nur bestätigt, sondern auch dazu führen wird, daß es verschwimmt, allmählich zurücktritt und schließlich völlig ver- 1 Das ist eigentlich auch sein einziges Verdienst, alle anderen möglichen Begriffe (Neufassung, Umarbeitung, Überarbeitung, Neugestaltung usw.) hatten aber noch mehr Nachteile; außerdem weist das Präfix trans-, wie wir noch sehen werden, den Vorteil auf, paradigmatisch variierbar zu sein. 2 Aufgrund der Tatsache, daß manche dieser Klassen oft als paraliterarisch gelten und auch die Gattungsgrenzen überschreiten, vermeide ich hier bewußt das Wort Gattung. Verfahren [oder Praktik] scheint mir der handlichere und zutreffendere Ausdruck zur Bezeichnung von Typen von Operationen zu sein. 3 Als Beispiel für den Typ der Nachbildung habe ich ein wenig bekanntes, aber um so kanonischeres Beispiel gewählt; die Posthomerica des Quintus von Smyrna, eine Weiterdichtung der Ilias. Wir werden auf sie noch genauer eingehen. 45 schwindet. Doch zuvor noch drei Bemerkungen zu zwei Aspekten dieses Schemas. Ich habe Funktion durch das flexiblere und weniger brutale Wort Register ersetzt, obwohl es naiv wäre zu glauben, es ließe sich zwischen diesen beiden großen Diathesen der soziopsychologischen Funktionen des Hypertextes eine starre Grenze ziehen: daher die punktierten senkrechten Linien[22], die mögliche Übergänge zwischen Pastiche und Persiflage, zwischen Travestie und Transposition usw. andeuten sollen. Die Darstellung als Tabelle weist aber weiterhin den nicht zu behebenden Nachteil auf, dem Satirischen den Status einer Zwischenstellung zuzuweisen, die das Spielerische und das Ernste unweigerlich und gleichsam natürlich voneinander trennt. Dem ist natürlich nicht so, denn viele Werke liegen im Gegenteil auf der -- hier nicht darstellbaren -- Grenze zwischen dem Spielerischen und dem Ernsten, man denke etwa an Giraudoux. Würde man aber die Spalten des Satirischen und des Spielerischen miteinander vertauschen, beginge man die umgekehrte Ungerechtigkeit. Es wäre daher eher an ein kreisförmiges System zu denken, ähnlich dem von Goethe für seine Dreiteilung der Dichtarten geplanten, in dem jede Ebene sich mit den beiden anderen berührt, wobei aber wiederum die Überschneidung mit der Kategorie der Beziehungen im zweidimensionalen Raum der Gutenberg-Galaxie nicht dargestellt werden kann. Die Dreiteilung der Register ist zweifellos recht grob (ein wenig wie Bestimmung der drei <> stellt eine elementare Einheit dar. Sie können durchwegs, und dies gilt insbesondere für die Transposition, in noch einfachere Operationen zerlegt werden. Umgekehrt werden wir auf komplexere Gattungen stoßen, Mischungen aus zwei oder drei grundlegenden Verfahren, mit denen wir uns hier noch nicht auseinandersetzen können. 47 Kritik und Poetik auf mehr oder weniger geregelte Weise miteinander ab. Was aber das Schachbrett (man könnte es auch <> taufen oder es nach einem anderen Brettspiel benennen) angeht, zu dem unsere Übersicht geworden ist, werden wir nun folgendermaßen vorgehen: zunächst schließen wir das bereits zur Hälfte erforschte Kästchen der klassischen und modernen Parodie (Kap. VIII bis XI) ab und gehen dann zur Travestie in ihren burlesken und modernen Ausprägungen über (Kap. XII und XIII). Die oft schwer unterscheidbaren Verfahren des Pastiches und der Persiflage sowie die zwei komplexen Verfahren der gemischten Parodie und des Antiromans, die beiden verpflichtet sind, werden uns in den Kapiteln XIV bis XXVI beschäftigen. Dann einige typische Beispiele für die Nachbildung und insbesondere die Weiterdichtung (Kap. XXVII bis XXXIX). Und zum Schluß werden wir uns endlich (Kap. XL bis LXXX) dem Verfahren der Transposition zuwenden können, das die bei weitem reichhaltigsten technischen Möglichkeiten aufweist und von größter literarischer Bedeutung ist. Dann wird es allerdings Zeit werden, zu einem Schluß zu kommen und unsere Werkzeuge zu : stauen, da die Nächte in dieser Jahreszeit schon recht kühl sind. Aus dem Kapitel XXXVIII 281 <> Werk vergessen wollte -- ist die blauäugige Besucherin durchaus << Werthers Lotte>>, und keiner der zwei Hauptbeteiligten kann irgend etwas daran ändern. Im Kopf der Besucher entsteht nicht die Beziehung zwischen der Charlotte von 1816 und der von 1772, die sie nicht gekannt haben, sondern unweigerlich die zwischen der Besucherin und ihrem fernen Ebenbild im Roman, der schwarzäugigen Charlotte. Das gleiche gilt für den Leser, für den symmetrisch der Vergleich zwischen dem majestätischen Geheimrat und dem blassen Helden im blauen Anzug mit gelber Weste entsteht. Unweigerlich verspüren wir auch den Kontrast zwischen dem verzweifelten Selbstmord des einen und dem gelassenen und blühenden Alter des anderen. <>, schrieb Goethe (der echte) 1805: Eben dieses Überleben wird hier in Frage gestellt und, ob man will oder nicht, stumm angeklagt; man überlebt nicht ungestraft einen simulierten oder fiktiven Selbstmord, und diese Situation taucht jede Daseinsbezeugung des ruhmreichen Genies in ironisches Licht und stellt das kurzzeitig durch sein ungeschicktes Vorgehen gefährdete Gleichgewicht zugunsten Frau Kestners wieder her. Vor Charlotte wirkt Goethe lächerlicher wegen seines Wohlbefindens als Charlotte, die unter einem Vorwand nach Weimar gereist ist, mag sie auch in einer weißen Toilette auftreten, der ein berühmtes rosa Band fehlt. Diese psychologische Beziehung läßt sich auch in Textbegriffe übersetzen: Frau Kestner ist auch für uns <>, der Herr Geheimrat kann auf keinen Fall Werther sein. Zwischen beiden steht nicht, wie damals, ein Verlobter, 283 sondern ein Romanheld, das heißt der Roman als solcher, dem sie, ob nun paradoxerweise oder nicht, treuer geblieben ist als er. Ein Text, eine Fiktion trennt sie, und der zweideutige Status dieser Trennung - dieser Entfernung - läßt Lotte in Weimar zu einem ironischen Nachspiel zu Werther werden; zu einem Nachspiel, das vielleicht für ein Supplement steht: etwas wie Das Wohlbefinden des alten Werther. ------------------------------- [1] Aristoteles, Poetik, Kap. I; vgl. G. Genette, Introduction `a l'architexte, Kap. II [2] O. Delepierre, Essai sur la parodie chez les Grecs, les Romains et les modernes, London 1870. [3] Abbé Sallier, Discours sur l'origine et sur le caractere de la parodie, in: Histoire de l'Academie des Inscriptions, Bd. VII, 1733. [4] J. C. Scaliger, Poetices libri V/7, 1561, I, 42. [5] Lexikon, Art. parôdia, 26 [6] A. Houdar de La Motte, Discours sur Homere, Vorwort zu seiner <<Übersetzung>> der Ilias, 1714. [7] Racine, Dramatische Dichtungen. Geistliche Gesänge, Bd. I. Deutsche Nachdichtung von Wilhelm Willige, Darmstadt, Berlin, Neuwied: Luchterhand, 1956, S. 129. [8] Moliere, Sertorius, Februar 1662, V. 1868; Die Schule der Frauen, Dezember 1662, V. 642 (Dt. v. Hans Weigel, Zürich 1988,8. 42). Und hier noch eine andere parodistische Verwendung eines Verses des Sertorius, wobei jedoch ein Wort verändert wurde: Ah, pour etre Romain, je n'en suis pas moins homme! moins ménì (V. 1194) wird in Tartuffe (V. 966) zum berühmten Gewiß; der frömmste Mann bleibt aber doch ein Mann! (Tartuffe oder der Betrüger. Deutsch von H. Weigel, Zürich: Diogenes, 1967, S. 38.) [9] Michel Butor, Repertoire III, S. 18. [10] Ménards Leistung (Pierre Menard, Autor des Quijote, in: Gesammelte Werke 3/I: Erzählungen 1935-1944. Nach der Übersetzung v. Karl A. Horst, bearbeitet v. Gisbert Haefs, München Wien 1981, S. 112- 123) ist, was ihr imaginäres (und im übrigen unvollendetes) Ergebnis betrifft, die einer minimalen oder rein semantischen Parodie: Ménard schreibt den Quijote Wort für Wort nochmals, und der historische Abstand zwischen den beiden identischen Niederschriften verleiht der zweiten einen ganz anderen Sinn als der ersten (dieses fiktive Beispiel macht deutlich, daß das <> einer solchen Parodie nicht in der Dimension des Textes, sondern in der der Transformation selbst liegt). Dasselbe ließe sich von einem perfekten Pastiche sagen (etwa von Bizets Symphonie en ut in bezug auf den klassisch-schubertischen Stil), beim Pastiche handelt es sich aber, um es nochmal zu sagen, nur um eine Identität des Stils und nicht des Textes. [11] vivo, vixere, vixi [12] Edmond Bruas Algerienfranzosen-Burleske dieses Titels (Uraufführung 1941, Chaillot 1944) ist eher als Travestie oder, besser, als etwas zu betrachten, das ich gemischte Parodie nennen möchte. Die Tirade Don Diegues, der zu Dodieze wurde (wie Rodrigue zu Roro, Chimene zu Chipette usw.) liest sich folgendermaßen: Que rabia! Que malheur! Pourquoi c'est qu'on vient vieux?... [Qué rabia! Qué Pech! Warum "wird man alt?...] [13] Das Lesepult [14] Edmond de Goncourt/Jules de Goncourt, Germinie Lacerteux, Kap. XLVIII. [15] <>: wörtl. <<Übertreibung, Zuspitzung>>, wir übersetzen durchgängig mit <>. (A.d.Ü.) [16] Um nur die besseren anzuführen: Bachtin, Riffaterre, passim; H. Markiewicz, On the definition of literary Parody, in: To Honor R. Jakobson, La Haye, Paris: Mouton 1967; G. Idt, La parodie: rhetorique ou lecture ?, in: Le Discours et le Sujet, Nanterre 1972- 1973; C. Bouche, Lautréamont, du Lieu commun `a la parodie, Paris: Larousse, 1974; C. Abastado, Situation de la parodie, in: Cahier du XXe siede, 1976; L. Duisit, Satire, Parodie, Calembour, Stanford: Stanford U. P. 1978; L. Hutcheon, Modes et formes du narcissisme litteraire, Ironie et parodie, Ironie, parodie, satire, in: Poe'tique, 29 (1977), 36 (1978) und 46 (1981). In dieser allgemeinen Begriffsverwirrung stößt man auch auf die widersinnige Verwendung des Wortes Pastiche im Sinn von <>, etwa in Le Monde vom 5. Juni 1978: <>; es handelt sich natürlich um Candido, eine moderne Travestie des Candide. [17] Von M.-A. Burnier und P. Rambaud, erschienen bei Bailand. Diesen Titel trug bereits eine viel frühere englische Anthologie. Die Verwendung von parody zur Bezeichnung des satirischen Pastiches war im Englischen, für das pastiche nach wie vor ein Fremdwort ist, viel früher geläufig. Unsere Vulgata enthält somit einen Anglizismus. [18] Manchmal frage ich mich, ob wir die in der Vulgata herrschende Begriffsverwirrung nicht einer unklaren lexikalischen Assoziierung der Adjektiveparodistisch, satirisch und ironisch verdanken, die [im Französischen] irgendwie aneinander erinnern. [19] Sehr grob, da die Klarheit einer Tabelle über einen derart unscharfen Sprachgebrauch hinwegtäuscht. So entspricht etwa die satirische Imitation zugleich einer der Bedeutungen von Parodie und einer der Nuancen von Pastiche, das im Robert folgendermaßen definiert wird: <>. Nur in Opposition zueinander, wenn man sie also einander gegenüberstellt, lassen sich Pastiche und Parodie als spielerische bzw. satirische Nachahmung voneinander unterscheiden. Ich hatte Gelegenheit, Gruppen von französischen und amerikanischen Studenten um eine schriftliche Definition dieser beiden Begriffe zu bitten. Das durchschnittliche Ergebnis dieser Umfrage hat sich dabei als erstaunlich beständig erwiesen: 5% (meiner Auffassung nach) richtige Antworten, 40% zu wirr, um überhaupt etwas auszusagen, und 55%, die mit unserer Vulgata übereinstimmen. Hier ist vielleicht der Ort, um eine Verwendung von Parodie in einer ebenfalls unserer Vulgata entsprechenden Bedeutung zu beichten (Verf., Figures II, S. 163, und Mimologiques, S. 10 und 428). [20] Eher als Karikatur, deren graphische Assoziationen verwirren könnten, da eine gezeichnete Karikatur ja zugleich <> (Darstellung) und satirische Transformation ist. Die Dinge liegen hier völlig anders, sowohl was die eingesetzten Mittel als auch was die Gegenstände betrifft, die ja keine Texte, sondern Menschen sind. [21] Vgl. Marcel Proust, Nachgeahmtes und Vermischtes, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1989. (A.d.Ü.) [22]Die der Scanner nicht mitkopiert hat [23] Der Sohn von Alphonse Daudet, Léon (franz. Nationalist und Antosemit), schrieb diesen historischen Roman 1896. [24] Jean Giono (1895-1970) napsal román v r. 1940, kdy byl vìznìn za svùj pacifismus, a byl pùvodnì zamý¹len jako pøedmluva k autorovu pøekladu Moby Dicka, který vy¹el 1939.