Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel Vorlauf in den Tod Von Winfried Freund »Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« Franz Kafka Dürrenmatts knappe Erzählung erschien erstmals 1952 in dem Band Die Stadt, der im wesentlichen die zwischen 1943 und 1946 entstandene Prosa zusammenfaßt.^1 »Eine Ausnahme bildet der >Tunnel<«, so Dürrenmatt selbst im Nachwort, »den ich 1952 niederschrieb [...]«. ^2 In der Bearbeitung von 1978 strich Dürrenmatt neben kleineren unerheblichen stilistischen Veränderungen den Schlußsatz (»Gott ließ uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu. «) und ließ das Ende in das Wort »Nichts« einmünden. Der nachstehende Deutungsversuch geht auf den Erstdruck zurück, da hier die ursprüngliche Intention mit Blick auf die Entstehungszeit am ehesten faßbar sein dürfte, während sich in der viel späteren Revision unterschiedliche Zeiterfahrungen vermischen. In der Forschung steht die frühe Prosa eher am Rand. Das Hauptinteresse richtet sich naturgemäß auf den Dramatiker Dürrenmatt. Als Erzähler fand und findet er vor allem Beachtung als Kriminalautor. Die vorliegenden Einzeldeutungen zum Tunnel sind durchweg älteren Datums. Sie bewegen sich zeitbedingt zwischen den Polen eines theologischen und gesellschaftskritischen Verständnisses.^3 Daneben hat sich die Schule schon früh der Erzählung angenommen.^4 Der Versuch einer neuen Deutung wird sich vor allem daran messen lassen müssen, ob es gelingt, die Aussage als Antwort auf weiterhin bedrängende Fragen zu begreifen. Der Leser damals wie heute ist beeindruckt von der Dynamik und der unerbittlichen Konsequenz der Erzählführung, die unaufhaltsam der »schlimmstmöglichen Wendung« zustrebt. Zugleich aber drängen sich bei aller erzählerischen Brillanz und gerade ihretwegen die Fragen nach dem Gegenstand und dem Anlaß des Erzählens auf, Fragen, auf die der Text die Antwort auf den ersten Blick schuldig bleibt bzw. sich mit allgemeinen, zunächst wenig Aufschluß bietenden Antworten begnügt. Rätselhaft, wenn auch rhetorisch durchaus wirksam, ist gleich der Erzähleingang mit dem Vierundzwanzigjährigen im Mittelpunkt, »fett, damit das Schreckliche hinter den Kulissen, welches er sah (das war seine Fähigkeit, vielleicht seine einzige), nicht allzu nah an ihn herankomme« (151). Der namenlose junge Mann übernimmt als personales Erzählmedium die Rolle des Sehers, doch was er sieht, ist nur das Unheilvolle und Schreckliche, das gleichfalls namenlos bleibt. Verzweifelt wehrt er sich, das »Ungeheuerliche« hereinströmen zu lassen, das ihn bedrängt und ihn zu einer Reihe von Abwehrgesten herausfordert, die kein anderes Ziel verfolgen, als das real existierende Unheil zu verleugnen. Längst hat er die Hoffnung aufgegeben, seine Universitätsstudien könnten ihm Wege aus dem Dilemma weisen, ihm Perspektiven und Lösungen eröffnen. Die regelmäßige Bahnfahrt zum Studienort ist Teil des Alltagstrotts, ablenkend und betäubend wie alles andere. Die namenlose Angst vor dem Unsagbaren fordert immer neue Verdrängungsstrategien heraus, Strategien, sich vor dem Hoffnungslosen zu verschließen. Indem sich das Medium der personalen Erzählhaltung dem Leser derart verschließt, verweigert es die ihm im Erzählprozeß angetragene Rolle des Vermittlers von Welt. Doch die weitere Entwicklung läßt die selbstgewählte Isolation zusammenbrechen und durchlässig werden für das Verdrängte. Das Erzählmedium, ausgeliefert an die eigene Fähigkeit, das Schreckliche zu sehen, wird schließlich vom Erzählten, der reflektierten Wirklichkeit, überwältigt. Im Zusammenbruch der angestrebten Distanz spiegelt sich die Wirkungslosigkeit der Abwehrmechanismen angesichts des Ungeheuerlichen. Die Erzählung beschreibt im Stil der Kurzgeschichte eine Situation, einen Moment plötzlichen Erkennens. Mit dem Einstieg in den Zug ist der Raum für die gesamte Erzähldauer festgelegt. Veränderlich ist nur die Zeit, deren Vergehen wiederholt durch genaue Zeitangaben spürbar gemacht wird. Das Innere des Zugs verengt sich zum subjektiven Erkenntnisraum, in dem der einzelne bei rasender Geschwindigkeit der Objektivität des Zeitflusses inne wird, den der Zug in seiner linearen Fortbewegung repräsentiert. Mit dem Besteigen des bestimmten Zugs an einem bestimmten Tag sind plötzlich alle Fahrpläne, alle vertrauten, bisher gültigen Erwartungen außer Kraft gesetzt. Die Reisenden bewegen sich außerhalb ihres gewohnten Umfelds in einer fremden, unheimlichen Umgebung. Ähnlich wie in Ilse Aichingers Geschichte Wo ich wohne (1954), in der eine Wohnung Stockwerk um Stockwerk absinkt, oder in der Schiffsgeschichte (1966) von Marie Luise Kaschnitz, in der eine Frau ein falsches Schiff besteigt, das sie über den bisher vertrauten Rahmen hinausträgt, ist auch Dürrenmatts Erzählung im Kern phantastisch strukturiert. In den geregelten Lebensalltag bricht das gänzlich Unerwartete, Regelwidrige ein und löst eine schwere Orientierungskrise aus. Der kurze Tunnel, den der Zug nach der Abfahrt zu durchqueren hat, nimmt wider Erwarten kein Ende. Doch nur der junge Mann hat Blick für das Ungewöhnliche und wird sich plötzlich der Scheinhaftigkeit seines eigenen Ordnungsdenkens bewußt: »[...] (alles, was er tat, war nur ein Vorwand, hinter der Fassade seines Tuns Ordnung zu erlangen, nicht die Ordnung selber, nur die Ahnung einer Ordnung, angesichts des Schrecklichen.)« (153 f.). Phantastisch ist das Ausgeliefertsein an das, was die vertraute Ordnung durchkreuzt, was sich jeder Kontrolle entzieht und die Welt unheimlich macht. Phantastik ist der Stil eines akuten Orientierungsverlusts, der spontanen, ohnmächtigen Gewißheit, dem Chaos ausgesetzt zu sein. In der phantastischen Erzählung nach 1945 spiegelt sich die Sinnkrise nach dem Desaster des Weltkriegs, der den Glauben an tragfähige Werte und an den Menschen überhaupt nachhaltig erschüttert hatte. Der geforderte und wünschenswerte >Kahlschlag< nach 1945, die totale Auslöschung der Spuren des Nazi-Faschismus, hinterließ eine Leere, die Anstoß und Irritation zugleich war. Der junge Mann, exemplarische Figur jener Tage, sieht sich ungeschützt mit dem Unheimlichen einer sinnlosen Wirklichkeit konfrontiert, ohnmächtig, außerstande, seinem Dasein Sinn zu geben, ein Opfer der Zeit, die ihn mit fortreißt in den heillosen Abgrund. Doch nur der Vierundzwanzigjährige, Angehöriger der jungen, von den Älteren allein und orientierungslos gelassenen Generation, spürt das Grauen vor einem absurden Schicksal. Im Zug begegnen ihm Vertreter einer illusionären Lebensordnung, die anders als er den Schein wahren, auch wenn das Chaos immer bedrohlichere Konturen annimmt, die Wände des Tunnels die Lebensmöglichkeiten mehr und mehr einengen. Da ist das Mädchen, das einen Roman liest und über der Lektüre ihre Umgebung vergißt. Fiktion verdrängt die Wirklichkeit, Literatur sperrt den realen Schrecken aus dem Bewußtsein aus. Und da ist der Mann, noch dicker als der Jüngere, der mit sich selbst Schach spielt, unwillig, auf die Sorgen des anderen einzugehen und sich mit der ungewöhnlichen Situation auseinanderzusetzen. Der unerwartete, nicht enden wollende Tunnel veranlaßt ihn lediglich, auf ein statistisches Jahrbuch hinzuweisen, in dem die Schweiz als das Land mit den meisten Tunnels beschrieben wird. Gegen die reale Unordnung wird das formale Vertrauen auf die zahlenmäßige Untersuchung von Massenerscheinungen gestellt, die es erlaubt, vom Einzelfall abzusehen bzw. ihn in das Gesamtbild einzufügen und ihm so alles individuell Beunruhigende zu nehmen. Der formalen entspricht die intellektuelle, an normative Spielregeln gebundene Abwehrgeste des Schachspielers. »Er müsse sich entschuldigen, [...] da er sich mit einem wichtigen Problem der Nimzqwitsch-Verteidigung beschäftige und nicht mehr abgelenkt werden dürfe.« (155) Auf den Angriff des Regelwidrigen in der konkreten Erfahrungssituation, die er jedoch, jedes Gespräch darüber ablehnend, aus dem Bewußtsein ausblendet, reagiert der Spieler mit dem Rückzug auf die Spielregeln und die Logik des Zugrepertoires. Das Spiel als Abwehrgeste gegen den Ernstfall erweist sich dabei von ebenso grotesker Wirkungslosigkeit wie die literarische Fiktion und das Abwehrverhalten des jungen Mannes, den weder die eigene Fettleibigkeit noch die mit Wattebüscheln verstopften Ohren und die Sonnenbrille schützen können vor dem Eindringen des Ungeheuerlichen. Was ihn jedoch von den anderen unterscheidet, ist das Eingeständnis der Ohnmacht aller Abwehrmechanismen einschließlich- der Betäubung durch das zwanghafte Rauchen. Wehrlos ist er der eigenen unseligen Fähigkeit geliefert, das Schreckliche zu ahnen und zu schauen. Die Vermutung liegt nahe, daß auch er eine der zahlreichen literarischen Selbstfigurationen des Autors darstellt, der seine zentrale Aufgabe stets darin gesehen hat, die Scheinsicherungen des modernen Menschen in Frage zu stellen. »Diese Prosa«, so führt Dürrenmatt im Nachwort zu dem frühen Erzählungsband aus, »ist nicht als ein Versuch zu werten, irgendwelche Geschichten zu erzählen, sondern als notwendiger Versuch, mit sich selbst etwas auszufechten [...]« (198). Der moderne Autor der fünfziger Jahre, zu jung, um in den Nazi-Faschismus verwickelt gewesen zu sein, zu alt aber auch, um das Geschichtsdesaster nicht bewußt miterlebt zu haben und sich in den Nachkriegsjahren nicht mit der wachsenden Orientierungslosigkeit konfrontiert zu sehen, wird zum Medium einer schonungslos enthüllenden Weltsicht. Der junge Mann, dessen Absicherungen der eigenen Existenz zusehends wirkungslos werden und der diejenigen der anderen durchschaut, ist ähnlich wie der moderne Autor der installierte Störfaktor, das beunruhigte und beunruhigende Bewußtsein einer Gesellschaft, die ihre Ruhe haben und beruhigt werden möchte. Der Romanleserin wie dem Schachspieler schließlich den Rücken kehrend, erlebt der Vierundzwanzigjährige im geschlossenen Raum des "Zeh-Zugs die Menschen ausschließlich damit beschäftigt, sich abzusichern und abzuschirmen. » Niemand fiel ihm auf, der beunruhigt gewesen wäre. « (157) Man vertieft sich in die Zeitung, in der die Welt in Informationen wohlaufgehoben und überschaubar erscheint, identifiziert wie der Engländer »freudestrahlend« die bedrohlich näherrückenden Felswände mit dem Simplonpaß und wiegt sich in der beruhigenden Identität von Wissen und Wirklichkeit oder wendet sich einfach den kulinarischen Genüssen im Speisewagen zu: »Im grellen Licht des Speisewagens sah man Menschen, die einander zutranken [...].« (160) Auch auf den überfüllten Zug läßt sich bedingt das von Dürrenmatt selbst nahegelegte Höhlengleichnis anwenden: »So ist denn unschwer zu erkennen, daß hinter der >Stadt< Platons Höhlengleichnis steht. « (197) Wie dort scheinen auch hier die Menschen gefesselt in einer unterirdischen Welt, in der sie die Schatten der Dinge für die alleinige Wirklichkeit halten, während ihnen die wahre Welt fremd ist. Derjenige aber, so schildert Plato, der, aus der hellen Wirklichkeit zurückkehrend, die Menschen von ihrem Wahn zu erlösen versuchte, würde unglaubwürdig erscheinen. Einem solchen Menschen gleicht auf den ersten Blick der junge Mann mit seiner tiefen Beunruhigung über das Ungewöhnliche und Unheimliche, das man verkennt, und mit seiner Erinnerung an die lichte Wirklichkeit, die man bei Einfahrt in den Tunnel verlassen hat. Die Sonne hatte eben noch mit voller Kraft geschienen und die Landschaft [...] war wie von Gold gewesen, so hatte alles im Abendlicht geleuchtet, so sehr, daß ihm die nun schlagartig einsetzende Dunkelheit des Tunnels bewußt wurde [. . .]. (153) Anders als die Höhle Platos aber ist die Welt des Tunnels kein bloßes trügerisches Schattenreich, sondern bedrückende Wirklichkeit, ebenso wirklich wie die Landschaft im Sonnenschein. Die Selbsttäuschung der Menschen bei Dürrenmatt besteht gerade darin, daß sie die unheimliche Tunnelwirklichkeit verdrängen wollen, indem sie ihr den Schein des Vertrauten geben oder sie einfach ignorieren. Der Tunnel ist nicht wie die Höhle Spiegel einer wirklichkeitsverfälschenden Erkenntnishaltung, sondern Anlaß, die furchtbar in Erscheinung tretende Wirklichkeit nicht wahrhaben zu wollen. Am Ende der Reihe der sich selbst betrügenden Mitreisenden steht der Zugführer, der im Grunde das Ungeheuerliche ahnt: »Wie wir in diesen Tunnel geraten sind, weiß ich nicht, ich habe dafür keine Erklärung. « (159) Gleichzeitig verweist er jedoch auf die Schienen, die immerhin für eine organisierte Fortbewegung zu sprechen scheinen: »Nichts beweist, daß am Tunnel etwas nicht in Ordnung ist, außer natürlich, daß er nicht aufhört. « (Ebd.) Die Versuche, sich selbst und den jungen Mann zu beruhigen, scheinen widersprüchlich. Das Vertrauen auf den geregelten Gang der Dinge wird jeweils erschüttert durch das, was wirklich und unbezweifelbar der Fall ist. Der Zugführer ist es, der die abschüssige Fahrt des Zugs hervorhebt, begleitet von der Bedrohung durch Gepäckstücke, die sich verselbständigen und unkontrolliert in Bewegung setzen. Bei dem abenteuerlichen Versuch, zusammen mit dem Zugführer auf die Lokomotive überzuspringen, ahnt der junge Mann fern aller Selbsttäuschung, daß der Zug »mit Sterngeschwindigkeit in eine Welt aus Stein« (161) rast. Er weiß, daß nun eingetroffen ist, was er stets befürchtet, worauf er hingelebt hatte, »auf diesen Augenblick des Einbruchs, auf dieses plötzliche Nachlassen der Erdoberfläche, auf den abenteuerlichen Sturz ins Erdinnere« (162). Der Sprung auf die Lokomotive leitet steigernd die Konfrontation mit dem Schrecklichen selbst ein. Vorne in der Lokomotive finden der Zugführer und der junge Mann den Platz des Fahrers leer. Steuerlos rast der Zug bei rasant sich steigernder Geschwindigkeit in die steinerne Tiefe. Ein letztes Mal versucht der Zugführer, vor dem Unabwendbaren die Augen zu verschließen, indem er sich rauchend ablenken möchte: »Ich schätze diese Ormond sehr, [...] nur muß einer gut ziehen, sonst gehen sie aus«, Worte, die den Vierundzwanzigjährigen mißtrauisch machten, weil er spürte, daß der Zugführer auch nicht gern an den Tunnel dachte [...]. (163) Dem jungen Mann, der dem Zugführer am Ende seinen ganzen Vorrat an Ormond Brasil schenkt, ohne Wattebüschel und Sonnenbrille, ist es vorne in der Maschine, das Fahrtziel unmittelbar vor Augen, endgültig klar geworden, was er vorher nur geahnt hatte. Mit der bedrängenden Gewißheit des Schrecklichen schwindet die Aussicht, es je verdrängen zu können. Während der Zugführer eingesteht, selbst »immer ohne Hoffnung gelebt« (165) zu haben, liegt der junge Mann »geborgen auf der Glasscheibe des Führerstandes [...], das Gesicht über den Abgrund gepreßt« (165). Wo alle Abwehrversuche scheitern, gilt es, sich dem unausweichlichen Verhängnis zu stellen, sein eigenes Schicksal anzunehmen. In der rasenden Abfahrt, ausweglos, linear und unumkehrbar in eine Richtung verlaufend, bildet sich der vorgezeichnete menschliche Lebensweg ab, gegen dessen Erkenntnis man sich abzukapseln versucht wie die Menschen in den Abteilen des Zugs, in den selbsteingerichteten Nischen fortgesetzter Lebenstäuschung. Wer aber den Mut aufbringt, sein Abteil, seine Lebensillusion aufzugeben und selbst in Augenschein zu nehmen, wohin die Fahrt geht, der sieht sich hineingerissen in den Sog des Abgründigen. »[...] so rasen wir denn wie die Rotte Korah in unseren Abgrund« (165). Die Anspielung auf Korah und seine Anhänger, die, wie das 4. Buch Mose berichtet, sich unter Berufung auf Gleichheit und Gerechtigkeit gegen Moses auflehnten, um selbst die Macht zu übernehmen, und die Gott bestrafte, indem er sie von der sich plötzlich auftuenden Erde verschlingen ließ,^5 setzt die Situation der Menschen im Zug noch einmal illusionslos ins Bild. Diejenigen, die sich in Selbstsicherheit wiegen im Glauben, ihre Ideen und Vorstellungen durchbringen und ihr Leben bestimmen zu können, verlieren plötzlich den Boden unter den Füßen. Weder Programme noch scheinbar uneinnehmbare Positionen, in denen sich der einzelne abzusichern sucht, können den Menschen retten vor der realen Abschüssigkeit seiner Existenz. Gerade die, die sich in Illusionen über sich selbst und ihr Schicksal flüchten, sehen sich überrascht und erschüttert von dem plötzlichen fatalen Einbruch dessen, was sie in die Tiefe reißt. Sinnlos sind alle Instrumente, alle Steuermechanismen vorne in der Maschine. Die Notbremse funktioniert nicht mehr, der Zugführer, der noch einmal versucht, in den Zug, in die Abteile und die Selbsttäuschung zu entkommen, stürzt schließlich aus dem immer steiler sich abwärts neigenden Gang ab und kommt »blutüberströmt neben dem jungen Mann zu liegen« - mit dem Blick in den Abgrund. » Was sollen wir tun?« (166) Auf diese Kernfrage der praktischen Philosophie, der Ethik, gibt es angesichts des tödlichen Schauspiels nur die Antwort »Nichts«. Alle Versuche, das, was ist, mit etwas, was sein soll, zu überbauen, sind in der Gewißheit des Absturzes zum Scheitern verurteilt. Was dem einzelnen bleibt, ist, das Schreckliche auszuhalten und sich von allen Ausflüchten zu verabschieden. Sittliches Verhalten muß seinen Ausgang nehmen von der Einsicht in die Ohnmacht vor dem eigenen Scheitern: »Nichts. Gott ließ uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu. « (167) Die Lösung, wenn es denn eine gibt, liegt nicht im Himmel, sondern in der Hölle, nicht in luftiger jenseitiger Höhe, sondern in der ganz konkreten Tiefe diesseitigen Daseins. Gott, die Quelle sittlichen Handelns, kann nur im Schicksal menschlicher Existenz selbst geortet werden, dort, wo sich die grenzenlose Ohnmacht des Menschen offenbart. Dürrenmatts phantastische Geschichte ist eine Parabel vom Tod,^6 genauer von dem tödlichen Bewußtsein, das den Menschen auf seiner rasenden Zeitreise dem Ende entgegen befällt und seine Ausflüchte und Abwehrversuche zunichte macht. Die Weite seines Daseins, gespiegelt in der Landschaft bei Abfahrt des Zuges, einer Landschaft allerdings im Abendlicht, bereits vor dem Eintritt in die Dunkelheit, verengt sich zur steil abschüssigen Fahrt durch den Tunnel, der kein Ende nimmt. Dem Reisenden öffnet sich in radikaler Desillusionierung romantischer Sehnsucht keine blaue unendliche Ferne; ohne Hoffnung, seiner Endlichkeit zu entkommen, verengt sich ihm das Leben im Bild des Tunnels zur bedrückenden Nähe des Todes. Der junge Mann als Erzählmedium wird zur exemplarischen Figur der conditio humana, selbst allen Illusionen entsagend und die Illusionen der anderen allein durch seine Haltung entwertend. In der phantastischen Parabel bilden sich existenzphilosophische Grundeinsichten ab, Dürrenmatt vertraut durch sein Studium der Philosophie und Theologie und in der Erzählung selbst präsent in den »verworrenen Studien« des Vierundzwanzigjährigen. Existenzphilosophisch gesehen, gestaltet Dürrenmatts Erzählung eine Grenzsituation, in der dem einzelnen seine eigene existentielle Lage spontan offenbar wird. Gerade die Skepsis rationaler Erkenntnis gegenüber und die Hinwendung zu existentiellem Erleben erschlossen die philosophischen Arbeiten von Heidegger, Jaspers und Sartre der literarischen Gestaltung. Kaum ein Autor nach 1945, nach dem Zusammenbruch einer sich über den Menschen hinwegsetzenden und ihn für angeblich schicksalhaft vorgezeichnete Ziele vereinnahmenden Ideologie vermochte sich dem Gedanken einer nüchternen existentiellen Neubegründung menschlichen Daseins zu entziehen. Existenzphilosophie bedeutet Abschied von allen Lebensanschauungen und Ideologien mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und auf unumstößliche Wahrheiten. Untauglich ist für sie der Verstand wie der spekulative Geist, wenn es um die Wahrheit des Menschen selbst geht, der weder ausgeklügelte Systeme noch hochfliegende Ideen und Phantasieentwürfe beizukommen vermögen. Existenzerhellende Erkenntnis erschließt sich nur in der konkreten Situation jenseits idealistisch abstrakter Überhöhung. Daher ist es notwendig, den Menschen die eigenen Verstellungen bewußt zu machen, seine Selbsttäuschungen zu zerbrechen. In den Abwehrgesten der Fahrgäste im Zug spiegelt Dürrenmatt das insbesondere von Heidegger beschriebene »man«, die personifizierte Übernahme von Verhaltensklischees mit dem Ziel, die Selbstreflexion auszuschalten und damit der Wahrheit über sich selbst auszuweichen. Der einzelne vertraut sich den Angeboten der Kultur, der Literatur, des Spiels und der Vielfalt der Genüsse an, kapselt sich ein in eine Scheinexistenz und verfehlt sich dabei zusehends selbst. Literatur, wie sie Dürrenmatt versteht und wie sie in seinem Protagonisten, dem Vierundzwanzigjährigen, Gestalt gewinnt, verfolgt vor allem die Aufgabe, Illusionen zu entlarven und den Menschen als ein der Zeit verfallenes Wesen in seiner Einsamkeit vor dem Nichts darzustellen. Im jungen Mann konkretisiert sich unabweisbar das Bewußtsein der Endlichkeit. Aus diesem Bewußtsein erwachsen Beunruhigung und Angst. Angst, die das Dasein vereinzelt und so die Möglichkeit eröffnet, das unausweichliche »Inderweltsein«, wie Heidegger sagt, zu begreifen, das Angewiesensein auf eine begegnende Welt, aus der niemand zu fliehen vermag. In der Angst als Grundbefindlichkeit des Menschen offenbart sich ihm das Dasein als ein Sein in der Zeit. Erst im Verlust des scheinbar Sichernden zeigt sich der innerste Kern der Existenz. Dürrenmatts Geschichte erzählt vom Vorlauf in den Tod, indem sie den jungen Mann vor den Tod selbst bringt. Vorn in der rasenden Maschine bietet sich dem Blick durch die Scheibe der tödliche Absturz als die eigentliche Zukunft dar, ein Blick, den es auszuhalten gilt, da es keine andere Möglichkeit gibt, mit der Last des Schicksals fertigzuwerden. Allein aus der nüchternen Existenzerkenntnis kann eine Antwort erwachsen auf die Frage danach, was der Mensch tun soll. Dürrenmatt spart solche Antworten aus. Der Schluß bleibt bewußt offen, um eine Reflexion im Leser darüber in Gang zu setzen, was den Menschen jenseits von Idealen und Ideologien, gespiegelt in den wechselnden Selbsttäuschungen der Fahrgäste, zu tun übrigbleibt. Deutlich wird aber, daß ein sinnvolles Handeln immer nur ein praktisches Handeln im Bewußtsein der eigenen Geschichtlichkeit sein kann. Absolute Geltung gibt es ebensowenig wie allgemeingültige Prinzipien. Der Mensch nach zwei Weltkriegen - in der Zeit, in der die Existenzphilosophie entstand und Resonanz fand - ist nüchtern und bescheiden geworden, bereit, sein Schicksal als eine Existenz zum Tode auf sich zu nehmen. Der phantastische Realismus Dürrenmatts im Gefolge existenzphilosophischer Positionen konfrontiert den Menschen mit seinen wirklichen Aufgaben und Schwierigkeiten, indem er die Flucht vor der Faktizität des Daseins als Möglichkeit zu existieren verwirft. Dürrenmatts Erzählung hat überall dort ihren Platz, wo es um eine realistische Neubesinnung auf die menschliche Geschichtspraxis jenseits trügerischer Lebensentwürfe und ideologischer Weltverbesserungsprogramme geht. Dürrenmatt zeigt den Menschen entblößt von allem Schein, aufgerufen, das Wagnis seiner Existenz trotz und wegen der eigenen Zeitlichkeit auf sich zu nehmen und dabei sein Menschsein als praktischen Handlungsauftrag zu begreifen und zu erfüllen. Es gilt in den Worten Dürrenmatts, »einen Kampf zu führen, der nur dann einen Sinn haben kann, wenn man ihn verlor« (198), in der Gewißheit des Verlusts als fundamentaler Lebenserfahrung und aus der Einsicht in die Ohnmacht des Menschen, eine menschengerechte Welt jenseits von Selbsttäuschung und Größenwahn zu errichten. 1 Friedrich Dürrenmatt, Die Stadt. Prosa I~IV, Zürich: Verlag der Arche, 1952. Im folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert. Die Seitenzahl steht jeweils in Klammern nach dem Zitat. 2 Ebd., S. 197. 3 Theologische Deutungen sind im einzelnen vorgetragen worden von: Peter Spycher, Friedrich Dürrenmatt. Das erzählerische Werk, Frauenfeld 1972, und Johannes Wirsching, »Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel. Eine theologische Analyse«, in: Der Deutschunterricht 25 (1973) H. 1, S. 103-117. Gesellschaftskritische Akzente setzt: Gerhard Knapp, Friedrich Dürrenmatt, Stuttgart 1980, S. 24 f. (Sammlung Metzler, 196). Vgl. auch: Jan Knopf, Friedrich Dürrenmatt, München ^31980. 4 Vgl. Karl Moritz, »Friedrich Dürrenmatt, Der Tunnel. Umarbeitung zu einem Hörspiel in einer Unterprima«, in: Der Deutschunterricht 12 (1960) H. 6, S. 73-80, und Werner Zimmermann, »Friedrich Dürrenmatt, Der Tunnel«, in: W. Z., Deutsche Prosadichtung der Gegenwart. Interpretationen für Lehrende und Lernende, Tl. 3, 2., durchges. Aufl., Düsseldorf 1961, S. 229 bis 236. 5 Aufruhr der Rotte Korah: Num. 16. 6 Bereits Hans Bänziger verweist auf »menschliches Dasein als Falle, Tod als unerbittliche Notwendigkeit« als das Kernthema der Erzählung (H. B., Frisch und Dürrenmatt, Bern/München ^51967, S. 131). Literaturhinweise Friedrich Dürrenmatt: Die Stadt. Prosa I—IV. Zürich: Verlag der Arche, 1952. [Der Tunnel, S. 151-167.] - Der Tunnel. Zürich: Verlag der Arche, 1952. - Werkausgabe in dreißig Bänden. Hrsg. in Zusarb. mit dem Autor. Zürich: Verlag der Arche, 1980. Bd. 20: Der Hund. Der Tunnel. Die Panne. [Der Tunnel, S. 19-34; Anh., S. 95-98.] (Dass. Zürich: Diogenes, 1985-90. Bd. 20. 1990.) - Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hrsg. von Franz Josef Görtz. Zürich: Diogenes, 1988. Bd. 5: Erzählungen. [Der Tunnel, S. 215-230.] Bänziger, Hans: Frisch und Dürrenmatt. Bern/München ^51967. Baschung, Urs J.: Zu Friedrich Dürrenmatts Der Tunnel. In: Schweizer Rundschau 68 (1969) S. 480-490. Knapp, Gerhard: Friedrich Dürrenmatt. Stuttgart 1980. (Sammlung Metzler. 196.) S.24f. Knopf, Jan: Friedrich Dürrenmatt. München ^31980. Moritz, Karl: Friedrich Dürrenmatt, Der Tunnel. Umarbeitung zu einen Hörspiel in einer Unterprima. In: Der Deutschunterricht 12 (1960) H. 6. S. 73-80. Spycher, Peter: Friedrich Dürrenmatt. Das erzählerische Werk. Frauenfeld 1972. Weber, Emil: Friedrich Dürrenmatt und die Frage nach Gott. Zur theologischen Relevanz der frühen Prosa eines merkwürdigen Protestanten. Zürich 1980. Whang Chin Kim: Der Tunnel von Friedrich Dürrenmatt. Versuch einer Interpretation. In: Zeitschrift für Germanistik 8 (1969) S. 82 bis 105. Wirsching, Johannes: Friedrich Dürrenmatt, Der Tunnel. Eine theologische Analyse. In: Der Deutschunterricht 25 (1973) H. 1. S. 103-117. Zimmermann, Werner: Friedrich Dürrenmatt Der Tunnel. In: Deutsche Prosadichtung der Gegenwart. Interpretationen für Lehrende und Lernende. Tl. 3. 2., durchges. Aufl. Düsseldorf 1961. S. 229-336. Interpretationen. Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Band 2. Stuttgart: Reclam, 1996. ISBN 3-15-009463-1. S. 153-166. FRIEDRICH DÜRRENMATT Der Tunnel I. Der Leser, der sich um das Verständnis dieser surrealistischen Geschichte bemüht, wird schon bei der Lektüre des ersten Satzes stutzig werden, nicht nur weil dieser ungewöhnlich weitgespannte und verschachtelte Satz, der in seiner äußeren Fügung an Kleist erinnert, schwer überschaubar ist, sondern vor allem deshalb, weil er in seinem inneren Gefüge verwirrend gegensätzliche Elemente zu einer Sinneinheit verschmilzt. Ein Vierundzwanzigjähriger, fett, damit das Schreckliche hinter den Kulissen, welches er sah (das war seine Fähigkeit, vielleicht seine einzige), nicht allzu nah an ihn herankomme, der es liebte, die Löcher in seinem Fleisch, da doch gerade durch sie das Ungeheuerliche hereinströmen konnte, zu verstopfen, derart, daß er Zigarren rauchte (Ormond-Brasil 10) und über seiner Brille eine zweite trug, eine Sonnenbrille, und in den Ohren Wattebüschel: dieser junge Mann, noch von seinen Eltern abhängig und mit nebulosen Studien auf einer Universität beschäftigt, die in einer zweistündigen Bahnfahrt zu erreichen war, stieg eines Sonntagnachmittags in den gewohnten Zug, Abfahrt siebzehnuhrfünfzig, Ankunft neunzehnuhrsiebenundzwanzig, um anderentags ein Seminar zu besuchen, das zu schwänzen er schon entschlossen war. Drastische Realistik verbindet sich in dieser weitausgreifenden Periode mit Chiffren des Phantastischen, Alltägliches mit Numinosem, äußerste Präzision in der zeitlichen Fixierung einer Situation der modernen Lebenswirklichkeit mit der vagen Andeutung einer geheimen Bedrohung, die Gebrauchs- und Konversationssprache ist durchsetzt mit Wendungen einer recht unkonventionellen, provozierend zugespitzten Diktion. Damit ist aber auch schon im ersten Satz das Bildungsgesetz des Ganzen ins Blickfeld gerückt. Es ist ebenso wirksam in der Fabel und in der Gestalt des jungen Mannes wie in der Gestaltung der bedeutsamen Details. Der Vorgang spielt zunächst in der uns vertrauten Wirklichkeit des Alltags, in einem geographisch genau bestimmten Raum zwischen den Alpen und dem Schweizer Jura und zu einer durch die Angaben des Fahrplans genau festgelegten Zeit, wird aber von dem Augenblick an, da der Zug planmäßig in einen kleinen Tunnel einfährt, in die Wirklichkeit des Absurden überführt, in der andere Zeiten gelten und andere Räume sich öffnen: Der Zug stürzt, anstatt nach kurzer Zeit den Tunnel zu verlassen, in rasender Fahrt - „mit Sterngeschwindigkeit" (80) - ins Innere der Erde hinab. Der junge Mann, der uns im ersten Satz vorgestellt wird und dem das Interesse des Erzählers auch weiterhin vornehmlich zugewandt bleibt, zeigt die Lebensgewohnheiten eines Durchschnittsmenschen unserer Tage, der von Natur aus dazu neigt, die Annehmlichkeiten des modernen sozial gehobenen Massendaseins als selbstverständlich hinzunehmen. Nur durch eine einzige Eigenschaft ragt er aus der anonymen Massengesellschaft heraus, eben jene gleichfalls im ersten Satz schon erwähnte Fähigkeit, das ganz andere zu erspüren, das sich hinter der Fassade der Alltagswirklichkeit verbirgt. Er ist darum auch der erste, der das Ungewöhnliche des geschilderten Vorgangs bemerkt, vor allem aber ist er der einzige, der - mit den letzten Worten, die er spricht und die auch die Geschichte beschließen - diesen Vorgang zu deuten vermag: „Gott ließ uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu." Die Parallele zwischen Fabel und Hauptgestalt erscheint bedeutsam : Ein realer Vorgang der modernen Alltagswelt schlägt völlig unerwartet in ein irreales, traumhaftes oder mythisches Geschehen um, und ein gedankenloser, oberflächlicher Alltagsmensch — so ziemlich das Gegenteil eines homo religiosus — ist überraschenderweise mit der metaphysischen Fähigkeit ausgestattet, eine andersartige Wirklichkeit zu erahnen und als die Wirklichkeit Gottes zu erkennen. Dieser doppelte „Verfremdungseffekt" erweist die Erzählung als eine Parabel für die merkwürdige und beunruhigende Erfahrung, daß die Macht des ganz anderen als das „Schreckliche" und „Ungeheuerliche" dem modernen Menschen mitten im Alltag begegnen kann, und zwar gerade dann, wenn er im selbstverständlichen Vertrauen auf die Sicherheit, die Technik und Zivilisation ihm bieten, am wenigsten mit jener Macht „rechnet", und daß sie sich dabei gerade dem Menschen offenbaren kann, der solcher Auserwählung am wenigsten würdig erscheint, gemäß dem Wort der Schrift: „Der Geist Gottes weht, wohin er will." II. Von diesem Sinn des Ganzen aus, wie er sich aus einer Gegenüberstellung des ersten und des letzten Satzes ergibt, erhalten auch die konkreten, realen Einzelzüge, die der Erzählung in ihrem Ablauf Farbe und Profil verleihen, ihre abstrakte, parabolische Bedeutung. Durch eine Betrachtung der Details wird darum das bisher nur in seinen Umrissen erfaßte Bedeutungsfeld der Geschichte mit Teilbezügen gefüllt und das Spannungsgefälle im Zusammenspiel von stofflichem Vordergrund und überstofflichem Hintergrund sichtbar gemacht. Das Verhältnis zwischen Realität und Irrealität bleibt lange Zeit noch das des ersten Satzes, d. h., es wird uns ein exakt erfaßtes reales Geschehen erzählt und nur gelegentlich und wie beiläufig (anfangs noch durch eine Bemerkung, die ausdrücklich in Klammern gesetzt ist) ein Blick „hinter die Kulissen" gewährt. Indessen zeigt sich in den Einzelaussagen über die gegenständliche Welt immer provozierender jene andere, eigentliche Wirklichkeit an, um die es in unserer Geschichte geht. So wird der überfüllte Zug mit seinem „Wirrwarr der Familien, Rekruten, Studenten und Liebespaare" (73 f.), je länger je mehr selbst zu einer Chiffre, sei es nun für die Menschheit überhaupt oder sei es für die moderne Massengesellschaft im besonderen, die mit kosmischer Geschwindigkeit, die sie dank der modernen Technik wohl zu entfesseln, nicht aber innerlich zu bewältigen vermag, einem unbekannten Ziele zusteuert, ohne sich der Gefährlichkeit dieses Vorgangs bewußt zu sein: Die Reisenden lassen sich durch die ungewöhnlich lange Fahrt im Tunnel nicht einen Augenblick aus der Ruhe bringen, sie rauchen, essen, lesen Romane oder spielen Schach, kurz, sie tun, als gebe es nur die uns vertraute, klar umgrenzte Welt mit fahrplanmäßiger Abfahrt und Ankunft. Die Menschen, an denen er vorbeikam, verhielten sich ruhig, in nichts unterschied sich der Zug von anderen Zügen, die er an den Sonntagnachmittagen gefahren war, und niemand fiel ihm auf, der beunruhigt gewesen wäre. (77) Freilich bleibt die merkwürdig lange Dauer der Tunnelfahrt nicht verborgen; aber man sucht das Rätsel auf rationale Weise zu lösen, und alle derartigen Erklärungsversuche erscheinen im Sinnzusammenhang des Ganzen als Verweisungen auf das Bestreben unserer Zeit, den Geheimnischarakter der Welt zu leugnen und sich gegen die unberechenbaren Wechselfälle des Lebens zu sichern. So wird die erste Verstimmung unter den Reisenden durch das Aufleuchten der Glühbirnen verscheucht - „das rote Mädchen konnte in seinem Roman weiterlesen" (75) -, und der Schachspieler, der von dem „wichtigen Problem der Nimzowitsch-Verteidigung" (76) nicht abgelenkt werden möchte, hält sich an die Erklärung des Statistischen Jahrbuchs, „daß kein Land so viele Tunnel wie die Schweiz besitze". Der junge Mann sieht ein, daß die Statistik keine Antwort auf den Einbruch des „Unberechenbaren" zu geben vermag. Seine Hoffnung, das Rätsel werde sich dadurch auflösen, daß er in den falschen Zug gestiegen sei, nimmt sich, unter den zeitkritischen Aspekt des Ganzen gestellt, wie der illusionäre Versuch moderner aufgeklärter Ideologien aus, die „gebrechliche Einrichtung der Welt" (Kleist) ebenso wie die schicksalhafte Bedrohtheit des Menschen als ein Mißverständnis, als Mangel an wissenschaftlicher Aufklärung und intellektueller Wachheit zu entlarven. Der für die Fahrt verantwortliche „Funktionär" der Technik verliert das trügerische Gefühl der Sicherheit auch dann noch nicht, als er eine Erklärung für die unabsehbare Tunnelfahrt nicht mehr zu geben vermag; auch jetzt noch vertraut er auf die vorgeschriebene Bahn: „Mein Herr ... ich habe Ihnen wenig zu sagen. Wie wir in diesen Tunnel geraten sind, weiß ich nicht, ich habe dafür keine Erklärung. Doch bitte ich Sie zu bedenken: Wir bewegen uns auf Schienen, der Tunnel muß also irgendwo hinführen. Nichts beweist, daß am Tunnel etwas nicht in Ordnung ist, außer natürlich, daß er nicht aufhört." (79) Je weiter die Erzählung fortschreitet, desto mächtiger dringt das metaphysische Geschehen an die immer dünner werdende Oberfläche der realistischen Darstellung, desto mehr entfernen wir uns von der gegenständlichen Welt der Erfahrung, ja am Ende sind wir gar erstaunt darüber, in der grotesk verfremdeten Traumwelt überhaupt noch bekannten Erscheinungen aus der uns umgebenden Realität des Alltags zu begegnen. Damit aber ist die dichterische Intention verwirklicht, den Leser derart zu provozieren, daß er der scheinbar verläßlichen Alltagswelt mißtraut, die scheinbar absurde Welt des Übersinnlichen aber ernst zu nehmen bereit ist. So kann es uns in diesem Stadium der Erzählung nicht mehr genügen, den „sturmartigen, heißen Luftstrom", der dem jungen Mann entgegenschlägt, als der Zugführer die Wagentür öffnet, aus der abenteuerlichen Geschwindigkeit zu erklären, mit der der Zug abwärts rast; vielmehr glauben wir in diesem Luftstrom, der sich bis zur „Wucht" eines „brüllenden Orkans" (80) steigert, schon den Atem einer anderen Welt zu verspüren. Als der junge Mann im Maschinenraum der Lokomotive mit einem Blick auf die Uhr feststellt, daß sie schon in Ölten sein müßten - „achtzehn Uhr vierzig" -, wird uns eindringlich bewußt, daß mit der Fahrt in den Tunnel die meßbare Zeit der Fahrpläne außer Kurs gesetzt ist und der Raum sich ins Unendliche geweitet hat. Wie eine Flucht vor der Wirklichkeit erscheint uns jetzt seine Freude darüber, durch die Bemerkung des Zugführers, er habe seine Zigarre verloren, „auf etwas gelenkt zu werden, was ihn an die Alltäglichkeit erinnerte, in der er sich noch vor wenig mehr denn einer halben Stunde befunden hatte, an diese immergleichen Tage und Jahre..." (81) Immer stärker empfinden der Leser sowohl wie die Gestalten der Erzählung die Unangemessenheit und Unzulänglichkeit der menschlichen Verhaltensweisen und technischen Hilfsmittel, die im Bereich der zeit- und raumgebundenen Wirklichkeit der Sicherung des Daseins dienen; immer häufiger auch nimmt die Gebrauchs- und Konversationssprache die Züge einer - freilich mitunter überdeutlichen — Gleichnisrede an, die das groteske Spiel mit dem Absurden in eine religiöse Parabel verwandelt. „Es war sinnlos, noch eine Rettung zu versuchen. Der im Packraum ist auch abgesprungen." - „Und Sie?" fragte der Vierundzwanzigjährige. „Ich bin der Zugführer", antwortete der andere, „auch habe ich immer ohne Hoffnung gelebt." - „Ohne Hoffnung", wiederholte der junge Mann, der nun geborgen auf der Glasscheibe des Führerstandes lag, das Gesicht über den Abgrund gepreßt. Da saßen wir noch in unseren Abteilen und wußten nicht, daß schon alles verloren war, dachte er. (82 f.) „Sinnlos" erscheinen nun die Instrumente im Führerstand der Maschine, „diese lächerlichen Hebel und Schalter", „sinnlos" auch der Versuch des Zugführers, unter Berufung auf seine „Pflicht" wieder in die Wagen „hinaufzukriechen": Er stürzt auf das Schaltbrett und bleibt blutüberströmt liegen. Auch der „fette Leib" ist jetzt für den jungen Mann „nutzlos" (84), er kann ihn ebensowenig vor dem „Schrecklichen", „Ungeheuerlichen" schützen wie die erlesenen Zigarren und die Wattebüschel, mit denen er „die Löcher in seinem Fleisch" zu verstopfen suchte, durch die jenes „Ungeheuerliche hereinströmen konnte". Auf der anderen Seite hat seine Fähigkeit, das „Schreckliche" zu erahnen, ihn mit unwiderstehlicher Macht bis an die Spitze des Zuges getrieben und damit in diese äußerste Situation gebracht, in der er der fürchterlichen Gewalt des ganz anderen unmittelbar ausgesetzt ist. Er, der „nur auf diesen Augenblick des Einbruchs, auf dieses plötzliche Nachlassen der Erdoberfläche, auf den abenteuerlichen Sturz ins Erdinnere hinlebte" (81), saugt „den Abgrund gierig in seine zum ersten Male weit geöffneten Augen" und verfolgt „unbarmherzig ... doch nicht ohne gespensterhafte Heiterkeit" das „tödliche Schauspiel" einer abgründigen Welt, während die Wattebüschel - Zeichen einer Welt, die sich auf groteske Weise über die Abgründe des Seins hinwegzutäuschen sucht — „durch irgendeinen Luftzug ergriffen ... pfeilschnell nach oben in den Schacht über ihnen fegten". Der verzweifelten Frage des Zugführers „Was sollen wir nun tun?" antwortet der junge Mann mit der Gelassenheit des Wissenden, der den „Abgrund" als die Wirklichkeit des Deus absconditus zu erkennen vermag. In dieser Sicht erscheint nicht mehr das „Ungeheuerliche", sondern gerade das Alltägliche unwirklich und grotesk. Erschließende Fragen zur Betrachtung der Geschichte im Unterricht 1. Kennzeichnen Sie die Gestalt des ersten Satzes! a) Welche Stilelemente verbinden sich in ihm? b) Welche Wirklichkeitsebenen überschneiden sich in ihm? c) In welchem Zusammenhang stehen diese Beobachtungen mit den Aussagen über den Charakter des jungen Mannes? d) Welche Bedeutung hat die Gestalt dieses Satzes für die ganze Geschichte? Beachten Sie vor allem den Schluß der Geschichte! 2. In welcher Weise verändert sich das Verhältnis von wirklichem und traumhaftem Geschehen im Laufe der Geschichte? 3. Wie verhalten sich die Menschen unserer Erzählung angesichts dieser Entwicklung? 4. Welchen Charakter nimmt die Realität der Menschen und Dinge in der Welt des Absurden an? 5. Welche Veränderung geht mit dem jungen Mann am Ende der Erzählung vor sich? 6. Welche Bedeutung hat demnach die Verfremdung der Wirklichkeit in der Geschichte? 7. Zu welcher epischen Gattung zählen Sie die Geschichte? ZIMMERMANN, WERNER.. DEUTSCHE PROSADIcHTUNGEN DER GEGENWART. Interpretationen für Lehrende und Lernende .TEIL III. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann, 1961^2. S. 229-236. http://www.spieker.ch/duerrenmatt/texte/textl5.php 7.12.2005 Friedrich Dürrenmatt INTERPRETATION VOM EMIL WEBER (in: Emil Weber, Friedrich Dürrenmatt und die Frage nach Gott. Zur theologischen Relevanz der frühen Prosa eines merkwürdigen Protestanten, Zürich 1980, S. 207ff.) "Das Gericht, unter dem wir stehen, ist ja Tatsache, ganz abgesehen von unsrer Stellung dazu. Es ist die für unser Leben bezeichnendste Tatsache. Ob sie in das Licht der kommenden Welt und der Errettung, die sie bringt, tritt, das hängt ab von unsrer Beantwortung der Glaubensfrage." (Karl Barth, Der Römerbrief, unveränderter Nachdruck der ersten Auflage von 1919, Zürich 1963, S. 18) Die Erzählung Der Tunnel nimmt in Dürrenmatts früher Prosa insofern eine Sonderstellung ein, als sie die weitaus bekannteste ist. Sie gilt als das literarisch beste Prosastück des frühen Dürrenmatt. Sie hat denn auch die weitaus meisten Einzelinterpretationen erfahren und gehört heute zur Pflichtlektüre an allen höheren Schulen. Der Grund dafür liegt wohl in ihrer Gradlinigkeit und Geschlossenheit. Sie besteht aus einem einzigen Abschnitt. Eine Rahmenerzählung fehlt. Peter Spycher nennt ihren Darstellungsstil im Unterschied zu den früheren Texten realistischer, weniger traumhaft, distanzierter, überlegener, gelassener. Hans Bänziger, der den Wert von Dürrenmatts früher Prosa im übrigen gering einschätzt, sieht im Tunnel immerhin schon den Übergang von der schwarzen Literatur (zu der Dürrenmatt, wie zum , nicht passt) zur bunten .... Für Elisabeth Brock-Sulzer besteht der besondere Charakter von Dürrenmatts Tunnel darin, dass in ihm nun endlich der Durchbruch zu einer Art der Heiterkeit vollzogen ist, die erst im Letzten, in der Katastrophe auf blühen kann. Es ist wirkliche Heiterkeit, eine Fröhlichkeit, die nun endlich ihr Heimatrecht gewonnen hat. Nicht aus der Rettung kommt diese Heiterkeit, sie ist Rettung, da sie der Atem der Tapferkeit ist. Judith M. Melton schreibt: It is only in Der Tunnel that Dürrenmatt portrays an individual who is able to place his faith in a God so totally removed from man. Im Unterschied dazu führt nach ihr der Pilatus, wie die andern frühen Prosastücke, the anguish and complete despair of a man who cannot believe in a God he can not understand vor Augen. Am eindeutigsten hat die Sonderstellung von Dürrenmatts Tunnel Urs J. Baschung herausgestellt. Nach einer knappen Kommetierung der ersten sieben Prosastücke von Dürrenmatts Sammelband schreibt er: Doch endlich wird in der folgenden Parabel Der Tunnel Licht. Der Mensch selbst setzt in diesem unerträglichen Zustand des Gequältseins eine gültige Tat. Und siehe da, der Quälgeist Gott wird zum christlichen, erbarmenden Gott, auf den der Mensch seine Hoffnung setzen kann, mit dessen Hilfe er auch die absurde Welt zu bestehen vermag. Dürrenmatt hat einen Menschen gezeichnet, dem es gelingt, einen Gott anzunehmen, der zum ersten Male die alttestamentlichen rächenden Züge abgelegt hat und sich als helfender Gott zeigt. Der Interpret wird nun aber gerade von der Feststellung her, dass Dürrenmatt nicht den Tunnel, sondern den Pilatus ans Ende seines Sammelbandes gestellt hat, zu fragen haben, inwiefern dem zeitlich letzten frühen Prosastück Dürrenmatts auch theologisch eine Sonderstellung zukommt? Er wird zu fragen haben, ob es zutrifft, dass sich der Tunnel von den andern Texten grundsätzlich darin unterscheidet, als er endlich den Durchbruch von der Verzweiflung zur Heiterkeit und Fröhlichkeit (des Tapferen, des Glaubenden?) gebracht hat? Ist im Tunnel nun mit einem Mal all das überwunden, womit der Autor in den früheren Texten gefochten hat? Trifft die Bemerkung Dürrenmatts, er habe in diesen Texten einen Kampf geführt, der nur dann einen Sinn haben kann, wenn man ihn verlor für den Tunnel nicht zu? Jedenfalls lässt sich die Bemerkung Hans Bänzigers nicht halten, dass der Tunnel den Übergang von der schwarzen zur bunten Literatur erkennen lasse. So wenig Dürrenmatts frühe Prosa eindeutig schwarze, so wenig ist sein späteres Werk eindeutig bunte Literatur. Zu Urs. J. Baschungs Interpretation bemerkt Joachim Bark zutreffend: Eine derartig einlinige Interpretation ... ist das Resultat einer Spielerei mit dogmatischen (und meist vereinfachten) Gottesbegriffen, die dem Autor selbst ferngelegen hat. Die schon bei Brock-Sulzer anzumerkende Gleichsetzung von "alttestamentlich" mit "grausam/rächend" ist eine Hilfskonstruktion, die die (positive?) Christlichkeit des Dürrenmatts der späteren Prosa und der Dramen herleiten soll. Die 1978 bearbeitete Fassung des Tunnels unterscheidet sich von der ursprünglichen darin, dass sie nicht mit dem (positiven) Satz Gott Hess uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu, sondern mit der ihm vorausgehenden, aber immer wieder übersehenen Negation Nichts schliesst. Wollte Dürrenmatt damit die durch die Herauslösung aus dem Sammelband zu dogmatischen Missverständnissen Anlass gebende Erzählung wieder ins rechte Licht rücken; ins Licht der rätselhaften Paradoxie, die im Sammelband vom Pilatus her auf sie fällt? a) Inhalt Ein Vierundzwanzigjähriger, fett, damit das Schreckliche hinter den Kulissen, welches er sah (das war seine Fähigkeit, vielleicht seine einzige), nicht allzu nah an ihn herankomme, der es liebte, die Löcher in seinem Fleisch, da doch gerade durch sie das Ungeheuerliche hereinströmen konnte, zu verstopfen, derart, dass er Zigarren rauchte (Ormond Brasil 10) und über seiner Brille eine zweite trug, eine Sonnenbrille, und in den Ohren Wattebüschel: Dieser junge Mann, noch von seinen Eltern abhängig und mit nebulosen Studien auf einer Universität beschäftigt, die in einer zweistündigen Bahnfahrt zu erreichen war, stieg eines Sonntagnachmittags in den gewohnten Zug, Abfahrt siebzehnuhrfünfzig, Ankunft neunzehnuhrsiebenundzwanzig, um anderentags ein Seminar zu besuchen, das zu schwänzen er schon entschlossen war. Es war Sommer. Die Sonne schien. Der Zug fuhr durch das vertraute schweizerische Mitteiland. Der Student war vorn eingestiegen und arbeitete sich mühsam durch den überfüllten Zug nach hinten. Im hintersten Wagen fand er Platz. Ihm gegenüber sass ein ebenfalls dicker Mann, der mit sich selbst Schach spielte; neben ihm ein rothaariges Mädchen, das einen Roman las. Nach knapp zwanzig Minuten fuhr der Zug in einen Tunnel. Als die Durchfahrt länger als gewöhnlich dauerte, nahm der Student seine Sonnenbrille ab. Die Uhr zeigte zehn nach sechs. Er erhob sich und schaute sich im Wagen um. Die Leute lasen die Zeitung und schwatzten miteinander. Als der Tunnel kein Ende nehmen wollte, stieg im Studenten der Verdacht auf, er könnte in einen falschen Zug geraten sein. So fragte er den dicken Schachspieler, ob der Zug nach Zürich fahre? Dieser bestätigte ihm das und verwies auf ein statistisches Jahrbuch, in dem er gelesen habe, dass kein Land so viele Tunnel wie die Schweiz besitze. Als auch der Schaffner dem Studenten versichert hatte, dass er sich im rechten Zug befinde und der Tunnel immer noch kein Ende nehmen wollte, verlangte der Student nach dem Zugführer. Da sich dieser vorne im Zug aufhielt, machte sich der Student abermals auf den Weg durch den Zug. Dabei stellte er fest, dass der Zug überaus schnell fahren musste; auch war das Getöse, das er dabei verursachte, entsetzlich. Die Passagiere aber verhielten sich alle ruhig; niemand fiel ihm auf, der beunruhigt gewesen wäre. Ein Engländer tippte freudestrahlend mit der Pfeife, die er rauchte, an die Scheibe. Simplon, sagte er. Auch im Speisewagen stellte der Student nichts Auffälliges fest. Am Ausgang des Speisewagens traf er den Zugführer. Wir sind in einem Tunnel, seit fünfundzwanzig Minuten. Der Zugführer schien das auch bemerkt zu haben. Er bat den Studenten um eine Zigarre; er rauchte auch Ormond Brasil 10. Dann führte er ihn weiter nach vorn, in den Packwagen. Hier begann er Tabellen auszufüllen, die er seiner roten Tasche entnommen hatte. Der Student bat den Zugführer, den Zug anzuhalten. Als dieser nur mit den Worten, er habe auch schon daran gedacht reagierte, versuchte der Student die Notbremse zu ziehen, was ihm jedoch nicht gelang. Er verlor im plötzlich abwärtsfahrenden Zug das Gleichgewicht und prallte an die Vorderfront des Packwagens. Für einen Moment hatte sich die hintere Türe des Wagens geöffnet. Der Student sah im grellen Licht des Speisewagens ... Menschen, die einander zutranken . . . Der Zugführer forderte den Studenten dazu auf, ihm in die Lokomotive zu folgen. Im sturmartigen Luftstrom, der ihnen mit der Wucht eines Orkans entgegenschlug, kletterte der Student hinter dem Zugführer zur Maschine hinüber. Erst recht fürchterlich wurde der Weg, als (der Zugführer) auf die Längsseite der Maschine gelangte, nun voll der Wucht des brüllenden Orkans ausgesetzt und drohenden Felswänden, die, hell erleuchtet von der Maschine, heranfegten. Als die beiden sich in der Lokomotive befanden, wurde es stiller um sie. Sie zündeten sich eine neue Ormond an. Es war achtzehnuhrvierzig und der Tunnel draussen dauerte immer noch. Der Zugführer - Keller ist mein Name - sagte zum Studenten, er sei auf die Maschine hinübergeklettert, um Zeit zum Überlegen zu schaffen. Dann schlug er vor, in den Führerraum zu gehen, blieb aber dann selber unschlüssig stehen. Da ging ihm der Student voran. Als er die Türe zum Führerraum geöffnet hatte, fand er diesen leer. Der Zugführer drückte einige Hebel und zog auch die Notbremse, doch die Maschine war nicht mehr anzuhalten. Den Zug mit sich reissend raste sie immer weiter in den Tunnel hinein. Der Geschwindigkeitsmesser zeigte Hundertfünfzig. Mein Gott&, sagte der Zugführer, so schnell ist sie nie gefahren, höchstens Hundertfünf. Der Student schrie nach dem Lokomotivführer. Abgesprungen, schrie Keller zurück . . . Der im Packraum ist auch abgesprungen. Und Sie? fragte der Vierundzwanzigjährige, "Ich bin der Zugführer" antwortete der andere, "auch habe ich immer ohne Hoffnung gelebt." - "Ohne Hoffnung" wiederholte der junge Mann, der nun geborgen auf der Glasscheibe des Führerstandes lag, das Gesicht über den Abgrund gepresst. Der Zugführer wollte in den Zug zurück, da dort die Panik ausgebrochen sein musste. Der Geschwindigkeitsmesser zeigte nun Zweihundertzehn. Das in den Augen des Studenten sinnlose Unternehmen des Zugführers scheiterte. Der Zugführer stürzte aus dem Korridor der Lokomotive, durch den er sich hinaufzustemmen versucht hatte, auf das Schaltbrett hinunter. Er schrie: Was sollen wir tun? Der auf der Scheibe liegende Vierundzwanzigjährige antwortet unbarmherzig, doch nicht ohne eine gespensterhafte Heiterkeit: Nichts. Gott Hess uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu. b) Interpretation Der Städtezug, der fahrplanmässig um neunzehnuhrsiebenund zwanzig ankommen sollte, erreicht sein Ziel nicht. Ein Vierundzwanzigjähriger, der dem Schrecklichen hinter den Kulissen entgehen wollte, stürzt in seinen Abgrund. Angesichts des Zu-Falls des Schrecklichen sieht er sich mit der nach Kierkegaard schwersten aller Kategorien konfrontiert, mit der Frage nach Möglichkeit. aa) Die Unmöglichkeit des Versuchs, dem Schrecklichen hinter den Kulissen zu entgehen Ein Vierundzwanzigjähriger hatte die Fähigkeit, das Schreckliche hinter den Kulissen zu sehen. Sein ganzes Verhalten war aber darauf ausgerichtet, sich das Schreckliche vom Leibe zu halten. So rauchte er Zigarren, trug eine Sonnenbrille und verstopfte seine Ohren mit Wattebüscheln. Mit dieser komischen Charakterisierung des Vierundzwanzigjährigen macht Dürrenmatt gleich von Anfang an die Unmöglichkeit seines Versuchs, dem Schrecklichen zu entgehen, deutlich. Seine Studien - ebenfalls ein Versuch, sich vom Schrecklichen Distanz zu verschaffen - werden nebulos und verworren genannt. Der Vierundzwanzigjährige betrieb sie nicht freiwillig, sondern weil er musste; er war noch von seinen Eltern abhängig . So war er denn schon vor Antritt seiner Reise entschlossen, das morgige Seminar zu schwänzen. (alles, was er tat, war nur ein Vorwand, hinter der Fassade seines Tuns Ordnung zu erlangen, nicht die Ordnung selber, nur die Ahnung einer Ordnung, angesichts des Schrecklichen, gegen das er sich mit Fett polsterte . . .). Dürrenmatt nennt das Tun des Vierundzwanzigjährigen einen Vorwand. Er spricht von der Fassade seines Tuns, denn es entsprach nicht seiner Einsicht in das Schreckliche hinter den Kulissen. Es war von der angesichts des Schrecklichen aussichtslosen Absicht bestimmt, Ordnung zu erlangen. Im Unterschied zu den Hauptgestalten der vorangehenden Prosastücke war der Vierundzwanzigjährige zwar nicht mehr darauf aus, die Ordnung selber, sondern nur noch die Ahnung einer Ordnung zu finden. Wie der Fortgang der Erzählung deutlich macht, ist aber auch das eine Unmöglichkeit. Angesichts des Schrecklichen gibt es nicht einmal die Ahnung einer Ordnung. Der Vierundzwanzigjährige hatte beim Betreten des Zuges die Wattebüschel aus den Ohren entfernt und war vorn eingestiegen. Er entsprach mit seinem Verhalten damit insofern seiner Fähigkeit, das Schreckliche hinter den Kulissen zu sehen, als er vorn im Zug dem Ziel aller Dinge am nächsten war. Die Einsicht, die zunächst sein Tun bestimmte, machte nun aber alsbald der Absicht Platz, dem Schrecklichen zu entgehen. Er kämpfte sich durch den überfüllten Zug nach hinten. Der Vierundzwanzigjährige erinnert damit an den Fremden in der Falle, der sich in seiner Traumvision gegen den sich in die Tiefe hinabwälzenden Menschenstrom nach oben kämpfte, um dem Sturz in den Höllenschlund zu entgehen. Während in der Falle der Fremde auf seinem Fluchtweg zuletzt mit sich selber allein war, fand der Vierundzwanzigjährige im hintersten Wagen des Zuges eine Bank für sich allein. Ihm gegenüber sass einer, der noch dicker war als er, der mit sich selbst Schach spielte. Neben ihm sass, ebenfalls für sich allein, ein rothaariges Mädchen, das einen Roman las. Der Vierundzwanzigjährige hatte sich im geschlossenen Räume des fahrplanmässigen Zuges, in dem das Problem der Nimzowitsch-Verteidigung und das Rauchen wichtig waren, eben eine Ormond Brasil 10 angesteckt, als der Tunnel kam, der ihm länger als sonst zu dauern schien. Er kannte diese Strecke. Er hatte sie fast jeden Samstag und Sonntag seit einem Jahr befahren. Als der Tunnel nun aber kein Ende nehmen wollte, begann er nach einer Erklärung zu suchen. Judith M. Melton schreibt dazu: "Remaining true to his conscious motivation establishing order, he tries to order his world by reason. Sein Verhalten erinnert damit an dasjenige des Wärters in der Stadt. Just as the guard tries to assess his position within the environment of the prison, so does the Student try to assess his position on the train." Zuerst erklärte der Vierundzwanzigjährige die Länge des Tunnels damit, dass vor der Einfahrt die Sonne mit voller Kraft geschienen hatte; umso dunkler und länger musste ihm nun der Tunnel erscheinen. Als jedoch die jede Sekunde erwartete Helle nicht anbrach, nahm er zunächst einmal die Sonnenbrille ab. Als nach weiteren zehn Minuten der Tunnel immer noch kein Ende nehmen wollte, versuchte er es mit einer zweiten Erklärung. Er musste den falschen Zug genommen haben. Um für seine Erklärung eine Bestätigung zu bekommen, fragte er den dicken Schachspieler. Dieser versicherte ihm, dass der Zug nach Zürich fahre und fügte seinerseits als Erklärung für die Länge des Tunnels hinzu, er habe in einem statistischen Jahrbuch gelesen, dass kein Land so viele Tunnel wie die Schweiz besitze. Der Vierundzwanzigjährige hielt weiter an seiner Erklärung fest, er müsse den falschen Zug genommen haben. Werner Zimmermann schreibt dazu: Seine Hoffnung, das Rätsel werde sich dadurch auflösen, dass er in den falschen Zug gestiegen sei, nimmt sich . . . wie der illusionäre Versuch moderner aufgeklärter Ideologen aus, die "gebrechliche Einrichtung der Welt" (Kleist) ebenso wie die schicksalshafte Bedrohtheit des Menschen als ein Missverständnis, als Mangel an wissenschaftlicher Aufklärung und intellektueller Wachheit zu entlarven. So war der Vierundzwanzigjährige überzeugt, dass der Schaffner seine Fahrkarte zurückweisen werde. Aber auch dieser bestätigte ihm, dass er im rechten Zug sitze. Es sei jetzt sechsuhrfünfundzwanzig und in zwölf Minuten werde der Zug fahrplanmässig in Ölten ankommen. Da verlangte der Vierundzwanzigjährige nach dem Zugführer. Der Schaffner sagte ihm, dieser halte sich vorn im Zug auf. In der Traumvision der Falle heisst es vom Fremden, der auf seinem Weg nach oben in die kalte Leere gelangt war: Es war unmöglich, allein zu sein, nur sich selbst gegenüber. So gab es für ihn, der sich auf der Flucht vor dem Feuermeer befand, schliesslich nur noch eine Möglichkeit: Wieder hinab zu den Menschen ... Im Tunnel geht der Vierundzwanzigjährige nun wieder nach vorn, um vom Zugführer Aufschluss zu erhalten. Dieser konnte ihm aber, obschon (oder weil?) er dieselbe Zigarrensorte wie er rauchte, auch keine befriedigende Erklärung geben. "Mein Herr, ich habe ihnen wenig zu sagen. Wie wir in diesen Tunnel geraten sind, weiss ich nicht, ich habe dafür keine Erklärung. Doch bitte ich Sie zu bedenken: Wir bewegen uns auf Schienen, der Tunnel muss also irgendwo hinführen. Nichts beweist, dass am Tunnel etwas nicht in Ordnung ist, ausser natürlich, dass er nicht aufhört." Der Vierundzwanzigjährige erkannte, dass es für den Schrecken des Tunnels keine Erklärung gab. So versuchte er, wie der Kohlenträger in der Stadt, dem Schrecklichen mit einer Tat beizukommen. Er wollte die Notbremse ziehen. Aber auch dieses Unternehmen erwies sich als unmöglich. Als er mit dem Zugführer in den Führerraum der Lokomotive gelangt war, fand er diesen leer. Alle Versuche, den Zug anzuhalten, erwiesen sich endgültig als aussichtslos. Für den Einfall des Schrecklichen gab es keine vernünftige Erklärung und er konnte auch durch die mutigste Tat nicht verhindert werden. So raste der überfüllte Zug wie die Rotte Korah dem Abgrund zu. Auf die verzweifelte Frage des Zugführers: "Was sollen wir tun?" gab der Vierundzwanzigjährige nicht ohne gespensterhafte Heiterkeit zur Antwort: "Nichts. Gott liess uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu." Elisabeth Brock-Sulzer beschliesst ihre Kommentierung des Tunnels mit den Worten: Und wieder sind wir auf jene Grundfrage gestossen, die uns die Existenz eines Dürrenmatt stellt: Wie besteht ein von Natur aus heiterer Mensch, dem Klarsicht gegeben ist, diese unsere Welt? Brock-Sulzer geht von der Voraussetzung aus, dass Dürrenmatt ein von Natur aus heiterer Mensch sei. Der Vierundzwanzigjährige im Tunnel war es jedenfalls nicht. Seine Gabe der Klarsicht bestand darin, das Schreckliche hinter den Kulissen zu " sehen. Die Erzählung macht deutlich, dass zwei Möglichkeiten, die Welt zu bestehen, für ihn ausser Betracht fallen: diejenige der beiden, die aus dem Zug gesprungen sind, und diejenige des zwischen Fatalismus und Pflichtbewusstsein schwankenden Zugführers. Von da her lautet die Grundfrage, vor die uns Dürrenmatts Erzählung stellt: Wie besteht ein Mensch, der die Fähigkeit hat, das Schreckliche hinter den Kulissen zu sehen, diese unsere Welt, ohne Selbstmord zu begehen und ohne zum Fatalisten zu werden (der dann schliesslich doch meint, die in Panik geratene Welt wieder in Ordnung bringen, oder wenigstens beruhigen zu können)? bb) Der Einfall des Schrecklichen als Möglichkeit ... Für was für eine Möglichkeit stehen die nicht ohne gespensterhafte Heiterkeit gesprochenen letzten Worte des Vierundzwanzigjährigen? Für Elisabeth Brock-Sulzer sind sie Ausdruck eines Menschen, von dem alle falsche Behaglichkeit, von der Korpulenz zur Doppelbrille, abgefallen ist, Ausdruck wirklicher Heiterkeit und Fröhlichkeit. Seine Heiterkeit ist Rettung, da sie der Atem der Tapferkeit ist. Harald 0. Dyrenforth vergleicht die Heiterkeit des Vierundzwanzigjährigen mit derjenigen des Sokrates, als er den Giftbecher zu sich nahm und mit derjenigen Jesu beim Abendmahl. Nach Robert Hippe ist der Vierundzwanzigjährige vom Ratlos-Verwirrten zum Erkennenden geworden. Werner Zimmermann spricht von der Gelassenheit des Wissenden. Wir fragen: Lassen sich diese positiven Interpretationen angesichts des Gespensterhaften der Heiterkeit des Vierundzwanzigjährigen halten? Hat der Interpret sich nicht davor zu hüten, das unbarmherzige Nichts des Vierundzwanzigjährigen wieder in ein moralisches Etwas, in Fröhlichkeit, in Tapferkeit umzumünzen? Ebenso fraglich ist, ob seine Heiterkeit mit derjenigen des Sokrates, des Erkennenden oder Wissenden verglichen werden kann. Ist sie nicht vielmehr Ausdruck dessen, der angesichts des Einfalls des Schrecklichen endgültig ratlos-verwirrt ist? Edward Diller schreibt: Der junge Mann lernt, der Wahrheit ohne Angst entgegenzublicken und entledigt sich so der Selbsttäuschungen, akzeptiert sein Schicksal. Der Vierundzwanzigjährige nennt die Wahrheit, der er zum ersten Mal mit weit geöffneten Augen entgegenblickt, Gott. Gott Hess uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu. Was ist mit der Vokabel Gott ausgesprochen? Und was heisst von da her: sein Schicksal akzeptieren? Nach Fritz Störi besagt der letzte Satz des Vierundzwanzigjährigen nicht mehr und nicht weniger als die Allgegenwart Gottes. Auch Ursel D. Boyd und Johannes Wirsching versuchten der Theologie des Vierundzwanzigjährigen mit dem Begriff der Allgegenwart Gottes beizukommen. Im Unterschied zu Störi waren sie aber bemüht, den paradoxen Charakter von Dürrenmatts Schlussatz festzuhalten. So hat Johannes Wirsching in seiner theologischen Analyse geschrieben: Gott wirkt unablässig durch alle Geschöpfe, er ist allgegenwärtig und allwirksam in Natur und Geschichte, und zwar als der dunkle, verborgene Gott, dem keine Anklage und keine Theodizee des Menschen gewachsen ist.... Ursel D. Boyd hat den letzten Satz mit den Worten kommentiert: Dieses Paradoxon könnte bedeuten, dass Gott überall ist, selbst ein Sturz in einen unendlichen Abgrund kann noch auf Gott zuführen. Gottes Allgegenwart wird selbst in der Furcht empfunden. Beide Interpretationsversuche des schlechthin paradoxen Satzes des Vierundzwanzigjährigen werden ihm u. E. insofern nicht gerecht, als sie ihn durch den allgemeinen Begriff der Allgegenwart Gottes schliesslich doch wieder seiner Paradoxie berauben. Dass die Wahrheit, mit der sich der Vierundzwanzigjährige im Tunnel konfrontiert sieht, nicht im Begriff der Allgegenwart Gottes zu fassen ist, dass sie aber auch nicht einfach sein Schicksal ist, das es zu akzeptieren gilt, darauf weist die Formulierung hin: ... so rasen wir denn wie die Rotte Korah in unseren Abgrund. Die Geschichte vom Untergang der Korahiten in 4. Mose 16 veranschaulicht weder die Allgegenwart Gottes, noch steht sie für das Schicksal der Menschen (im allgemeinen Sinn von: alle Menschen müssen sterben). Sie veranschaulicht das Strafgericht Gottes, dem die Hybris der Menschen verfällt. So sagt Moses: "Wenn diese sterben, wie alle Menschen sterben, und sie nur trifft, was alle Menschen trifft, so hat nicht der Herr mich gesandt; wenn aber der Herr etwas Unerhörtes schafft, wenn die Erde ihren Mund auftut und sie verschlingt mit allem, was sie haben, so dass sie lebendig hinunterfahren in die Unterwelt, dann sollt ihr erkennen, dass diese Männer den Herrn gelästert haben." (4. Mose 16,29f.) Die Wahrheit, mit der sich der Vierundzwanzigjährige im Tunnel konfrontiert sieht, ist von da her keine allgemeine Wahrheit. Es ist eine Wahrheit, die mit Begriffen wie Allgegenwart Gottes, Schicksal oder Notwendigkeit nicht zu fassen ist. Die Wahrheit, die im Tunnel einfällt, ist nicht der Nicht Gott, wie Karl Barth die Ananke genannt hat, sondern der zornige, der richtende Gott. Wenn der Vierundzwanzigjährige sagt Gott Hess uns fallen, dann spricht er demnach von dem Gott, der den Turmbau des Menschen zum Einstürzen bringt. Gott erscheint ihm dabei, wie Karl Barth im Römerbrief zum Fall Adams geschrieben hat, als Angreifer, der uns aus dem Paradies vertreibt, als Räuber, der uns unser Leben nimmt. Sicut homo peccando rapit, quod Dei est, ita Deus puniendo aufert, quod hominis est (Anselm). Die sündige, die gefallene Welt ist als solche die Welt des Todes, die von einer ungelösten letzten Frage umzäunte Welt, die Welt, in der auch der Ausgang nur in der Schranke, auch die Erkenntnis nur im Nicht-Wissen, auch die Hoffnung nur in der Verzweiflung zu finden ist. In Erwartung letzten Gerichtes, letzter Aufhebung das alles und doch, sofern in Erwartung, auch schon in furchtbarer Gegenwart. Von da her ist es ausgeschlossen, in der gespensterhaften Heiterkeit des Vierundzwanzigjährigen eine metaphysische Fähigkeit zu sehen, oder sie als Haltung eines Stoikers zu verstehen, der sich ergeben (oder selbstherrlich) ins Unvermeidliche schickt. So wenig sein Gott ein Gott der Notwendigkeit ist, so wenig kann er ein Fatalist sein. Johannes Wirsching bemerkt zutreffend: Was sich hier vollzieht, ist im Grunde überhaupt keine "Haltung", die vom Menschen her eingenommen und begründet werden könnte. Karl Barth schreibt dazu: "Das Gericht, unter dem wir stehen, ist ja Tatsache, ganz abgesehen von unsrer Stellung dazu. Es ist die für unser Leben bezeichnendste Tatsache. Ob sie in das Licht der kommenden Welt und der Errettung, die sie bringt, tritt, das hängt ab von unserer Beantwortung der Glaubensfrage." Inwiefern kann der Schluss von Dürrenmatts Erzählung als Beantwortung der ungelösten letzten Frage - der Glaubensfrage verstanden werden? Der Schluss des Tunnels erinnert zunächst an den Schluss der Traumvision in der Falle, wo es vom Fremden heisst: In ihm war eine Schwerkraft, die ihn hinab zur Tiefe zwang ... Er bedeckte seine Augen mit beiden Händen und stürzte hinab in die Tiefe, die ihre Arme öffnete ... tönend wie eine eherne Glocke von der Verzweiflung der Menschen, und wie er in ihrem Leib versank, verhallte sein Schrei: Gnade, wo ist Gnade, ohne Antwort an ihrem Antlitz (S. 97). Im Unterschied zum Fremden in der Falle sind die Augen des in den Tunnel hinabstürzenden Vierundzwanzigjährigen nun aber zum ersten Mal weit geöffnet. Peter Spycher kommentiert: . . . seiner Frage ist eine Antwort zuteil geworden; sein Sturz ist letztlich nicht ein Sturz auf den Abgrund der Hölle, sondern auf Gott zu. Ist damit die Glaubensfrage beantwortet? Für Fritz Störi geht vom Schluss von Dürrenmatts Erzählung überhaupt nichts Tröstliches aus. Die weit geöffneten Augen des Vierundzwanzigjährigen und seine letzten Worte erregen vielmehr Angst und Schrecken. Das aber ist Existentialismus, der das Wort "Gott" zu Unrecht im Munde führt. Das Wort erscheint als nicht mehr als ein Name für das Nichts. Warum verwendet Dürrenmatt einen Namen weiter, dessen Gehalt sich für ihn offenbar zu Schall und Rauch verflüchtigt hat? Wie unsere bisherige Arbeit gezeigt hat, ist Dürrenmatt, so wenig wie Kierkegaard, ein Existentialist. Es gilt vielmehr zu fragen, ob der Angst und Schrecken erregende Schluss von Dürrenmatts Erzählung nicht in die Nähe dessen gelangt, was Kierkegaard in seinem Buch Der Begriff Angst die Angst, die durch den Glauben erlöst, genannt hat? Der Vierundzwanzigjährige rast in den Abgrund, ohne sein Gesicht vom tödlichen Schauspiel abzuwenden. Im Horizont von Kierkegaards Der Begriff Angst besteht er damit das Abenteuer, das jeder Mensch zu bestehen hat, das Abenteuer, sich ängstigen (zu) lernen, damit man nicht verloren ist, entweder weil man sich niemals geängstigt hat, oder weil man in der Angst versunken ist; wer sich aber recht ängstigen lernte, der hat das Höchste gelernt. Kierkegaard versteht unter Angst nicht den seelischen Zustand eines Menschen; Angst ist auch keine negative Tugend, sondern das Verhältnis zu einem Zustand, der nicht ist. So besteht nach ihm die bildende Funktion der Angst nicht in ihr selbst. Er schreibt: Wer durch die Angst gebildet wurde, der wurde durch die Möglichkeit gebildet, und erst der, der durch die Möglichkeit gebildet wurde, wurde gebildet nach seiner Unendlichkeit. So ist nach Kierkegaard die Angst die Möglichkeit der Freiheit, indem sie alle Endlichkeiten verzehrt und alle ihre Täuschungen aufdeckt. Der Gott, der den Vierundzwanzigjährigen fallen lässt und auf den er zustürzt, erscheint von da her als Möglichkeit. Da, wo der Vierundzwanzigjährige am Ende seiner Endlichkeiten, seines Denkens und Tuns, angelangt ist, eröffnet sich ihm der Abgrund der Möglichkeit Gottes. Nach Kierkegaard gibt es zwei Wege, vor der Angst, in die die Möglichkeit den Menschen stürzt, zu fliehen. Der Mensch kann erstens die Möglichkeit betrügen, er kann die Angst beschwatzen, er kann nach dem Masstab fassen, den Krethi und Plethi dem Versinkenden als einen rettenden Strohhalm reichen. In Dürrenmatts Erzählung befindet sich der ganze überfüllte Zug auf diesem Weg; der Zugführer inbegriffen, der immer ohne Hoffnung gelebt hat. Der zweite Ausweg besteht nach Kierkegaard darin, dass der Mensch in der Angst versinkt und Selbstmord begeht. In Dürrenmatts Tunnel steht dafür der Lokomotivführer, der schon nach fünf Minuten abgesprungen ist und der Mann im Packwagen (S. 164f.). Kierkegaard schreibt dazu: Falls (einer), wenn er die Ausbildung begonnen hat, die Angst missversteht, so dass sie nicht zum Glauben führt, sondern vom Glauben weg, dann ist er verloren. Der Vierundzwanzigjährige unterscheidet sich am Schluss der Erzählung von den andern Passagieren des Zuges darin, dass er die Ausbildung abgeschlossen hat. Seine gespensterhafte Heiterkeit, seine zum ersten Mal weit geöffneten Augen zeigen, dass er das Höchste gelernt hat: sich recht zu ängstigen. Sein Bildungsweg steht damit in diametralem Gegensatz zu demjenigen in Piatons Höhlengleichnis. Er hat ihn nicht aus der Tiefe der Höhle in die Höhe der Erkenntnis, nicht aus dem Dunkel ins Licht, sondern aus dem Licht der Erkenntnis in die Dunkelheit der Möglichkeit Gottes geführt. Wenn er nun angesichts des Schrecklichen der alle Endlichkeiten in Frage stellenden Möglichkeit Gottes sagt: Gott liess uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu, dann ist das insofern kein tröstlicher Satz, als er Ausdruck der Angst ist, die allein durch den Glauben erlöst (Kierkegaard). Er ist Ausdruck des Kampfes, den Dürrenmatt in allen seinen frühen Prosastücken geführt hat, des Kampfes, der nur dann einen Sinn haben kann, wenn man ihn verlor. Kierkegaard hat diesen Kampf den Kampf des Glaubens genannt. Es ist der Kampf, der, wenn man so will, wahnsinnig um Möglichkeit kämpft. Denn Möglichkeit ist das allein Rettende . . . eine Möglichkeit, dann atmet der Verzweifelte wieder, er lebt wieder auf; denn ohne Möglichkeit kann ein Mensch gleichsam keine Luft bekommen. Gelegentlich kann da eine Findigkeit menschlicher Phantasie ausreichen, Möglichkeit zu schaffen, aber zuletzt, das heisst, wenn es gilt zu glauben, hilft nur dies, dass für Gott alles möglich ist.