Inzwischen ieben nur noch rund 245000 Menschen in Magdeburg, Magdeburg erwacht nun erst gegen 8 Uhr. Immer mehr Fenster bleiben am frühen Morgen dunkel. Dafür werden die Abende länger: Spielkasinos, Fitneßstudios, Cafes, Restaurants, Kinos, Spielcenter... sorgen für nächtlichen Betrieb. Das städtebauliche Ensemble der Innenstadt wird radikal verändert. Glas- und Beton, riesige Baustellen und frisch verputzte Fassaden bestimmen das Stadtbild. Neue Straßennamen müssen gelernt werden. Verkehrswege werden aus- und umgebaut. Autos, Autos, Autos beherrschen die Straßen. Ganze Parks und Grünanlagen vor allem in der Innenstadt verschwinden. Alte Bäume werden abgeholzt. Daneben wird neu gepflanzt, erhalten Füßgängerzonen Grünflächen und Bäumbe-pflanzungen. Am Stadtrand entstehen Gewerbeparks und Kaufhäuser. Viele Einzelhändler in der Innenstadt kämpfen um ihre Existenz. Zunehmend stehen Bpros, Geschäfte und Wohnungen im Zentrum leer. Auch die Bewohnerstruktur der Neubauviertel ändert sich. Ärzte, Künstler, Wissenschaftler, Öffentliche Bedienstete - alle, die über Arbeit und Geid verfügen, ziehen um, weichen aus in andere Wohnviertel oder aufs Land. Es bleiben die ohnehin sozial Benachteiligten: Arbeitslose, Alleinerziehende, Kinderreiche, Arme. Ein dreigliedriges Schulsystem wird eingeführt. Das soziale Gefüge manifestiert sich in den Biidungswegen. Die medizinische Versorgung erfolgt nun über niedergelassene Ärzte. Polikliniken sind abgeschafft. Die Dispensairebetreuung fällt weg, es bilden sich neue Strukturen. Selbsthiifegruppen entstehen, der Bürger soll sich um sich selber kümmern (Das sagte immerhin schon Brecht). Immer weniger Menschen arbeiten immer mehr. Das Theater, im Mai 1990 abgebrannt, wird wieder aufgebaut. Kulturhäuser schließen. In die Jugendklubs ziehen Erotikshops, Videotheken und Fitneßstudios ein. Parallel dazu entsteht u. a. eine private Kabarettbühne, wird ein „eine weit Haus" gefördert, erhält ein Verein Geld für ein alternatives Kulturzentrum mit Kino, Aussteilungsund Veranstaltungsräumen. Die Volkskunstbewegung weicht dem Vereinswesen. 126 Die Kirchen beherrschen noch immer die Silhouette der Stadt. Die überwiegende Mehrheit der Magdeburger bleibt konfessionslos. Religion wird Unterrichtsfach. Die „Volksstimme" bleibt alleinige Tageszeitung in der Magdeburger Zeitungslandschaft, ihr Profil gleicht zunehmend dem anderer bundesdeutscher Medien. Die Werbung hält Einzug in der Stadt. Groß-flächenplakate, Verkehrsmittelwerbung, Leuchtreklame, Schilder, Schilder, Schilder. Restaurants schießen wie Pilze aus dem Boden -Italiener, Griechen, Chinesen, später kommen Inder, Mexikaner, Franzosen. Die zunehmenden Einkommensunterschiede werden in Magdeburg immer offensichtlicher. Armut schleicht durch manche Stadtviertel, Obdachlosigkeit berührt den Spaziergänger, Arbeitslosigkeit sitzt auf den Bänken in den Parkanlagen der Stadt. Angekommen in der bundesdeutschen Wirklichkeit ist jeder gefordert, für sich selbst zu sorgen. Die Fülle der Möglichkeiten und die machbare Wirklichkeit nebeneinander zu erleben wird für manchen unerträglich. Gewalt, Ausgrenzung, Vereinsamung sind die Folge. Die Suizidrate steigt. Magdeburg macht weltweit durch Skinhead-Überfälle von sich reden. Die Rahmenbedingungen der BRD eröffnen dem Einzelnen unendliche Möglichkeiten, die individuelle Situation begrenzt diese für viele. Für manchen geht es um die nackte Existenz. Persönliche und gesellschaftliche Unzufriedenheit sind auch jetzt mehr oder weniger stark ausgeprägt: Die immer deutlicher werdende Teilung der Gesellschaft in Arm und Reich hat auch Folgen für den Zugang zu Kultur und Gesundheit. Es ist alles möglich, nur nicht für jeden. Das öffnet den Weg für Ressentiments, für Schuldzuweisungen. Verhalten Verhalten, sich zu den natürlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten in Beziehung setzen, das tun auch die Magdeburger. Sie leben ihren Alltag, ihre jeweilige gesellschaftliche Realität, sie wandern auf dem Grat zwischen Anpassung und Auseinandersetzung. 127