2.1. Die rhetorische Fabel 2.1.1. Das begriffliche Umfeld Für Aristoteles gehört die Fabel in die Argumentenklasse der Beispiele (paradeígmata). Wer nachvollziehen will, wie Aristoteles das argumentative Funktionieren der Fabel versteht, muss deshalb die Beispiellehre des Philosophen heranziehen. Sie enthält Aussagen über das Funktionieren des Beispielarguments überhaupt sowie eine Unterscheidung verschiedener Beispielklassen, von denen eine die Fabel ist. 2.1.1.1. Die übergeordnete Gattung: das Beispielargument Was Aristoteles über das Beispielargument unabhängig von seiner Aufteilung in Klassen zu sagen hat, findet sich in >Analytica Priora< II,24. Unsere freie Wiedergabe dieser Lehre geht von dem Argumentationsfall aus, den auch Aristoteles als Demonstrationsobjekt benutzt. Jemand behauptet: Wenn Athen gegen Theben einen Krieg begönne, wäre das ein Fehler. Zur Begründung seines Standpunkts fügt er hinzu: Dass Theben gegen Phokis einen Krieg begann, war auch ein Fehler. Den zu begründenden Standpunkt bezeichnen wir als >These< kann im Inhalt der These zwei Teile unterscheiden: 1. den Fall, über den diskutiert wird, nämlich ein Krieg Athens gegen Theben, und 2. die strittige Aussage, die zu diesem Krieg gemacht wird, nämlich dass er ein Fehler wäre (den man besser vermiede). Der diskutierte Fall und die strittige Aussage über ihn verhalten sich zueinander wie Subjekt und Prädikat. Wenn wir den diskutierten Fall mit >S< (wie >Subjekt<) symbolisieren und die strittige Aussage mit >P< (wie >Prädikat<), können wir der These die schematische Darstellung >S ist P< geben. Der zur Begründung angeführte Satz ist ein Beispielargument. Auch er besteht inhaltlich aus zwei Teilen: 1. dem als Beispiel angeführten Fall des Krieges, den Theben gegen Phokis begann, und 2. einer Aussage über den Beispielfall, nämlich dass auch er ein Fehler war. Wenn wir den angeführten Beispielfall durch >B< symbolisieren, können wir dem Beispielargument folgende schematische Darstellung geben: >B ist (ebenfalls) P<. Wir können nunmehr eine Bedingung formulieren, die ein Beispielargument - gewissermaßen per definitionem - erfüllt: Das als Beispiel angeführte Argument muss über einen Beispielfall (B) dieselbe Aussage machen (nämlich P), die in der These gegen die Meinung des Adressaten über den diskutierten Fall (S) gemacht wird. Der bisher geforderte Zusammenhang zwischen These und Begründung ist jedoch nur eine notwendige, keineswegs eine hinreichende Bedingung des sinnvollen Beispielarguments. Präsident Clinton (S) ist Italiener (P); denn auch Goethe (B) ist Italiener (P). Die Satzfolge entspricht dem aufgestellten Schema: S ist P; denn: B ist P. Gleichwohl liegt keine sinnvolle Argumentation vor. Für ein plausibles Beispielargument gelten zusätzliche Bedingungen, die im Aristotelischen Argumentationsbeispiel erfüllt sind, in dem Beispiel der italienischen Herkunft Präsident Clintons jedoch nicht: Der Adressat muss die als Beispiel angeführte Aussage für wahr halten (er müsste also glauben, dass Goethe Italiener war), und er muss im Beispielfall eine Eigenschaft >M< (wie>Mittelbegriff<) erkennen, die in seinen Augen wiederum zwei Bedingungen erfüllt: 1. M ist eine gemeinsame Eigenschaft des diskutierten Falles S und des Beispielfalles B. 2. M erscheint als die erklärende hinreichende Bedingung dafür, dass dem Beispielfall B das Prädikat P zukommt. Aristoteles geht davon aus, dass in seinem Argumentationsbeispiel der Begriff >Krieg zwischen Nachbarstaaten die Eigenschaft M benennt, die der Adressat im Beispielfall als Erfüllerin beider Bedingungen erkennt: Der Argumentationsempfänger sieht, dass sowohl der diskutierte Fall eines Krieges zwischen Athen und Theben wie auch der herangezogene Beispielfall des Krieges zwischen Theben und Phokis ein Krieg zwischen Nachbarstaaten ist. Außerdem erscheint ihm der Krieg Thebens gegen Phokis genau deshalb als Fehler, weil er zwischen Nachbarstaaten ausgetragen wurde. Der Adressat, der beim Vergleich von These und Beispielsatz eine Eigenschaft M erkennt, die beide Bedingungen erfüllt, wird zu folgender Überlegung geführt: Wenn dem Beispielfall das strittige Prädikat P genau deshalb zukommt, weil er die Eigenschaft M aufweist, und wenn der diskutierte Fall dieselbe Eigenschaft aufweist, dann muss auch ihm das Prädikat P zukommen. Konkret: Wenn, wie mir scheint, der Krieg Thebens gegen Phokis genau deshalb ein Fehler war, weil er zwischen Nachbarstaaten ausgetragen wurde, und wenn, was ich nicht leugnen kann, ein Krieg Athens gegen Theben genauso gut ein Krieg unter Nachbarstaaten ist, dann ist auch er ein Fehler. Die These ist also wahr. Die Eigenschaft M, die der Argumentierende gar nicht nennt, ist die unsichtbare Seele der Beispielargumentation: Am Beispielfall soll der Adressat erkennen, dass es die Eigenschaft M des Aussagegegenstandes ist, die die Zusprechbarkeit des Prädikats P begründet. Daraus ergibt sich dann, dass P auch auf den diskutierten Fall zutrifft, der ebenfalls die Eigenschaft M aufweist. Der Beispielfall bringt dem Adressaten zu Bewusstsein, dass jeder Fall mit der Eigenschaft M die Aussage P erlaubt: Für alle x: x(M) -» x(P). Wenn aber auf jeden Einzelfall mit der Eigenschaft M das Prädikat P zutrifft, dann auch auf den diskutierten Fall. Im Falle der abwegigen Argumentation zur italienischen Herkunft Präsident Clintons ist kaum vorstellbar, dass ein vernünftiger Adressat beim Vergleich von These und Beispielargument eine Eigenschaft M finden könnte, die beide Bedingungen erfüllt. Welche Eigenschaft, die Goethe mit Clinton teilt, könnte den Gedanken nahe legen, dass Clinton italienischer Herkunft sein muss? Dem modernen Leser bietet die Aristotelische Beispieltheorie folgende Schwierigkeit: Einerseits zählt Aristoteles die Beispiele unterschiedslos zu den induktiven Argumenten (>Rhetorik< 1,2,8 und 11,20,2); andererseits jedoch führt er auch die Fabel, die wegen ihrer unverhohlenen Fiktivität keinen Induktionswert haben kann, unter den Beispielargumenten auf (>Rhetorik< II, 20, 2ff.). Wenn das Beispiel einen realen (oder mindestens für real gehaltenen) Sachverhalt ins Feld führt, bietet es in der Tat den Ansatz zu einem Induktionsschluss: Dass dem Beispielfall, der die Eigenschaft M aufweist, das Prädikat P zukommt, ist zwar noch kein Beweis, aber immerhin ein induktives Indiz dafür, dass allen Fällen, die M aufweisen, das Prädikat P zukommen könnte. Dass der Krieg Thebens gegen Phokis, der unter Nachbarstaaten ausgetragen wurde, sich als Fehler erwiesen hat, ist ein induktives Indiz dafür, dass alle Kriege zwischen Nachbarn Fehler sein könnten. Wir werden weiter unten sehen, dass vor allem die historischen Beispiele und - in geringerem Maße - auch die Analogie-Argumente als induktive Argumente gelten dürfen, die Fabel jedoch nicht, da ein frei erfundener Fall keinerlei Beweiswert für die Wirklichkeit hat. Insofern ein Beispiel - wenigstens auch - als induktives Argument wirken will, muss die Voraussetzung erfüllt sein, dass der Adressat die als Beispiel angeführte Feststellung für eine zutreffende Beschreibung der Wirklichkeit hält. Wie man den Terminus >Induktion< (epagoge) verstehen muss, um mit Aristoteles auch die Fabeln zu den Induktionen zählen zu können (Coenen 1992), braucht hier nicht erläutert werden. Was statt des Induktionswertes die Überzeugungskraft einer Fabel ausmacht, kommt weiter unten zur Sprache (2.1.2). Für Beispiele mit Induktionswert gilt folgende Bauanweisung: - Bilde ein Argument, das einem Beispielfall (B) das Prädikat (P) zuordnet, dessen Zuordnung zum diskutierten Fall (S) die These strittig macht. - Wähle den Beispielfall B so, dass folgende Voraussetzungen erfüllt werden: - Der Adressat bezweifelt nicht, dass P auf B zutrifft (er bezweifelt dagegen wohl, dass P auf S zutrifft). - Der Adressat erkennt eine gemeinsame Eigenschaft M des diskutierten Falles S und des Beispielfalles B, die ihm als hinreichende Bedingung dafür erscheint, dass auf den Beispielfall B das Prädikat P zutrifft. Nehmen wir an, die These laute: Paris (S) hat ein staatlich subventioniertes Opernhaus (P). Um die These mit einem Beispielargument zu begründen, brauchen wir einen Satz (oder eine Satzfolge), die über einen anderen Gegenstand (den Beispielfall) dieselbe Feststellung macht. Wir wählen: Wien(B) hat auch ein staatlich subventioniertes Opernhaus (P). Die Auswahl des Beispielfalls (Wien) erfüllt die geforderten Voraussetzungen: 1. Man darf davon ausgehen, dass der Adressat schon von der Wiener Staatsoper gehört hat und deshalb den Inhalt des Beispielarguments nicht bezweifelt. 2. Als Eigenschaft M, die in den Augen des Adressaten beiden Fällen zukommt und überdies eine erklärende hinreichende Bedingung dafür abgibt, dass die Feststellung P in Bezug auf Wien richtig ist, bietet sich westliche Hauptstadt< an: Westliche Staaten lassen aus alter Tradition und aus Gründen des internationalen Prestiges ihre Hauptstädte nicht ohne ein subventioniertes Opernhaus. Beispiele können ihren Adressaten überzeugen - oder auch nicht. Im Prinzip könnte ein Adressat, der ein bestimmtes Beispielargument nicht als durchschlagend empfindet, seine Haltung durch Hinweis auf nicht erfüllte Voraussetzungen begründen. Er könnte geltend machen, dass er den als Beispiel angeführten Sachverhalt bezweifelt oder dass er keine Gemeinsamkeit zwischen dem diskutierten Fall und dem Beispielfall erkennt, die als hinreichende Bedingung für die Zusprechbarkeit des strittigen Prädikates an den Beispielfall gelten könnte. Eine solche Begründung hätte jedoch nur Sinn, wenn in der Argumentationsgemeinschaft Klarheit über die Geltungsbedingungen der Beispielargumentation bestünde. Mit einer solchen Situation kann der Argumentationskritiker jedoch kaum rechnen. Normalerweise werden Beispiele in Situationen vorgebracht, in denen der Adressat sich ihnen verschließen darf, ohne diese Haltung begründen zu müssen. Die Spielregeln - etwa einer antiken Bürgerschaftsversammlung - fordern nicht, dass ein Hörer den Argumenten des Redners zustimmen muss, nur weil er seine Ablehnung nicht erkenntniskritisch begründen kann. Sie fordern, dass er auf Grund des bloßen Eindrucks vorhandener oder fehlender Stichhaltigkeit eine ehrliche Entscheidung trifft, auch wenn er die Berechtigung dieses Eindrucks nicht methodisch prüft. 2.1.1.2 Historisches Beispiel und Analogie-Argument Aristoteles unterscheidet in der >Rhetorik< (11,20) drei Klassen von Beispielargumenten: historisches Beispiel, Analogie-Argument (parabolé) und Fabel (lógos). Die Eigentümlichkeiten der einzelnen Klassen gehen deutlicher aus den angeführten Argumentationsbeispielen hervor als aus den allzu knappen Erläuterungen. Wir versuchen im Folgenden, Unterscheidungskriterien herauszustellen, die Aristoteles nicht unmissverständlich benannt, vielleicht jedoch im Auge gehabt hat. (Zum syllogistischen Rahmen der Aristotelischen Beispiellehre vgl. Coenen 1992). Ob die Aristotelische Dreigliederung alle erdenklichen Beispielargumente erfasst, bleibe dahingestellt, da es uns letztlich nicht um eine Theorie der Beispielargumentation zu tun ist, sondern um eine deutliche Konturierung der Fabel. Dazu bieten historisches Beispiel und Analogie-Argument eine ausreichende Kontrastfolie. Der entscheidende Durchbruch, den ein Beispielargument beim Adressaten erzielen soll, besteht in der Erkenntnis, dass eine Eigenschaft M, die sowohl dem Beispielfall wie auch dem diskutierten Fall zukommt, eine hinreichende Bedingung für die Zusprechbarkeit des strittigen Prädikates P darstellt (>Wenn eine Stadt eine westliche Hauptstadt ist, wird sie ein Opernhaus haben<). Diese Implikationserkenntnis, auf die alle Klassen der Beispielargumente abzielen, kann auf zwei verschiedene Diskussionslagen treffen. Die Eigenschaft M, die das Beispielargument als hinreichende Bedingung für P erweisen will, kann bereits vor Nennung des Beispiels als möglicher Lösungsweg bedacht worden sein. Es blieben jedoch Zweifel, ob das ins Auge gefasste M tatsächlich als hinreichende Bedingung für die Zusprechbarkeit von P gelten darf. Diese Zweifel kann eine Beispielargumentation zerstreuen, indem sie einen oder gar mehrere Fälle anführt, denen ebenfalls die Eigenschaft M und außerdem unstrittig das Prädikat P zukommt. Die Beispielargumentation ist dann die rhetorische (Kurz-)Fassung eines Induktionsschlusses, als welche Aristoteles sie auch bezeichnet (>Rhetorik< 1,2,8). Der vom Beispiel getragene Induktionsschluss ist bestenfalls plausibel, nie jedoch zwingend. Die Plausibilität steigt mit der Anzahl der angeführten M-Fälle, auf die P unstrittig zutrifft. Daher tritt die induktive Beispielargumentation meist als Beispielreihe auf. Um zwingend zu sein, müsste eine Induktion alle wirklichen und möglichen M-Fälle einzeln aufführen und jeden als unstrittigen Träger des Prädikates P erweisen. Eine noch so lange Beispielreihe kann jedoch nie eine >vollständige< Induktion durchführen, da mindestens der diskutierte Fall ein M-Fall ist, dem P nicht unstrittig zukommt (andernfalls wäre die Diskussion gegenstandslos). Die vollständige Induktion müsste die strittige These als schon anerkannt voraussetzen. Die historischen Beispiele, die Aristoteles als erste der drei Beispielklassen nennt, fungieren als unvollständige Induktionen. Wir wollen im Folgenden die Argumentation erörtern, die Aristoteles zur Veranschaulichung des Umgangs mit historischen Beispielen selbst anführt: Als der persische Großkönig Artaxerxes III. im Jahr 345 v. Chr. zur Unterwerfung Ägyptens ausrückt, überlegen die Griechen, ob sie ihm mit Waffengewalt Einhalt gebieten sollen. Ein Befürworter der militärischen Intervention argumentiert mit zwei historischen Präzedenzfällen: Wir müssen gegen den Großkönig rüsten und dürfen ihm Ägypten nicht überlassen; denn auch Dareios [L] setzte nicht nach Griechenland über, bevor er Ägypten unter seine Gewalt gebracht hatte; danach jedoch setzte er über. Ebenso griff Xerxes [L] uns nicht an, bevor er Ägypten eingenommen hatte; danach jedoch setzte er über. Folglich wird auch dieser Großkönig [Artaxerxes III] übersetzen, sobald er. Ägypten in seine Gewalt gebracht hat. Deshalb dürfen wir ihm die Eroberung Ägyptens nicht erlauben. Die angeführten Präzedenzfälle (Dareios und Xerxes) dienen dem induktiven Nachweis, dass jede Eroberung Ägyptens durch einen persischen Großkönig eine hinreichende (und zugleich notwendige) Bedingung für den Angriff auf Griechenland ist und dass folglich der gegenwärtige Großkönig Griechenland genau dann angreifen wird, wenn er Ägypten unter seine Gewalt gebracht hat. Die These lautet bei leichter Schematisierung: Die Eroberung Ägyptens durch Artaxerxes III. (S) ist eine hinreichende (und außerdem notwendige) Bedingung für seinen Angriff auf Griechenland (P).56 Die angeführten Beispiele lauten bei ebenfalls leichter Schematisierung: Die Eroberung Ägyptens durch Dareios I. (B^1) war eine hinreichende (und notwendige) Bedingung für seinen Angriff auf Griechenland (P). Die Eroberung Ägyptens durch Xerxes I. (B^2) war eine hinreichende (und notwendige) Bedingung für seinen Angriff auf Griechenland (P). Die Eigenschaft M, die der diskutierte Fall (S) mit den angeführten Beispielfällen (B^1 und B^2) teilt, heißt >Eroberung Ägyptens durch einen persischen Großkönig<. Die Beispiele sollen nahe legen, dass M immer eine hinreichende Bedingung für die Zusprechbarkeit des Prädikates P ist (>danach greift er Griechenland an<) und dass dieses Prädikat folglich auch auf den diskutierten Fall zutrifft, weil er ebenfalls ein M-Fall ist. Im Gegensatz zu anderen Beispielklassen dienen die historischen Beispiele nicht dazu, die M-Haltigkeit des diskutierten Falles erstmalig als Ansatz zur Problemlösung in die Debatte zu werfen. Natürlich wurde das Unternehmen des Artaxerxes schon vor Anführung der Präzedenzfälle als M-Fall gesehen (>Fall der Eroberung Ägyptens durch einen persischen Großkönig< - als was auch sonst? -, und genau diese Sichtweise warf die Frage auf, ob vielleicht jeder Eroberung Ägyptens durch die Perser eine Invasion Griechenlands folgt. Auf diese schon im Raum stehende Frage antworten die Präzedenzfälle durch eine Induktion, die alle im historischen Bewusstsein der Griechen abruf baren M-Fälle durchmustert, um zu zeigen, dass P auf sie zutraf. Während die historischen Präzedenzfälle die Folgen einer Eigenschaft M aufzeigen, die bei der gegebenen Diskussionslage ohnehin schon als Klassifikationsmerkmal des diskutierten Falles galt und als mögliche Problemlöserin in Betracht gezogen wurde, lenken andere Beispielklassen die Aufmerksamkeit erstmalig auf eine Eigenschaft M, die bisher als möglicher Ansatz zur Problemlösung noch nicht gesehen wurde. Sie antworten nicht auf die Frage >Ist die Eigenschaft M, die in unseren Augen den diskutierten Fall immer schon klassifiziert hat, eine hinreichende Bedingung für das Zutreffen von P?<, sondern auf die Frage >Welche bisher nicht gesehene Eigenschaft des diskutierten Falles könnte eine hinreichende Bedingung für das Zutreffen von P abgeben?<. Um zu erklären, was er unter Analogie-Argumenten (parabolai) versteht, verweist Aristoteles auf die Argumentationspraxis des Sokrates. Sogar das Argumentationsbeispiel, das er anführt, ist bei Xenophon (>Memorabilia< 111,2,9) als wörtliche Rede des Sokrates überliefert: Jemand behauptet, höhere Staatsämter dürften nicht durch Losentscheid vergeben werden. Das ist genauso, wie wenn jemand die Athleten [die eine staatliche Gemeinschaft bei Wettkämpfen vertreten sollen] durch das Los bestimmen wollte und nicht die Wettbewerbsfähigsten ins Rennen schickte, sondern die vom Los Begünstigten oder wie wenn jemand irgendeinen unter den Seeleuten als Steuermann auslosen wollte, als ob der zufällig vom Los Bestimmte und nicht der Sachkundige ans Steuer gehörte. Die strittige These lautet: Hohe staatliche Amtsträger (S) dürfen nicht durch das Los bestimmt werden (P). Zur Begründung werden zwei Beispiele angeführt, die bei leichter Schematisierung wie folgt lauten: Wettkampfteilnehmer (B^1) dürfen auch nicht durch das Los bestimmt werden (P). Steuerleute (B^2) ebensowenig (P). Die gemeinsame Eigenschaft M, die den diskutierten Fall (hohe Amtsträger) mit den Beispielfällen (Wettkämpfer, Steuerleute) verbindet, verlangt eine umständlichere Beschreibung: Hohe staatliche Amtsträger ebenso wie Wettkämpfer und Steuerleute sind Personen, die aus einer Gruppe unterschiedlich geeigneter Kandidaten ermittelt werden, um zum Nutzen und im Namen der Gemeinschaft wichtige Aufgaben zu erfüllen, die eine besondere Eignung verlangen. Wenn die Eigenschaft M so bestimmt wird, schließt sie die Vertretbarkeit des Losentscheides aus, der für die unterschiedliche Eignung der Kandidaten blind ist, obwohl die erfolgreiche Wahrnehmung der übertragenen Funktion von besonderer Eignung abhängt. Hohe Staatsämter dürfen folglich nicht durch Losentscheid vergeben werden. Im Gegensatz zum historischen Beispielfall ist der Analogiefall kein individueller Vorgang (die gerade anstehende Wahl eines Athleten für einen bestimmten Wettkampf oder die Besetzung der Steuermannsstelle für eine bestimmte, gerade bevorstehende Seereise), sondern eher eine ganze Vorgangsklasse. Die Beispiele verweisen auf. die allgemeine Praxis bei der Auswahl von Wettkämpfern und Steuerleuten. Ebenfalls im Gegensatz zum historischen Präzedenzfall dient die gemeinsame Eigenschaft M, die der reale Analogiefall als hinreichende Bedingung für die Zusprechbarkeit von P evoziert, nicht schon vor Anführung des Beispiels als Klassifikationsmerkmal des diskutierten Falles. Vielmehr erscheinen die staatlichen Amtsträger durch ihre plötzliche Gleichstellung mit Wettkämpfern und Steuerleuten in einem ungewohnten Licht. Der provozierte Vergleich lässt eine vorher nicht beachtete Gemeinsamkeit hervortreten, die der Argumentierende als Schlüssel zur Problemlösung anbietet. Während historische Präzedenzfälle das anstehende Problem durch Befragung der Eigenschaft lösen wollen, die ohnehin schon als Klassenmerkmal des diskutierten Falles angesehen wird, bewirkt die Anführung von Analogiefällen eine problemlösende Neuklassifikation des diskutierten Falles. Das neue Klassenmerkmal, auf Grund dessen der diskutierte Fall mit den angeführten Beispielen gleichartig ist, soll als hinreichende Bedingung für die Zusprechbarkeit des strittigen Prädikates P erscheinen. Das Analogie-Argument begnügt sich jedoch nicht damit, eine neue Sicht des diskutierten Falles als Weg zur Problemlösung vorzuschlagen; es geht diesen Weg auch zu Ende, indem es den Ansatz eines induktiven Beweises dafür liefert, dass der neue Klassifikator M tatsächlich die Aussage P rechtfertigt. Das von Sokrates übernommene Argumentationsbeispiel führt zwei Klassen realer Fälle an, die - wie die Fälle der diskutierten Klasse - die Eigenschaft M aufweisen und in denen deswegen die Unvertretbarkeit des Losentscheides als selbstverständlich gilt. Während die historischen Präzedenzfälle induktiv nachzuweisen suchen, dass ein längst anerkanntes Klassifikationsmerkmal des diskutierten Falles die hinreichende Bedingung für die Zusprechbarkeit des Prädikates P liefert, tritt das Analogie-Argument denselben.Beweis für ein Klassifikationsmerkmal an, das es selbst erst in die Debatte geworfen hat. Das Analogie-Argument erfüllt also eine doppelte Funktion: Indem es dem diskutierten Fall unerwartete Beispiele als gleichartig zur Seite stellt, veranlasst es den Adressaten zu einer neuartigen Klassifikation des diskutierten Falles; und indem es zeigt, dass auf die Beispielfälle die Aussage P unstrittig zutrifft, liefert es Material für den Induktionsschluss, dass der neue Klassifikator M eine hinreichende Bedingung für das Zutreffen von P ist. Der historische Präzedenzfall beschränkt sich auf die induktive Funktion, weil er die Zusprechbarkeit von P an ein längst geläufiges Klassifikationsmerkmal des diskutierten Falles bindet. Das Analogie-Argument dagegen bindet - ebenfalls auf dem Wege der Induktion - die Zusprechbarkeit von P an eine bisher nicht bedachte Klassenzugehörigkeit des diskutierten Falles, auf deren Wahrnehmung es den Adressaten erst stoßen muss. Wir werden im Folgenden sehen, dass sich die Fabel darauf beschränkt, eine problemlösende Klassenzugehörigkeit des diskutierten Falles vor Augen zu führen, ohne Material für den Induktionsschluss zu liefern, dass diese Klassenzugehörigkeit tatsächlich das Zutreffen von P bedingt. historisches Beispiel Analogie-Argument Fabel Einführung von M als neues _ + + Klassifikationsmerkmal Ansatz zum Induktionsbeweis, dass M das + + - Zutreffen von P bedingt Anführung eines Einzelfalles statt einer + + Fallklasse Coenen, Hans Georg. Die Gattung Fabel: Infrastrukturen einer Kommunikationsform. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2000. (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 2159 S.). ISBN 3-8252-2159-8 (UTB), ISBN 3-525-03215-3 (Vandenhoeck & Ruprecht). S.