Zum biblischen Gleichnis vom verlorenen Sohn Gottes Erbarmen mit den Verschuldeten Wir kommen zu einer zweiten Gruppe von Gleichnissen. Es sind diejenigen, die die eigentliche Frohbotschaft enthalten. Die Frohbotschaft im eigentlichen Sinn lautet ja nicht nur: die Heilszeit Gottes ist angebrochen, die neue Welt ist da, der Erlöser ist gekommen, sondern: das Heil ist gesandt - zu den Armen! Jesus ist kommen - ein Heiland der Sünder! Die hierher gehörenden Gleichnisse - es sind die bekanntesten und wichtigsten — haben ausnahmslos einen besonderen Zug, eine ganz besondere Note, die wir erfassen, wenn wir darauf achten, zu wem sie gesagt sind. Die Gleichnisse vom verlorenen Schaf und Groschen sind zu den murrenden Schriftgelehrten und Pharisäern gesagt (Lk 15,2), das Gleichnis von den beiden Schuldnern zu dem Pharisäer Simon (Lk 7,40), das Wort von den Kranken zu Kritikern Jesu aus der Zahl der Theologen pharisäischer Richtung (Mk 2, 16), das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner ebenfalls zu Pharisäern (Lk 18, 9), das Gleichnis von den beiden ungleichen Söhnen zu den Mitgliedern des Hohen Rates (Mt 21,23). Die Gleichnisse, die die Heilsbotschaft im engeren Sinne zum Gegenstand haben, sind -wahrscheinlich ohne Ausnahme - nicht zu den Armen, sondern zu den Gegnern gesagt. Das ist ihre besondere Note, ihr Sitz im Leben: sie sind nicht primär Darbietung des Evangeliums, sondern Verteidigung, Rechtfertigung, Waffe im Kampf gegen die Kritiker und Feinde der Frohbotschaft, die die Verkündigung Jesu empört, daß Gott es mit den Sündern zu tun haben will, und die besonders Anstoß nehmen an der Tischgemeinschaft Jesu mit den Verachteten. Zugleich aber wollen die Gleichnisse um die Gegner werben. Wie rechtfertigt Jesus das Evangelium gegenüber seinen Kritikern? Er tut es auf dreifache Weise. […] 3. Aber der entscheidende, alle anderen Erwägungen in den Schatten stellende dritte Gesichtspunkt, mit dem Jesus die Verkündigung der Frohbotschaft an die Verachteten und Preisgegebenen rechtfertigt, ist mit alledem noch nicht genannt. Er tritt am leuchtendsten hervor im Gleichnis vom verlorenen Sohn, das richtiger: das Gleichnis von der Liebe des Vaters ^4 heißen sollte (Lk 15,11 bis 32)^5. Das Gleichnis ist keine Allegorie, sondern eine Geschichte aus dem Leben, wie die (umschreibende) Nennung Gottes in V. 18. 21 zeigt: »Vater, ich sündigte gegen Gott und gegen Dich.« Der Vater ist also nicht Gott, sondern ein irdischer Vater; doch schimmert in einigen Wendungen durch, daß er in seiner Liebe Abbild Gottes ist^8. — V. 12: Der jüngere Sohn fordert den ihm »zukommenden feil«, d. h. auf Grund von 5. Mose 21, 17 (der Erstgeborene erhält doppelt so viel wie die übrigen Söhne) ein Drittel des Besitzes. Die Rechtslage war folgende. Es gab zwei Formen des Besitzübergangs vom Vater auf den Sohn: durch Testament und durch Schenkung bei Lebzeiten. Im letzteren Fall galt die Regel: das Kapital erwirbt der Beschenkte sofort, den Zinsgenuß erst nach dem Tode des Vaters. Das heißt: Der Sohn erhält im Falle der Schenkung bei Lebzeiten a) zwar das Besitzrecht (der Vater darf z. B. den betreffenden Acker nicht verkaufen), b) jedoch nicht das Verfügungsrecht (verkauft der Sohn, so kann der Käufer erst beim Tode des Vaters Besitz ergreifen) und c) nicht die Nutznießung (diese verbleibt dem Vater uneingeschränkt bis zu seinem Tode). Dieser Rechtslage entspricht es nun genau, wenn der ältere Bruder zwar als alleiniger Besitzer bezeichnet wird (V. 51), trotzdem aber der Vater die volle Nutznießung ausübt (V. 22 f. 29). Der jüngere Sohn dagegen fordert in V. 12 nicht nur das Besitzrecht (a), sondern auch das Verfügungsrecht (b); er will also abgefunden werden und sich eine selbständige Existenz gründen. — V. 13: Nachdem er alles zu Geld gemacht hat, wandert er aus. Die Größe der Diaspora, die man auf über vier Millionen schätzt gegenüber einer jüdischen Bevölkerung Palästinas von höchstens einer halben Million, läßt den Umfang der Auswanderung erkennen, die durch die verlockend günstigen Lebensbedingungen in den großen Handelsstädten der Levante ebenso wie durch die häufigen Hungersnöte in Palästina begünstigt wurde. Offenbar ist der jüngere Sohn unverheiratet; das ermöglicht einen Rückschluß auf sein Alter: das normale Heiratsalter des Mannes war achtzehn bis zwanzig Jahre. — V. 15: Er muß sich mit unreinen Tieren (3. Mose 11, 7) befassen, kann den Sabbath nicht heiligen, d. h. er ist aufs tiefste erniedrigt und praktisch gezwungen, seine Religion ständig zu verleugnen^7. — V. 16: Warum nimmt er sich nicht von dem Schweinefutter? Die Antwort ergibt sich aus der Übersetzung: »Und er hätte sich am liebsten den Bauch vollgeschlagen mit den Johannisbrotschoten, mit denen die Schweine gefüttert wurden (wenn er sich nicht zu sehr geekelt hätte), und niemand gab ihm (zu essen).« So muß er sich die Nahrung stehlen. — V. 17: »Er kehrte sich zu sich«, »er schlug in sich« (Luther) ist im Hebräischen und Aramäischen Ausdruck für »Buße tun«. — V. 18: »Und zum Vater gehen« = nach Hause; die Mutter zu erwähnen wäre für orientalisches Empfinden unschicklich. Sie ist selbstverständlich mitgemeint, auch in dem, was folgt. — V. 19: »Mache midi zu einem deiner Tagelöhner!«: Er hat ja nach der Abfindung keinerlei Anspruch mehr, nicht einmal auf Nahrung und Kleidung. Beides will er sich verdienen. — V. 20: »lief«: das ist für einen betagten Orientalen ganz ungewöhnlich und unter seiner Würde, selbst dann, wenn er es noch so eilig hat. »Küßte ihn«: der Kuß ist (wie 2. Sam 14, 33) Zeichen der Vergebung. — V. 21 gleicht bis auf die Schlußworte V. 18 f: der Vater läßt ihn nicht aussprechen und verwandelt die unausgesprochen gebliebenen Worte in ihr Gegenteil — nicht wie einen Tagelöhner, sondern wie einen Ehrengast behandelt er den Heimgekehrten. — V. 22 f: Drei Anordnungen, zu denen man 1. Mose 41,42 vergleiche: Joseph erhält bei der Einsetzung zum Groß-Wezir vom Pharao einen Fingerring, ein Kleid aus köstlicher Leinwand und eine goldene Kette. 1. Das Festgewand steht voran; es bedeutet im Orient eine hohe Auszeichnung. Man kennt keine Orden: wenn der König einen verdienten Würdenträger auszeichnen will, schenkt er ihm ein kostbares Gewand; das Anlegen des neuen Gewandes ist daher Sinnbild der Heilszeit. M. a. W.: er wird als Ehrengast ausgezeichnet. 2. Ring und Schuhe: der Ring ist, wie die Ausgrabungsfunde lehren, als Siegelring zu denken; seine Übergabe bedeutet Vollmachtübertragung (vgl. 1. Makk 6, 15). Schuhe sind Luxus; der freie Mann trägt sie: der Sohn soll nicht länger wie ein Sklave barfuß laufen. 3. Fleisch wird im allgemeinen nur selten gegessen. Für besondere Anlässe wird ein Mastkalb bereitgehalten. Seine Schlachtung bedeutet ein Freudenfest für Haus und Gesinde und die feierliche Aufnahme des heimkehrenden Sohnes in die Tischgemeinschaft. Die drei Anordnungen sind das öffentliche Sichtbarmachen der Vergebung und der Wiederherstellung der Kindesstellung. Alle sollen es zur Kenntnis nehmen. — V. 24: Zwei sehr realistische Bilder im synonymen Parallelismus, die beide die Wende schildern: sie ist Totenauferweckung und Heimbringen des verirrten Tieres der Herde. — V. 25: Auf das Festmahl folgt Musik (laut schallender Gesang mit Händeklatschen) und der Tanz der Männer. — V. 29: Der ältere Sohn läßt die Anrede fort, überhäuft den Vater mit Vorwürfen. — V. 30: Er verweigert dem Heimgekehrten den Brudernamen; »dieser« ist hier verächtlich wie Mt 20, 12; Lk 18, 11; Apg 17, 18. — V. 31: Die Anrede (anders V. 29!) ist besonders liebevoll: »mein Sohn« = »mein lieber Junge«. Das Gleichnis schildert in überwältigender Schlichtheit: So ist Gott, so gütig, so gnädig, so voll Erbarmen, so überfließend von Liebe. Er freut sich über die Heimkehr des Verlorenen wie der Vater, der das Freudenfest veranstaltet. Indes ist damit lediglich der Inhalt der ersten Hälfte (V. 11—24) umschrieben; das Gleichnis ist aber zweigipfelig: es schildert ja nicht nur die Heimkehr des jüngeren Sohnes, sondern auch den Protest des älteren Sohnes, und die Zweiteilung wird dadurch unterstrichen, daß jeder der beiden Teile fast refrainartig mit demselben Spruch schließt (V. 24. 32). Da der erste Teil in sich völlig geschlossen ist, erscheint der zweite auf den ersten Blick überflüssig. Aber nichts berechtigt dazu, den zweiten Teil für einen Zusatz zu halten. Er hält sich sprachlich und sachlich völlig im Rahmen der Erzählung, ohne zu allegorisieren oder die Aussage zu verschieben, ist durch 15, 11 vorbereitet und hat in der Gegenüberstellung von den zwei Söhnen Mt 21, 28-31 seine Entsprechung. Warum fügt Jesus ihn an? Es gibt nur eine Antwort: um der konkreten Situation willen! Das Gleichnis ist zu Menschen gesagt, die dem älteren Bruder gleichen, d. h. zu Menschen, die sich am Evangelium ärgern. Sie sollen im Gewissen getroffen werden. Ihnen sagt Jesus: So groß ist Gottes Liebe zu den verlorenen Kindern, und ihr seid freudlos, lieblos, undankbar und selbstgerecht. Seid doch auch barmherzig! Seid nicht so lieblos! Die geistlich Toten stehen auf, die Verirrten finden heim, freut euch doch mit! Das heißt: wie bei den anderen drei doppelgipfligen Gleichnissen liegt der Ton auf dem zweiten Gipfel^8. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist also primär nicht Verkündigung der Frohbotschaft an die Armen, sondern Rechtfertigung der Frohbotschaft gegenüber ihren Kritikern. Daß Gottes Liebe so grenzenlos ist, das ist die Rechtfertigung Jesus. Aber Jesus bleibt nicht bei der Apologie stehen. Das Gleichnis bricht abrupt ab, der Ausgang bleibt offen. Darin dürfte sich die Wirklichkeit, der Jesus gegenübersteht, spiegeln. Jesu Hörer sind in der Lage des älteren Sohnes, der sich entscheiden muß, ob er den bittenden Worten des Vaters Folge leisten und sich mitfreuen will. Noch bricht Jesus nicht den Stab über sie, noch hat er Hoffnung; er will ihnen helfen, daß sie den Anstoß am Evangelium überwinden, daß sie erkennen, wie ihre Selbstgerechtigkeit und Lieblosigkeit sie von Gott trennt, und daß sie zur großen Freude, die das Evangelium bringt (V. 32 a), hinfinden. Die Rechtfertigung der Frohbotschaft wird zum Vorwurf und zur Werbung um die Herzen ihrer Kritiker. Die Erkenntnis, daß Lk 15, 11-32 primär ein apologetisches Gleichnis ist, mit dem Jesus seine Tischgemeinschaft mit den Sündern gegenüber seinen Kritikern rechtfertigt (vgl. V. 1 f), hat eine schwerwiegende Konsequenz. Jesus rechtfertigt, wie wir sahen, sein anstößiges Verhalten damit, daß er im Gleichnis sagt: >Gottes Liebe zu dem heimfindenden Sünder ist ohne Grenzen. Ich handele so, wie es Gottes Wesen und Willen entspricht. Jesus beansprucht also, in seinem Handeln die Liebe Gottes zu dem bußfertigen Sünder zu aktualisieren. Damit erweist sich das Gleichnis, das keinerlei christologische Aussage enthält, als eine verhüllte Vollmachtsaussage: Jesus nimmt für sich in Anspruch, daß er an Gottes Stelle handelt, Gottes Stellvertreter ist. Aufs engste verwandt mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn ist das Gleichnispaar vom verlorenen Schaf (Lk 15,4-7; Mt 18,12 bis 14) und von der verlorenen Drachme (Lk 15,8-10). 3 Zum Text siehe Seite 50-55. 4 Der Vater, nicht der umkehrende Sohn, steht im Mittelpunkt. Auch sonst haben sich ungenaue, ja irrige Bezeichnungen für Gleichnisse Jesu eingebürgert: siehe S. 92 A. 12; 105 A. 7; 106 A. 8; 101 A. 2; 102. 5 Zu diesem Gleichnis vgl. J. Schniewind, Das Gleichnis vom verlorenen 4 Der Vater, nicht der umkehrende Sohn, steht im Mittelpunkt. Auch sonst haben sich ungenaue, ja irrige Bezeichnungen für Gleichnisse Jesu eingebürgert: siehe S. 92 A. 12; 105 A. 7; 106 A. 8; 101 A. 2; 102. 5 Zu diesem Gleichnis vgl. J. Schniewind, Das Gleichnis vom verlorenen Sohn, Göttingen 1940 (wieder abgedruckt in: J. Schniewind, Die Freude der Buße, Kleine Vandenhoeck-Reihe 32, Göttingen 1956, S. 34—87). 6 Vgl. in V. 18. 21 die feierliche Wendung »vor dir«, in V. 20 »es jammerte ihn« (wörtlich: »er erbarmte sich seiner«), in V. 29 »Gebot«. 7 »Verflucht sei der Mann, der Schweine züchtet«, heißt es im Talmud. 8 S. zu Mt 20, 1—15 S. 25 f; zu 22, 1—14 S. 45 f; zu Lk 16, 19—31 S. 125 Jeremias, Joachim. Die Gleichnisse Jesu. Kurzausgabe. München und Hamburg: Siebenstern Taschenbuch Verlag, 1969^3. S. 84, 86-90.