KAFKA: VON DEN GLEICHNISSEN^1 Von Beda Allemann Der äußere Aufbau des Prosastückes ist deutlich. Zuerst ein Bericht über eine von „vielen" vorgebrachte Klage wegen der Nicht-Anwendbarkeit von „Gleichnissen" - dann ein kurzer, aber konzentrierter Dialog über die Berechtigung dieser Klage. Welche Bewandtnis aber hat es in Wahrheit mit den „Gleichnissen", von denen Kafka in diesem Text aus den Jahren 1920/22 spricht? Wer sind die „Weisen", denen diese Gleichnisse zugeschrieben werden? Das scheinen mir die ersten und dringendsten Fragen zu sein, die sich dem Interpreten stellen. Es entspricht den Gesetzen von Kafkas Abbreviatur-Stil, daß gerade diese vorgängigen und grundlegenden Fragen als schon beantwortet vorausgesetzt werden. An dem Punkt, wo der Bericht des Erzählers einsetzt, dort, wo im ersten Satz von der Klage der Vielen die Rede ist, „daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben" - an dieser Stelle wird dem Leser zugemutet, bereits über die Personalität der Weisen und die Beschaffenheit ihrer Gleichnisse (genauer: der Nur-Gleichnisse), die sie anzubieten haben, im Bilde zu sein. An sich brauchte uns dieser Sachverhalt nicht zu alarmieren, entspricht er doch der bewährten Übung mancher Erzähler, den Leser medias in res zu führen, ohne lange Erörterung der allgemeinen Umstände und Voraussetzungen, in der nicht ungerechtfertigten Erwartung, daß der Leser sich in der speziellen Situation, in die er unvermittelt hineingeführt wurde, rasch zurechtfinden werde, so daß die Aufdeckung der weiteren Zusammenhänge, in die diese Situation gehört, getrost auf einen späteren Abschnitt der Erzählung verschoben werden kann. Die- ^1 Der folgende Text gibt mit geringen Änderungen den Wortlaut des Bonner Vortrags wieder. Die Anmerkungen wurden für den Druck hinzugefügt. 140 ses Verfahren ist legitim und wirkt sogar besonders lebensecht, weil wir uns als Menschen auch außerliterarisch auf genau dieselbe indirekte Weise in einem für uns neuen Milieu zurechtfinden. Die eigentümliche Schwierigkeit, vor die nun aber Kafka seine Leser stellt, ergibt sich daraus, daß die zweite Phase dieses Vorgangs, nämlich die allmähliche und nachträgliche Orientierung über die Hintergründe der Situation, in die wir gestellt wurden, ausbleibt. Ja man kann noch weitergehen zur Feststellung, daß der Erzähler Kafka dem Leser zwar unauffällig, aber systematisch den Boden, den dieser mit Hilfe des ersten Satzes wenigstens provisorisch zu ertasten meinte, wieder unter den Füßen wegzieht. Diese Enttäuschung der scheinbar natürlichen Lesererwartung, die sich in allen Erzählungen und den Romanen Kafkas nachweisen läßt^2, bringt jenen Effekt der Verfremdung, der labyrinthischen Ausweglosigkeit zustande, vor dem der räsonierende Verstand die Waffen strecken muß und der auch am Schluß des Stückes >Von den Gleichnissen< - hier sogar mit besonderer Deutlichkeit - sich einstellt. Wir werden durch den Text nicht, wie wir nach dem ersten Satz vielleicht glauben möchten, darüber aufgeklärt, wer die Weisen sind, was ihre Gleichnisreden besagen wollen, sondern der Bericht über die Klagen der Vielen geht unversehens in einen Dialog über, an dessen Ende ein Argument steht, auf das der Gesprächspartner offensichtlich keine Antwort mehr zu finden vermag. Noch im ersten Teil des Textes, im Bericht über die Klagen, wird zwar ein Beispiel für die Gleichnisrede der Weisen gegeben: „Wenn der Weise sagt: ,Gehe hinüber', so meint er nicht..." usw. Aber abgesehen davon, daß das ein negatives Beispiel ist, das lediglich die Unfaßbarkeit der Gleichnisrede demonstrieren soll, bietet es auch nur einen sehr dürftigen Anhalt dafür, wie die Gleichnisse, von denen doch nach Aussage des Titels in diesem Stück gehandelt wird, nun eigentlich objektiv beschaffen sind. Der lakonische Imperativ „Gehe hinüber" kann natürlich gleichnishaft aufgefaßt werden, ja er muß nach Meinung der Vielen so aufgefaßt werden, wenn er aus dem Munde eines Weisen kommt, denn ^2 Ihren Mechanismus habe ich am Beispiel des ersten Satzes des Prozeß-Romans genauer zu beschreiben versucht: Franz Kafka, Der Prozeß, in: Der deutsche Roman, hrsg. v. Benno v. Wiese, Düsseldorf 1963, Bd. 2, S. 234ff., bes. S. 236ff. Kafka: Von den Gleichnissen 141 Weise sprechen nun einmal in Gleichnissen. Aber rein formal ist der Aufforderungssatz keineswegs als Gleichnisrede gekennzeichnet. Wie ein Gleichnis seinem ganzen Umfang nach beschaffen ist, wird durch das Beispiel nicht verdeutlicht. „Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, und das haben wir gewußt." Was mit diesem Satz die Vielen resignierend feststellen, ist die einzige Auskunft, die auch der Leser über die Gleichnisse empfängt. Der dem Bericht folgende Dialog liefert die erwünschte Aufklärung nicht nach, sondern treibt die Ungewißheit auf die Spitze. „Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden . . ." Was sollen wir einem derart enigmatischen Satz an konkretem Aufschluß über die Natur der Gleichnisse entnehmen? Ich weise auf die Schwierigkeiten, die sich dem Verständnis entgegenstellen, nicht hin, um zur Kapitulation vor diesem Text aufzufordern. Ich möchte mich lediglich vor der Gefahr bewahren, mit falschen Voraussetzungen an den Text heranzutreten. Nachdem uns der Text als solcher weder über die Natur der Gleichnisse, von denen er spricht, noch über die Person der Weisen, denen diese Gleichnisse zugeschrieben werden, hinreichende Aufklärung gibt, ist der methodisch nächsthegende Schritt der eines Interpolationsversuches aus dem Gesamtwerk Kafkas. Aber auch bei diesem Versuch erfahren wir alsbald eine Enttäuschung. Weder der Begriff des Gleichnisses noch die Gestalt des Weisen ist in diesem Werk hinreichend ausgeprägt, um eine Interpretationshilfe zu gewähren. Zwar tritt in einem andern der kurzen Prosastücke Kafkas, in >Der Kreisels ein Philosoph auf, aber eine Verwandtschaft mit den Weisen des vorliegenden Textes ist nicht zu erkennen. Was die Gleichnisse betrifft, so wären wir vielleicht bereit, gewisse Texte Kafkas selbst als Gleichnisse anzusprechen, so etwa die berühmte Geschichte des Mannes vom Lande, die im Prozeßroman erzählt wird und die Kafka unter dem Titel >Vor dem Gesetz* in die Landarzt-Sammlung aufgenommen hat. In der Forschung hat sich zur Kennzeichnung dieses und ähnlicher Stücke der Begriff „Parabel" eingebürgert. Kafka selbst hat >Vor dem Gesetz< gelegentlich als eine Legende bezeichnet. Von da bis zum Gleichnis scheint kein weiter Weg mehr zu sein. Aber ist es ein gangbarer und zuverlässiger Weg? Wenn wir die Gleichnisse in >Von den Gleichnissen« als Chiffre für Kafkas eigenes Werk oder Teile davon verstehen, implizieren wir, daß Kafka mit den Weisen im Grunde sich 142 143 selber meint. Das ist bereits eine sehr gewagte, ja bei näherem Zusehen wohl unhaltbare Annahme. Wo in seinem ganzen Werk hätte sich Kafka die Haltung eines Lehrers der Weisheit angemaßt? Und wo hätte er dem Leser Aufforderungssätze vom Typus „Gehe hinüber" zugerufen? Ich will damit die Möglichkeit keineswegs radikal ausschließen, daß eine geheime Verwandtschaft zwischen den Gleichnissen unseres Textes und dem Charakter von Kafkas eigenem Werk besteht: ich will nur die voreilige Vermutung abwehren, daß diese Verwandtschaft sich in Form einer simplen Gleichsetzung aussprechen läßt - als ob hier ein thematisches Rezept zum Verständnis Kafkascher Parabeln vorläge. Wir müssen zur Abklärung der Natur der Gleichnisse offenbar weiter ausholen und uns dafür am allgemeinen Sprachgebrauch orientieren, obwohl wir wissen, daß der allgemeine Sprachgebrauch im Werke Kafkas oft genug ein Instrument der Irreführung und der Verfremdung ist; daß bei Kafka eine Verhaftung gerade keine Verhaftung, ein Gericht gerade kein Gericht in der geläufigen Bedeutung des Wortes ist. Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, daß auch ein Gleichnis gerade kein Gleichnis ist. Dennoch ist es sinnvoll, den allgemeinen Sprachgebrauch mindestens als Ausgangspunkt gelten zu lassen und das anhand eines beliebigen Konversationslexikons nachprüfbare Faktum zu berücksichtigen, daß der Begriff Gleichnis für uns seinen Schwerpunkt im Begriff des biblischen Gleichnisses hat. Im weiteren Sinn dann ist ein Gleichnis jede „Redewendung oder Erzählung, die den tieferen Bedeutungsgehalt eines Gedankens durch seine Vergleichung mit etwas Anschaulichem herauszuheben sucht" (Brockhaus). Wenn wir diese Definition nun aber der Klage der Vielen über die Gleichnisrede der Weisen gegenüberstellen, so springt sogleich ins Auge, daß die Vielen sich nicht etwa an der Anschaulichkeit der Gleichnisse stoßen, sondern eher im Gegenteil: an ihrer Unanwendbarkeit auf die Erfordernisse des täglichen Lebens. Der Formulierung nach mag das „Gehe hinüber" der Weisen geradezu an das evangelische „Gehe hin und tue desgleichen" (Lukas 10, 37) erinnern, im Sinn der Vielen ist aber gerade das der Mangel der Gleichnisse, daß sie keinen wirklich begehbaren Weg anweisen, auf dem man ihnen folgen könnte, wie der Christ dem Beispiel des barmherzigen Samariters folgt. Wir haben es nicht mehr mit Gleichnissen im naiven Sinne zu tun, sondern mit einer in sich selbst problematisch gewordenen Form des Gleichnisses, kurz gesagt - wir gebrauchten den Ausdruck schon - mit dem Nur-Gleichnis. Dieses Nur-Gleichnts steht in einer eigentümlichen Spannung zwischen dem Gleichnis in seinem ursprünglichen, anschaulichen und naiven Sinn und der vollständigen Perversion dieses Sinnes in sein Gegenteil, die pure Unfaßlichkeit. An diesem Punkt der Überlegung scheint mir der (beim reifen Kafka eher seltene) Fall einzutreten, daß eine bestimmte historische Parallele mindestens einen halben Schritt weiterhelfen kann. Wir kennen den literarischen Typ des Gleichnisses mit Widerhaken, die seine Anwendung verunmöglichen, aus Nietzsches >Zarathustra<. Schon der Titel Kafkas (>Von den Gleichnissen«) erinnert auffallend an die Kapitelüberschriften im >Zarathustra<. Nun gibt es dort allerdings kein Kapitel, das gerade diese Überschrift „Von den Gleichnissen" trüge, wohl aber spricht Nietzsche im Kapitel >Von den Dichtern« ausdrücklich auch von den Gleichnissen. Er läßt Zarathustra die parodistische Umkehrung des Faust-Schlusses wiederholen: „alles das ,Unvergängliche' - das ist auch nur ein Gleichnis." Von diesem Ausspruch Zarathustras läßt sich das Phänomen des Nur-Gleichnisses in seiner konzentriertesten Form ableiten. Die parodistische Umdrehung des Goethe-Zitats faßt punktuell den Sinn jener Perversion des Gleichnisses zusammen, von der eben die Rede war. Was für die abendländische Tradition bis hin zu Goethe „nur ein Gleichnis" war, das Vergängliche, tritt in ein ganzes neues Licht; dagegen entzieht sich nun das Unvergängliche ins Nur-Gleichnis, es wird „Dichter-Gleichnis, Dichter-Erschleichnis", wobei zu bemerken ist, daß Nietzsche keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Dichter und dem Weisen kennt („auch Zarathustra ist ein Dichter"). Vor dasselbe Problem sieht sich Kafka gestellt. Er begegnet ihm in anderer Weise als Nietzsche. Für Zarathustra war die Umdrehung ein im wesentlichen lustvoll-entlarvender Erkenntnisvorgang, gemäß der allgemeinen Anweisung Nietzsches, daß man Wahrheiten wie Schildkröten auf den Rücken drehen muß, um ihrer habhaft zu werden. Das Leben erfährt eine ungeahnte Aufwertung durch die Abwertung der Hinterwelten. Auch für die Vielen bei Kafka ist das Leben das einzige, was sie sicher „haben". Aber der Begriff dieses Lebens ist keineswegs mehr dionysisch eingefärbt; es ist vielmehr das „tägliche Leben", das für die Vielen Kafkas zum Existenzgrund geworden ist, und aus dem Nach- 144 satz „ . . . nur dieses allein haben wir" weht uns Trotz und Resignation entgegen. Die berauschende Dynamik, die der Umwertungsvorgang für Nietzsche besaß, ist hier völlig erloschen, die Fronten sind auf eine banale Weise erstarrt. Dem lustlosen Nur-Besitz des Lebens mit seiner täglichen Mühsal steht das unbrauchbare Nur-Gleichnis der Weisen gegenüber, dessen Wesen die Unfaßbarkeit ist. Eine Vermittlung scheint ausgeschlossen. Nietzsche hätte für die resignierte Klage der Vielen zweifellos nur Verachtung übrig gehabt. Die Vielen sind ihm, der für Alle und Keinen schreibt, von vornherein die Allzuvielen, der Pöbel. Kafka dagegen verrät uns nicht, was er von den Vielen denkt, die sich beklagen. Sie erscheinen bei ihm artikellos, ins Schemenhafte neutralisiert, schlicht als „Viele". Aber er würdigt sie immerhin einer Antwort. Diese Antwort ist in dem Dialog enthalten, der den zweiten Teil des Stückes >Von den Gleichnissen< bildet. Es ist formal nicht unwichtig, daß Kafka hier aus dem Präsens des Berichtes über die Klage der Vielen ins Imperfekt übergeht: „Darauf sagte einer:" Von diesem Tempuswechsel her betrachtet, erscheint der Bericht nur als eine (allerdings in sich selbst problematische) Präambel, die der Erzählung des Gespräches vorangestellt ist, um dieses Gespräch verständlich zu machen. Zugleich wird hier die Gestalt des Einen eingeführt, der sich bei einer bestimmten Gelegenheit den Vielen und ihrer Argumentation[s]gegen-überstellte. Dieser Eine scheint für die Weisen Partei genommen zu haben; ja, man könnte vermuten, daß er selbst einer der Weisen ist. Er scheint nicht nur die Gleichnisrede der Weisen verteidigen zu wollen, sondern er spricht selbst, wie sich dann gleich herausstellt, in einem Gleichnis. Damit beginnen sich die Verhältnisse nun entscheidend zu komplizieren. Wir halten fest: es wird eine Antwort auf die Klage über die Unanwendbarkeit der Gleichnisse im täglichen Leben gegeben, aber diese Antwort hat ihrerseits gleichnishaften Charakter. Soweit mindestens sind sich die beiden Gesprächspartner, der eine, der aus dem Horizont der Weisen spricht, und der „andere", der die Vielen zu vertreten scheint, einig. Es ergibt sich daraus, daß das Argument des Einen: „Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei" — daß dieses Argument tatsächlich nichts anderes ist als eine ausführlichere Variante der Gleichnisrede, die schon im ersten Teil als Kafka: Von den Gleichnissen 145 Beispiel angeführt wurde: „Gehe hinüber". Dieses „Gehe hinüber" ist nun präzisiert zu der Aufforderung, den Gleichnissen zu folgen. In der Klage der Vielen wurde das Ziel des Hinübergehens als „irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen" charakterisiert. Aus dem Dialog des Einen mit dem Andern ergibt sich: dieses sagenhafte Drüben - sagenhaft nun im buchstäblichen Sinn - ist das Gleichnis selbst. Das ist ein formal-logisch einwandfreier Gedankengang, man ist versucht, ihn als dialektisch zu bezeichnen. In den Augen des Andern, der für die Vielen spricht, liegt freilich nur ein gedanklicher circulus vitiosus vor. Wir selbst haben ja festgehalten, daß den Gleichnissen gerade nicht in einem naiv-unmittelbaren Sinn „gefolgt" werden kann. Die Schwierigkeit ist also durch die Argumentation des Einen nicht gelöst, sie ist vielmehr in die zweite Potenz erhoben. Deshalb der Einwurf des Andern: „Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist." Das heißt, auch mit dieser potenzierten Form der Aufforderung, hinüberzugehen, können wir im täglichen Leben nichts anfangen. Damit scheint die absolute Sinnlosigkeit des Umgangs mit Gleichnissen endgültig erwiesen zu sein. Der Appell der Gleichnisse zum Hinübergehen ist ad absurdum geführt. An diesem Punkt nimmt das Gespräch eine für die Verfahrensweise des Erzählers Kafka sehr charakteristische Wendung. Der Andere hatte die kolloquiale Wendung gebraucht: „Ich wette, daß . . ." Er wollte damit lediglich seine Überzeugung bekräftigen. Sein Partner nimmt die Wendung wörtlich und sagt: „Du hast gewonnen." Damit stehen wir unversehens in einer der bei Kafka typischen Kampfsituationen, in denen es scheinbar um die einfache Frage geht: wer gewinnt, wer verliert? - die in Wahrheit aber höchst ambivalent sind, so daß wir die Hoffnung auf eine schlichte und definitive Entscheidung besser von vornherein fahrenlassen. Zunächst scheint es noch, als sei der Ausgang der imaginären Wette sicher, gibt doch der erste Partner selber zu: „Du hast gewonnen." Der zweite antwortet darauf mit der Großmut des Siegers: „Aber leider nur im Gleichnis." Und nun erst erfolgt der das Gespräch beendende Gegenschlag des ersten: „Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren." Wieder sind wir versucht, von einer spezifisch Kafkaschen Dialektik zu sprechen. Ich möchte diesen Ausdruck lieber vermeiden und Kafkas eignem Sprachgebrauch folgend hier vorsichtigerweise bloß von einer 146 Antithetik sprechen. Der Begriff der Dialektik ist seit den Tagen des deutschen Idealismus mit der Vorstellung von einem Dreischritt nach dem Schema Thesis - Antithesis - Synthesis verknüpft. Von einem solchen idealistischen Dreischritt, wie er auch noch das marxistische Denken prägt, vermag ich bei Kafka nichts zu erkennen. Es sei eine Tagebuchnotiz Kafkas angeführt, die in diesem Zusammenhang aufschlußreich ist. Sie stammt vom 20. November 1911 und lautet in etwas gekürzter Form: „Sicher ist mein Widerwille gegen Antithesen ... Sie erzeugen zwar Gründlichkeit, Fülle, Lückenlosigkeit, aber nur so wie eine Figur im Lebensrad; unsern kleinen Einfall haben wir im Kreis herumgejagt. . . Sie rollen sich ein, sind nicht auszudehnen, geben einen Anhaltspunkt, sind Löcher im Holz, sind stehender Sturmlauf, ziehn . . . Antithesen auf sich herab. Möchten sie nur alle auf sich herabziehn und für immer." Diese relativ frühe Äußerung Kafkas über die Antithesen ist auf einen negativen Ton gestimmt, und man könnte in ihr geradezu eine Begründung dafür finden, daß es im Werk Kafkas tatsächlich nur selten klar und eindeutig formulierte Antithesen, entschiedene Entweder-Oder-Situationen gibt. Wo aber einmal, wie in unserem Text, mit Antithesen operiert wird, gehorchen sie durchaus dem in der Tagebüchern/. formulierten Gesetz und enthüllen damit ihren positiven, nämlich strukturierenden Sinn, der ja auch in der Notiz selbst, trotz der im ersten Satz betonten Abneigung, durchaus eingeräumt wird. Antithesen sind ein Mittel, den Gedanken im Kreis herumzujagen. Sie erzeugen stehenden Sturmlauf und damit „Gründlichkeit, Fülle, Lückenlosigkeit": positivere Stilideale gibt es für Kafka gar nicht. Gerade in den Jahren, bevor Kafka dann mit dem >Urteil< (Herbst 1912) seinen völlig eigenen Stil findet, in den Jahren des noch unsicheren Suchens und Ringens, taucht die Forderung nach Lückenlosigkeit der Darstellung wiederholt im Tagebuch auf und bezeichnet das eigentliche künstlerische Ideal Kafkas. Echte Antithesen vermögen die angestrebte Lückenlosigkeit und Gründlichkeit zu gewährleisten gemäß dem Grundsatz „tertium non datur". Sie zwingen das Denken in einen geschlossenen circulus, zugleich erregen sie aber die unbändigste Hoffnung, es ist die im Schlußsatz der Notiz ausgesprochene Hoffnung: „Möchten sie nur alle (d. h. alle übrigen denkbaren Antithesen) auf sich herabziehn und für immer." Kafka: Von den Gleichnissen 147 Es ist hier nicht der Ort, das ausführlicher zu begründen, aber es scheint mir im stehenden Sturmlauf der Antithesen tatsächlich eine Art Grundmodell für die Denk- und Darstellungsweise Kafkas vorzuliegen, das seine Gültigkeit weit über die logisch ausformulierte Antithese hinaus behauptet, wie sie in unserem Dialog zum Vorschein kommt. Wir müssen uns hier darauf beschränken, diese konkrete Antithese in >Von den Gleichnissen« abschließend noch genauer zu umreißen. Das wird es uns ermöglichen, zugleich die Tragweite dieses Stückes im Hinblick auf das Werk Kafkas im ganzen abzuschätzen. Die Antithese in >Von den Gleichnissen« läßt sich auf die Gegensatzbegriffe Wirklichkeit-Gleichnis reduzieren. Die Wirklichkeit ist die der banalen täglichen Mühsal. Als solche vermag sie selber nie zum Range eines Gleichnisses aufzusteigen, das auf ein „Drüben" verweisen würde. Die vergängliche Wirklichkeit der täglichen Mühsal bildet kein Gleichnis für das Unvergängliche, sondern eine in sich verschlossene Welt ohne Transzendenz. Sie läßt sich nicht ins Gleichnis verwandeln; das Gleichnis steht ihr vielmehr immer schon als absoluter Gegensatz in absoluter Unzugänglichkeit gegenüber. Durch den Verlauf des Dialogs wird die Radikalität der Trennung zwischen Wirklichkeit und Gleichnis nur noch einmal und endgültig hervorgehoben. Auf dem Boden der Wirklichkeit, von dem aus der Sprecher der Vielen argumentiert, erscheint das Gleichnis zwangsläufig, weil es unzugänglich ist, als Nur-Gleichnis, als etwas im täglichen Leben Unbrauchbares. Der Satz „Aber leider nur im Gleichnis" soll besagen, daß der vermeintliche Sieg im Wortgefecht den Vielen nicht weiterhilft, weil durch ihn nur noch einmal bestätigt ist, daß es eine Erlösung von der täglichen Mühe nur im Gleichnis, nicht in Wirklichkeit gibt. Genau dasselbe besagt aber der abschließende Satz, der scheinbar, formal-logisch gesehen, die reine Gegenbehauptung aufstellt: „Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren." Dieser Satz ist aus der entgegengesetzten Richtung gesprochen, er hat deshalb die Form der Gegenbehauptung, aber er besagt dasselbe, insofern er den Sprecher der Vielen endgültig dahin zurückwirft, wovon er ausgegangen und im Grunde nie losgekommen ist: auf den Boden der Wirklichkeit. Auf diesem Boden und innerhalb seiner eigenen Argumentation hat er gewonnen, der Preis, den er dafür bezahlt, ist sein Verlust „im Gleichnis": er ist gar nicht bis in den Bereich der Gleichnisse vorgedrungen, er hat sie lediglich vom Boden der Wirklich- 148 keit aus als Nur-Gleichnisse beurteilt und folgerichtig im Lauf des Gesprächs ihre Unzugänglichkeit für ihn nochmals erfahren müssen. Dieser Rückwurf auf die eigenen Voraussetzungen ist ein im Werk Kafkas typischer Vorgang. Wenn man ihn im vorliegenden Fall nur als Rückschlag auf den Versuch versteht, von der Ebene der Wirklichkeit her einen Bezug zu den Gleichnissen zu finden - und dieser Versuch liegt der Klage der Vielen natürlich zugrunde -, so ist der Ausgang rein negativ. Die Klage ist berechtigt; es gibt vom Boden der alltäglichen Wirklichkeit aus keinen Zugang zu den Gleichnissen. Der Imperativ „Gehe hinüber" setzte voraus, daß man schon beim ersten Schritt jenen Boden verläßt, und gerade das ist den Vielen offenbar unmöglich, wie die Argumentationsweise ihres Sprechers zeigt, der im Gleichnis immer wieder das Nur-Gleichnis sieht. Durch diesen negativen Ausgang der Erörterung wird das Verhalten der Vielen nicht als kurzsichtig kritisiert. „In Wirklichkeit" haben sie ja durchaus gewonnen, im Horizont nämlich der durch die tägliche Mühsal bestimmten Wirklichkeit. In ihrem Verhalten spiegelt sich die «condition humaine», der keiner entrinnt. Die bekannte aphoristische Bemerkung Kafkas „Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg" läßt sich unmittelbar auf die Situation der Vielen in unserem Text anwenden. Auch sie erkennen vage ein Ziel, das in den Gleichnisreden der Weisen vorgezeichnet zu sein scheint, und sie können den Weg nicht finden,, weil es ihn innerhalb der Voraussetzungen von Kafkas Werkwelt nicht gibt, wenn er auch ständig vorgespiegelt wird. Wie steht es aber, wenn wir die Dinge so betrachten, mit der Aufforderung „Gehe hinüber“? Liegt in ihr dann nicht eine schlechthin diabolische Ironie? Ich glaube, wir müssen dieser Konsequenz ruhig ins Auge schauen. In der Kafka-Literatur ist unser Text gelegentlich im Sinn einer echten Verheißung interpretiert und in Richtung auf eine „rettende Funktion der Gleichniswelt Kafkas" (Emrich) verallgemeinert worden. Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß der Gedanke einer Erlösung von der täglichen Mühe in dem Text deutlich genug ausgesprochen ist, und diese Erlösung soll durch die Gleichnisse erfolgen. Damit scheinen mir aber diese Gleichnisse nur in dieselbe Dimension zu rücken wie alle großen Ziele im Werke Kafkas: seien das im einzelnen dann der Freispruch durch das Hohe Gericht (>Prozeß<), die Aufnahme in die Dorfgemeinschaft (>Schloß<) oder der Zugang zum Gesetz (in der Geschichte Kafka: Von den Gleichnissen 149 vom Mann vom Lande und dem Türhüter) - in die Dimension nämlich des tatsächlich völlig Unerreichbaren.^3 Kunstwerke sind, nach Kafkas eigener Definition, Expeditionen nach der Wahrheit — aber, so müssen wir hinzufügen, Expeditionen, deren Ziel wesentlich und von vornherein unerreichbar ist. Die Moral einer Kafkaschen Dichtung kann deshalb, wir deuteten es bereits an, in letzter Instanz nie lauten: „Gehe hinüber!", sondern eher schon, mit den Worten des sich vor Lachen krümmenden Polizisten in der gleichnamigen Kurzerzählung: „Gibs auf!" Solches Aufgeben will freilich recht verstanden sein; es ist keine schlechte Resignation damit gemeint, sondern eine tiefere Einsicht in die antithetische Situation des Daseins, das in stehendem Sturmlauf im Angesicht eines Zieles verharrt, zu dem kein Weg hinführt. Ein solches Ziel sind im speziellen Fall die Gleichnisse, denen die Vielen nicht zu folgen vermögen. Damit bestätigt sich die Vermutung vom Beginn, daß es unvorsichtig wäre, diese Gleichnisse als eine Chiffre für Kafkas eignes Werk zu nehmen. Ihr Stellenwert ist ein andrer. >Von den Gleichnissen« gibt keine Auskunft darüber, wie Kafkas Dichtung aufzunehmen und zu verstehen ist; wenigstens nicht in dem vordergründig-inhaltlichen Sinn einer unmittelbaren Anweisung. Die Worte der Weisen tragen, weil sie gleichnishaft sind, utopischen Charakter. Die Gleichnisse der Weisen können deshalb nicht wiederum als Gleichnisse für Kafkas Dichtungen aufgefaßt werden - sie bezeichnen nur den einen, den utopischen Pol von Kafkas Werkwelt.^4 Damit ist nicht geleugnet, sondern vielmehr bestätigt, daß in einem umfassenderen Sinn das Stück >Von den Gleichnissen< - wenn man es nämlich in der vollen, ihm immanenten Antithetik nimmt - ein reines Paradigma der Kafkaschen Dichtung darstellt. Es vergegenwärtigt mit ^3 Aus solchen Zusammenhängen gesehen, rückt der „Eine" als Wortführer der Weisen in unmittelbare Nachbarschaft zur Gruppe der „Heller" im Prozeß-Roman (Advokat, Titorelli etc.): auch sie geben sich als Eingeweihte und scheinen zu wissen, wie der absolute Freispruch zu erlangen wäre, aber bei näherem Zusehen beweisen ihre Ratschläge nur die Unerreichbarkeit des Ziels. ^4 Ich bin mir der Mißverständlichkeit der Bezeichnung „utopisch" bewußt - sie ist ebenso unzulänglich wie jede andere inhaltliche Bestimmung, die an dieser Stelle eingesetzt werden könnte. Wenn man den Begriff der Utopie wörtlich nimmt, scheint er mir immerhin das zu treffen, worauf es ankommt: die wesentliche Unfaßbarkeit des Zieles, auf das die Hoffnung gerichtet ist. 150 seiner speziellen Antithese von Wirklichkeit und Gleichnis modellhaft den stehenden Sturmlauf vor dem unerreichbaren Ziel, als dessen Beschreibung das Gesamtwerk Kafkas verstanden werden darf- Beschreibung eines Kampfes zwischen Antithesen, die im Falle des künstlerischen Gelingens (der beim reifen Kafka die Regel ist) alle Antithesen auf sich herabziehen und für immer. Nachbemerkung 1985 Der vorstehende Text wird unverändert nach dem Erstdruck von 1964 wiedergegeben, entspricht also dem Stand vom Herbst 1963 und dem damals auf der Tagung der deutschen Hochschulgermanisten in Bonn gehaltenen Vortrag. Die Datierung des Kafkaschen Prosastückes auf 1920/22 am Beginn des Textes folgt jener der Sonderausgabe von 1961: Franz Kafka, Die Erzählungen, Frankfurt, S. Fischer-Verlag, die zum ersten Mal den Versuch einer chronologischen Ordnung auch der nachgelassenen Erzählungen Kafkas unternahm (vgl. das von Klaus Wagenbach gezeichnete Nachwort zu dieser Ausgabe). Sie wurde später durch Wagenbach zusammen mit Malcolm Pasley berichtigt aus „1922/23" (Pasley/Wagenbach, Datierung sämtlicher Texte Franz Kafkas, in: Kafka-Symposion, Berlin 1965, S. 55-83, hier S. 74), Diese seither von Editoren (so Paul Raabe in den Anmerkungen zu der Ausgabe: Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, Frankfurt 1970, S. 406) und der Forschung akzeptierte Datierung stützt sich allerdings ihrerseits auf nur vage Indizien („Keine Anhaltspunkte für die Datierung. Späte Schrift; wahrscheinlich 1922/23", Pasley/Wagenbach, S. 74). Von größerer Tragweite ist die Tatsache, daß ich 1963 noch angenommen hatte, der Titel des Stückes >Von den Gleichnissen< stamme von Kafka selbst, da der von Max Brod besorgte Band Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß« innerhalb der Gesammelten Werke in den bis dahin vorliegenden Auflagen diesen Titel nicht als Zutat des Herausgebers kennzeichnete. An meiner Argumentation ändert sich dadurch nichts Wesentliches. Aber es muß festgehalten werden, daß der von mir vermerkte Anklang an die Titelgebung in Nietzsches >Zarathustra^ eben auf Max Brod und nicht auf Kafka selbst zurückzuführen ist. Helmut Arntzen, Literatur im Zeitalter der Information. Aufsätze, Essays, Glossen. (Athenäum Paperbacks Germanistik 5.) Frankfurt am Main: Athenäum Verlag 1971, S. 86-92. Geringfügig veränderte Fassung der Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 83 (1964), Sonderh., S. 106-112. FRANZ KAFKA: VON DEN GLEICHNISSEN Von Helmut Arntzen Viele beklagen sich, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: „Gehe hinüber", so meint er nicht, daß man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, und das haben wir gewußt. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge. Darauf sagte einer: „Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei." Hin anderer sagte: „Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist." Der erste sagte: „Du hast gewonnen." Der zweite sagte: „Aber leider nur im Gleichnis." Der erste sagte: „Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren." ' Eine Stelle aus Matthäus 13 lautet in Luthers Übersetzung: „Und die Jünger traten zu ihm und sprachen: Warum redest du zu ihnen in Gleichnissen? Er antwortete und sprach: Euch ist's gegeben, daß ihr die Geheimnisse des Himmelreichs verstehet; diesen aber ist's nicht gegeben. Denn wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat. Darum rede ich zu ihnen in Gleichnissen. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht; und sie verstehen es auch nicht." (V. 10-13) Diese Stelle steht zwischen dem Gleichnis vom Sämann und dessen Deutung für die Jünger. Jesus rekurriert dann auf eine Prophetie des ^1 Kafka, Franz: Von den Gleichnissen. In: F. K., Beschreibung eines Kampfes. Frankfurt a. M. ^31954. S. 96. (Ges. Werke. Ed. M. Brod.) 152 Jesajas und wiederholt noch einmal das, was er von den Gleichnissen gesagt hatte. Wenn ich Deutung für die Jünger sage, so entspricht das allerdings nicht deren einleitendem Satz. Der heißt nämlich: „So höret nun ihr dieses Gleichnis von dem Säemann." (V. 18) Und darauf folgt das, was dem Leser als Ausdeutung erscheint. Die Betonung des Hermetischen der Gleichnisse findet sich in allen vier Evangelien. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, daß alle Rede Jesu „zu dem Volk" in Gleichnissen geschah. Schließlich folgt dem Gleichnis immer wieder die Deutung allein für die Jünger. Aber diese Deutung erscheint eben nicht als Übersetzung eines Rätseltextes, wenigstens nicht an allen Stellen, sondern als die Fassung des Gleichnisses für jene, die Ohren haben zu hören, eine Formel, die häufig den Abschluß der Gleichnisse bildet. Die aber, die nicht hören, sind von der Drohung mitbetrolfen, die manchmal am Schluß der Gleichnisse steht: man werde „sie in den Feuerofen werfen; da wird sein Heulen und Zähneklappen" (so z. B. Matth. 13, 42). Diese furchtbarste Drohung, nämlich die einer totalen und nicht endenden Barbarei, wird über die ausgesprochen, zu denen in Gleichnissen geredet wird, damit, auf daß sie nicht sehen und nicht hören. Aber weil sie nicht sehen und nicht hören, sind sie gerade verdammt. Solche Härte kann nur dort keine Unruhe erregen, wo das in Gleichnissen Gesprochene als die Unfaßbarkeit des Unfaßbaren gilt.^2 ,, ^2 (Anmerkung zur Buchausgabe des Aufsatzes:) In der Einleitung zu seiner Sammlung >Fabeln, Parabeln und Gleichnisse (München 1970) unterscheidet Reinhard Dithmar Allegorie von Parabel und Gleichnis danach, daß jene enträtselt werden müsse und sich nur an einen Kreis Eingeweihter wende, diese dagegen nichts verrätseln, sondern erhellen wollen und sich an den wenden, „der nicht verstehen kann oder will" (S. 12). Nun wird ja auch bei Matthäus von den Hörern „des Volks" als denen gesprochen, die nichts verstehen wollen und zu denen darum gerade in Gleichnissen geredet wird. Aber wenn D. auch damit, was wahrscheinlich ist, meinen sollte, daß die Gleichnisrede das Verständnis erleichtern könne, und sich auf Adolf Jülicher in der Auffassung beruft, daß die Gleichnisse Jesu ihrer Intention nach „,den Hörer zu gewinnen'" suchen (S. 12), so würde ich jenseits des in der Konfrontation von Gleichnisrede und allegorisierender Deutung durch die Evangelisten wohl angespielten Problems des Verhältnisses von „Worten Jesu" zur „Gemeindetheologie" meinen, daß das in einer Deutung nicht zu fixierende Gleichnis kei- Franz Kafka: Von den Gleichnissen 153 Bei Nietzsche-Zarathustra begegnet man den Formeln, die derartige Beunruhigung zunächst sistieren. Die von ihr selbst geförderte Abdikation der Theologie fixiert das Diktum, Gott sei tot; jener Dichtung aber, die ihren Schleier, den schönen Schein aus der Hand der Wahrheit einzig empfing, wird entgegengehalten, sie lüge zuviel. Freilich nicht, um den Dichter als „vindaere wilder maere"^3 zu qualifizieren und ihn wieder dahin zu bringen, daß er wäre „gerne bereit / ze sprechenne die wär-heit"^4, sondern vielmehr um ihn endlich und endgültig die Beziehung zwischen Bild und Wahrheit, die im Gleichnis sich objektiviert, abbrechen zu lassen und ihn - den absoluten Künstler- zur nunmehr einzigen Rechtfertigung der Welt, der ästhetischen, anzuhalten. Seitdem nicht erst, aber in Nietzsche markant wird das Postulat von der eigenen Wirklichkeit der Kunst erhoben, zergeht ihr Gleichnischarakter in der Abstraktion ihrer Produkte selbst oder in einer Deutungskabbalistik, die alles und nichts bedeutet. Diese polemische Anmerkung gehört fast schon in einen Rückblick. Denn längst mußte zur Kenntnis genommen werden, daß die sogenannte moderne Dichtung in vielen Teilen das Parabolische zum Prinzip machte. Bei Brecht wie bei Kafka hat das Merkmal der Parabel wissenschaftliche Literatur in Fülle hervorgebracht. Und kaum ein lebender Autor, auf den nicht die Feststellung zuträfe, er schreibe Parabeln. Doch nicht nur Dichtung ist diesem Merkmal wieder verpflichtet, sondern ebenso Philosophie: der Hinweis auf Ernst Bloch genügt. - Nun hat der Schritt von der Reflexion der Kunst als Wahrschein zu der als Absolutum, das eigene Wirklichkeit konstituiert, dazu geführt, auch dieser modernen parabolischen Dichtung eine besondere Qualität zuzuschreiben: die alte Parabel als einfachstes Exempel erkenntnisvermittelnder Dichtung, so wird erklärt, sei Lehrparabel gewe- neswegs auf das direkte und allgemeine Verständnis der Hörer angelegt ist, sondern ungleich schwieriger zugänglich bleibt als die Allegorie. Von hier aus könnte sehr wohl auch die Wendung „So höret nun ihr dieses Gleichnis ..." als Signal dafür verstanden werden, daß auch für den deutenden Teil nicht die fixierende Entschlüsselung das Zentrale ist, sondern die Bereitschaft zu hören. ^3 Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Ed. F. Ranke. Berlin "1959. V. 4665. S. 59. ^4 Hartmann von Aue: Gregorius. 10. Aufl. ed. L. Wolff. Tübingen 1963. (Altdeutsche Textbibliothek. Nr. 2.) 154 155 sen, Kennzeichen der modernen dagegen sei es, daß sie offen und schwebend, also weder anwend- noch übersetzbar sei. So etwa verfährt Norbert Miller in einem Aufsatz >Moderne Parabel?<^5. Sieht man von den schlichtesten Zeugnissen ab, von solchen, die bewußt als didaktische Stützen geschaffen wurden, so ist nicht recht erkennbar, wo denn der Lehrcharakter der Parabel liegt, sofern er aus ihrer Eindeutigkeit und Einlinigkeit sich herschreiben soll. Ist die Ringparabel, die Miller als Exempel der Gattung anführt, eindeutig, lehrt sie in übertragbaren Bildern? Heinz Politzer hat mit Recht auf ihre Paradoxie hingewiesen.^6 Allerdings entgeht auch ihm, daß wenn nicht Paradoxie, so doch Verhülltheit schon den Gleichnissen Jesu eignet, die gerade nicht das, worauf sie zielen, in Bildern vereinfachen, sondern durch sie schwierig und nur denen, die hören können, verständlich machen wollen. Eben von der Schwierigkeit des Nichteindeutigen, davon, daß nicht unmittelbar anzuwenden sei, was Gleichnisse sagen, handelt Kafka. Aber er handelt nicht allein davon. Was jedem, der den Text liest, sofort auffallen muß, ist seine Zweiteiligkeit. Mit dem Verzicht auf ein Wort und mit einer kleinen Änderung der Wortstellung könnte man die zwei Teile zu zwei selbständigen Stücken machen. Der erste scheint keinerlei Schwierigkeit zu* bieten. Er kontrastiert klar die Worte der Weisen und das tägliche Leben und kommt zu dem Fazit, zwischen beiden sei keine Verbindung herzustellen. Daß man sich isoliert diesem Teil zuwendet und ein verengtes Verständnis ihn entsprechend auslegt, ist kein Wunder. So schreibt z. B. (und das ist wirklich nur als zufällig herausgegriffenes Beispiel zu nehmen) Helmut Richter in seiner 1962 in Ost-Berlin erschienenen Kafka-Dissertation über diesen Text: „Der lehrhafte Charakter des Gleichnisses, seine Anwendbarkeit und Verbindlichkeit werden geleugnet."^7 Abgesehen davon, daß der Satz auch in Hinsicht auf den ersten Teil der Parabel problematisch ist, soll er uns vor allem als Hinweis darauf gel- ^5 Miller, Norbert: Moderne Parabel? In: Akzente. Jg. 6 (1959). S. 200-213 [s. in diesem Band S. 118-131]. ^6 Politzer, Heinz: Lessings Parabel von den drei Ringen. In: The German Quarterly. Jg. 31 (1958). S. 161-177. Darum ist gegen Reinhard Dithmar (a. a. O. S. 11), der sie eine Allegorie nennt, an ihrem Parabelcharakter festzuhalten. ^7 Richter, Helmut: Franz Kafka. Werk und Entwurf. Berlin 1962. S. 220. ten, daß Richter in seiner kurzen Paraphrase kein Wort an deren zweiten Teil wendet. Für ihn bleibt der Text als Ganzes „fragwürdig" ^8 (ohne ihn gründlich zu befragen), weil er von einem Erkenntnisskeptizismus getragen sei, der nur Verzweiflung oder zumindest Resignation zur Folge haben könne. Merkt Richter dies sehr kritisch an, so würde seine Deutung, daß das „Gleichnis [. . .] nicht mehr Vorbild" zu sein vermöge, sondern allein „Spiegel grundsätzlich unfaßbarer transzendenter Beziehungen"^9, bestimmten westlichen Interpreten gerade als Ruhm Kafkas gelten, der mit aller Deutlichkeit zeige, daß die Dichter ihre Enigmata hinstellen, ohne daß es eine Möglichkeit gebe, diese Rätsel zu lösen. Nun beginnt der Text allerdings gar nicht mit der objektiven Feststellung, Gleichnisse seien im täglichen Leben unverwendbar, sondern mit dem Hinweis auf die Klage vieler darüber, daß die Worte der Weisen nur Gleichnisse seien. Von dem Folgenden ist nicht genau auszumachen, ob es Referat dessen ist, was viele sagen, oder Feststellung des Autors. Darauf deutet zwar der Indikativ, da aber die Bemerkung, daß „viele sich beklagen", dem Ganzen vorausläuft, kann es ebensogut eine Vereinfachung des Referatmodus sein. Jedenfalls bleibt ein Kontrast: das tägliche Leben bedürfe des Verwendbaren, bedürfe des Hellenden, der Faßbarkeit; die Worte der Weisen aber sprächen vom Unfaßbaren als Unfaßbarem - und soviel wüßten wir auch. Ein doppeltes Bedauern, eine doppelte Klage ist zu hören: die Worte der Weisen sind nur Gleichnisse; wir haben allein das tägliche Leben. In diese Doppelklage, die aus dem zweimaligen „nur" ruft, mischt sich der Chorus mysticus: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis." Jenes „nur", das dort alles in Frage stellt, löst hier alles. Weil das tägliche Leben nicht unter der Resignation erscheint, einzig es zu haben, sondern unter der Erkenntnis, es sei allein das, was es bedeute, es sei überhaupt nur als Bedeutendes, als Gleichnis. Davon ist in dem ersten Teil des Kafka-Stückes die Rede nicht mehr: zum puren Objekt, zum Gegenstand, allein Mühe ist geworden, was selbst darin noch, in der Strenge des Dienstes nämlich, Offenbarung einst war. Indem sich der strengen Dienste tägliche Bewahrung zum täglichen Leben, das wir allein haben, bornierte, haben wir nicht nur ^8 A. a. O. S. 220. ^9 A. a. O. 156 einzig dies, sondern haben wir nur noch. Das ruft fast automatisch die Klage darüber herauf, daß wir nicht mehr sind. Obwohl davon in diesem Text gesprochen wird, wäre es gefährlich, den strapazierten Begriff Existenz als einen einzuführen, der sich unvermittelt dem Haben, dem, was faßbar ist, gegenüberstellt. Vielmehr sagt Bloch: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst." ^l0 Ist das nun nicht die Umkehrung dessen, auf was der Text hinzudeuten beginnt? Haben wir doch gerade; freilich, aber nicht uns. Sind wir gerade nicht; doch wohl, aber nur wir, nur ,ich'. Bei Kafka ist das Wort des Weisen unverständlich, weil es ein unanwendbares ist: „Gehe hinüber". Unverständlich und unanwendbar, denn über was soll ich gehen, wohin, auf welche Seite? Zum „sagenhaften Drüben" verschwimmt, löst sich auf, was als Rätsel aufgelöst werden soll. Wenn aber das Gleichnis gar nicht dem auflösbaren Rätsel gliche oder dem unauflösbaren? Jesus gibt die Deutung seines Gleichnisses, indem er sagt: „Höret nun ihr dieses Gleichnis." Was könnte gehört werden aus dem Gleichnis „Gehe hinüber"? „Transcende te ipsum", hört man bei Augustin, woraus wieder zu hören wäre: „Folge mir nach". Dies aber wäre wie die Folgerung, die Jesus aus, den Gleichnissen zieht, auch etwas von dem, was bei Kafka im zweiten Teil der Parabel folgt. Die Frage, wohin man gehen solle, ist dann soHinangemessen wie die Antwort, das bleibe unfaßbar, weil wir uns jeden Tag mit anderen Dingen abzumühen haben. Wie falsche Frage und falsche Antwort gleichen sich die falschen Auskünfte, das rätselhaft Parabolische der Dichtung sei weit entfernt von aller Lehre, deute vielmehr auf ein „sagenhaftes Drüben", sei Mythos, schlimm entfernt oder hoch erhaben von Aufklärung - und: im ernsten Leben habe Kunst nichts zu suchen, ihre Berechtigung sei, jenem das schöne Ornament, das entertainment zu applizieren. „Darauf sagte einer": was nun kommt, ist die Entgegnung in allem. Zunächst: viele beklagen sich, einer antwortet. Existentielles Mißverstehen sieht darin leicht einen gegen viele, wenn nicht alle. Die Kategorie des einen ist aber hier nicht die des schlechthin Einsamen, der in brauner Nacht sein ungehörtes Lied singt, vielmehr die desjenigen, der ^10 Bloch, Ernst: Tübinger Einleitung in die Philosophie a. M. ^51967. S. 11. (Edition Suhrkamp. Bd. 11.) Bd. 1. Frankfurt 157 „darauf", auf die Klagen der vielen, etwas zu sagen hat. Nämlich Lehre! Denn wir haben es in der Tat mit einem moralischen Lehrsatz katexochen zu tun. In ihm wird der Imperativ des „Folge mir nach" erinnert und damit das Wort des Weisen, das „Gehe hinüber" hieß. Diese Lehre, die als ein sozusagen potentieller Imperativ erscheint, wird eingeleitet durch die Frage. Sie geht davon aus, daß die Klage über die Differenz zwischen den Worten der Weisen und der täglichen Mühe in Wahrheit Abwehr, also Pseudoklage, also unwahr sei. Daß es andere Dinge sind, mit denen wir uns täglich abmühen, ist nicht das objektive Problem, sondern die subjektive Schuld, die sich uns in allem, was wir nicht bewältigen, entgegenstellt, sich objektiviert. Verstellt ist der Blick und sieht nicht zwei Schritte weit, der im Gleichnis nur es sieht und darum an seiner Lösung scheuert. Denn diese Lösung ist nicht wie die Antwort auf eine Frage — hat doch in der Parabel >Die Prüfung« sie der bestanden, der die Frage nicht beantwortet -, auch nicht wie die Übersetzung einer schwierigen fremden Schrift - ist doch, was geschrieben wird, wie in »Ein Traum«, „rein und schön" -, auch nicht des Rätsels Lösung ist gemeint, weil ja das Rätselhafte des Gleichnisses nicht herrührt aus Magie, die verschließend, verrätselnd eben wirkt oder sich öffnend, trifft man die Sphinx nur mit dem Zauberwort. Aber das magische Zauberwort, das Sprache in Sage verwandelt, kann, obzwar, wie es in der Parabel >Prometheus< heißt, aus einem Wahrheitsgrund kommend, nur immer wieder im Unerklärlichen enden. ■' Konsequenz aus dem Gleichnis ziehen, wäre die Lösung und die Lehre: die Folgerungen ziehend ihm folgen. Das bedeutet Entscheidung und Erkenntnis in einem. Denn - Kant zu variieren - Entscheidung ohne Erkenntnis ist blind, Erkenntnis ohne Entscheidung leer. In den Evangelien haben nur die Jünger, die das „Folge mir nach" akzeptieren, Ohren, das Gleichnis zu hören. Und umgekehrt: nur wer Ohren hat, das Gleichnis zu hören, folgt ihm und wird damit selbst Gleichnis. In dem scheinbaren Zirkel ist das Dilemma einer Subjekt-Objekt-Spaltung aufgehoben, das die Selbsterfahrung nur als Klage realisiert, die Welterfahrung nur als Habe, als Weltbesitz - und mit der Lehre, die sich nicht zur Habe manipulieren läßt, nichts anzufangen vermag. Im Gleichnis scheint die Überwindung des Dilemmas auf, aber nur dem ihm gleichzeitig Zuhörenden und Folgenden, und zwar im Sinne der Konsequenz, nicht in dem des „danach". Lehre ist jedes Gleichnis, nicht freilich als 158 das Gesetz, das vor uns steht, sondern als das, in dem und das wir sind. Selbst Gleichnis geworden, sind wir wiederum nicht für uns Existierende, sondern Lehrende, wie Nathan als Lehrer Gleichnis ist. Schon jedoch steht der andere bereit, eine Spirale weiter, daran erinnernd, daß auch dies dem täglichen Leben nicht beikommen könne. Der andere klagt nicht, sondern argumentiert. Doch ist das sein Vorteil nicht. Seufzen jene unter der täglichen Mühe und ist in diesen Seufzern noch anwesend, was Freiheit ahnen läßt, so ist der Realismus des anderen davon unbetroffen. Er bedauert nicht mehr, nur Gleichnisse zu hören, sondern weiß und bestätigt, daß Gleichnisse nichts weiter sind als dies und der Gewinn im Gleichnis nichts einbringt. Ohne daß es ihm klar wird, hat er seinen Lohn dahin. Weit entfernt von den vielen ist er der, der wettend, Erkenntnis als Spiel betrachtend, lediglich auf Gewinn und Verlust, auf ein Mohr oder Weniger ausgeht. Ihm wird die Rechnung auf eine seltsame Art gemacht. Denn, was er nicht erwartet, geschieht, er hat „in Wirklichkeit" gewonnen.,Und nichts kann ihm genehmer sein, der zwischen dem, was leider nur Gleichnis ist, und der Realität exakt scheidet. Doch nicht seine Zufriedenheit darüber vermittelt uns der Text am Schluß, vielmehr daß er verloren habe. Hier wäre die Auskunft, es handle sich um einen skurrilen Schluß, so fadenscheinig wie eine Unterscheidung von höherer und niederer Wirklichkeit, von Idealität und Realität. Vielmehr stehen Gewinn und Verlust nebeneinander. Indem er wettet, also ratend und spielend Gewinn zu erzielen sucht, sind Gewinn und Verlust schon ausgemacht. Der andere hat recht, denn er hat - auf die Gleichnislehre als auf ein Rätsel eingehend - es herausbekommen, Erkenntnis gemehrt, dem Haben des täglichen Lebens etwas hinzugefügt, obzwar es freilich diesem nicht einmal etwas nützt. Nur bedeutet das Verlust im Gleichnis, da dessen Lehre keine ist, die man erratend kennt, sondern der man folgernd folgt; denn man hat nicht das Rätsel herauszubekommen, sondern sich selbst als Lösung einzubringen. Die ist nicht das Selbstsein als die bodenlose Existenz dessen, der sein' Sach' auf nichts gestellt hat, sondern das Gleichnis-Sein als die Vermittlung des zu Vermittelnden, worin allein eine „unabhängige" Bestimmung des Menschen läge. Das zu Vermittelnde heißt in den Gleichnissen Jesu „das Himmelreich", bei Hegel „der Geist". Es erscheint nur im Gleichnis. Ob dieses „nur" die Klage 159 der vielen impliziert, die summierende oder spielerische Erkenntnis des anderen - oder die Konsequenz, die die Befreiung von der täglichen Mühe wäre, ist keine erbauliche Besinnung, sondern die harte Frage, die jedem Denken aufgegeben ist, wenn es sich nicht als selbstgenügsames mißdeutet; vor allem dem Denken, das der Dichtung gilt. Dieser Text ist eines seiner Grundgesetze. Probleme des Erzählens in der Weltliteratur. Festschrift für Kätc Hamburger /.um 75. Geburtstag am 21. September 1971. Hrsg. von Fritz Martini. Stuttgart 1971, S. 303-329. ERZÄHLLOGIK UND VERSTEHENSPROZESS IN KAFKAS GLEICHNIS »VON DEN GLEICHNISSEN« Von Ingrid Strohschneider-Kohrs Von den Gleichnissen Viele beklagen sich, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt: „Gehe hinüber", so meint er nicht, daß man auf die andere Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann.'Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, und das haben wir gewußt. Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge. Darauf sagte einer: „Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei." Ein anderer sagte: „Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist." Der erste sagte: „Du hast gewonnen." Der zweite sagte: „Aber leider nur im Gleichnis." Der erste sagte: „Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren." Der Text »Von den Gleichnissen«, aus den nachgelassenen Handschriften ediert, gehört zu den spät: „wahrscheinlich 1922/23" ' entstandenen Dichtungen Kafkas. Den Titel hat nicht Kafka, sondern Max Brod formuliert. Wie bei einigen anderen der »Erzählungen und Skizzen aus dem Nachlaß« ist dieser Titel gewählt nach einem augenfällig im Text selbst verwendeten Wort, das hier jedoch-anders als beiden aus knapp- ^1 M. Pasley u. K. Wagenbach, Versuch einer Datierung sämtlicher Texte Franz Kafkas, in: DVjs, 38, 1964, S. 161. Der Text wird zitiert nach: Franz Kafka, Die Erzählungen. Hrsg. v. K. Wagenbach, Frankfurt a. M. 1961, S. 328. Erzähllogik u. Verstehensprozeß in Kafkas >Von den Gleichnissen« 293 stem Stichwort-Zitat bestehenden Titeln^2 - um einen geringfügigen Zusatz erweitert worden ist. Mag dieser umschreibende Zusatz als angemessen oder glücklich gewählt erscheinen, so lassen sich doch auch andere Wendungen für die Überschrift erwägen - etwa: 'Gespräch über Gleichnisse' oder wieder das reine Zitat: 'Gleichnisse' oder 'Nur Gleichnisse'. Titel dieser Art böten vielleicht Anlaß, das Augenmerk in erhöhtem Maße auf die Literarität und auf den Gattungscharakter des Textes zu lenken, dessen gedanklicher Gehalt gleichwohl gravierend genug ist, um in nahezu jeglicher Art von Textauslegung die Aufmerksamkeit und Deutungsbemühung auf sich zu ziehen. Den bisherigen Interpretationen^3 ist zu entnehmen, daß sie vornehmlich den dunklen, den änigmatischen Charakter des Textes und die 'Unauflösbarkeit seiner Antithetik' zu kennzeichnen für nötig halten. Die äußerste Reduktion auf eine Frage nach dem 'Inhalt' des Textes nimmt Helmut Richter vor. Er sieht in der „dialogisierten Betrachtung" eine „erkenntnistheoretische Problematik" des Sinnes: „Der lehrhafte ^2 Zum Beispiel »Die Prüfung«; »Fürsprecher«; »Gibs auf« u. a. ^3 Neben den Einzelinterpretationen (Allemann, Arntzen, Philippi), zu denen im folgenden Stellung genommen wird, sollen die in der Kafka-Literatur nur beiläufig im Zusammenhang von Gesamtwerkdeutungen gebotenen Hinweise auf diesen Text unerörtert bleiben, zumal sie zu einer strengeren Texterläuterung kaum etwas beitragen. Das Buch von Dieter Hasselblatt (Zauber und Logik. Eine Kafka-Studie, Köln 1964), das den Text zum „Angel-und Ausgangspunkt" (S. 34) seiner schweifenden Darstellung wählt, gelangt über einige Paraphrasierungen nicht hinaus. Hasselblatt gibt das (auch bei Emrich [Franz Kafka. 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1961, S. 97ff.] anzutreffende) Stichwort, Gleichnisse seien „nichts anderes als die Dichtung" (S. 172, 175 u. ö.); im Text sei „von der grundsätzlichen Fremdheit der Dichtung in der Welt die Rede" (S. 177); Gleichnisse seien die „Kundgabe der Unfaßbarkeit des Unfaßbaren" (S. 173),-„heißende Einräumung einer weltimmanenten Unfaßbarkeit" (S. 184). Der These wird keine präzisere Formulierung gegeben. - Auch der Schlußhinweis in Arntzens Interpretation (Helmut Arntzen, Franz Kafka: Von den Gleichnissen, in: ZdPh, 83, 1964, Sonderheft, S. 106-112) [s. in diesem Band S. 151-159], der Text enthalte „die harte Frage, die jedem Denken aufgegeben ist, . . . vor allem dem Denken, das der Dichtung gilt. Dieser Text ist eines seiner Grundgesetze" (S. 112), führt nur an die Schwelle einer Überlegung, entbehrt aber der Grundlage, bleibt vage Andeutung. 294 Charakter des Gleichnisses, seine Anwendbarkeit und Verbindlichkeit werden geleugnet"; es trete eine „Wirklichkeit" zutage, „zu deren Bewältigung keine Orientierungsmittel vorhanden sind". „Die Wurzel des Übels ist der Zustand einer Welt, in der keine Ordnungsbegriffe wirksam gesehen werden."^4 Beda Allcmann^5 geht von der Beobachtung aus, daß Kafka in diesem Text - wie „in allen Erzählungen und den Romanen"'^1 - einen „Effekt der Verfremdung, der labyrinthischen Ausweglosigkeit" ^7 entstehen lasse. Wenn Allemann betont, daß ein 'ursprünglicher' und 'naiver' Sinn von Gleichnis „in sein Gegenteil, die pure Unfaßlichkeit" pervertiert werde^8, so weist er zugleich auf das Kunstmittel und den „strukturierenden Sinn" der Antithesen hin: „ein Mittel, den Gedanken im Kreis herumzujagen"^9. Das Stück dürfe mit seiner „immanenten Antithetik" als ein „reines Paradigma der Kafkaschen Dichtung" gellen, da es „modellhaft den stehenden Sturmlauf vor dem unerreichbaren Ziel, als dessen Beschreibung das Gesamtwerk Kafkas verstanden werden darf" ^10, verdeutliche. Unter den Voraussetzungen einer anderen Ausgangsfrage, die das parabolische Erzählen nach gattungstypischen, konstanten Formen und geschichtlichen Varianten ihrer Verwendung zu charakterisieren sucht, erörtert K.-P. Philipp!'' einige der generisch bedingten Probleme, die auch für die Erläuterung des Kafka-Textes von hohem Belang sind. Leitlinie und Frageziel dieser differenzierten und förderlichen Untersuchung ist die Bemühung um eine glaubensgeschichtliche Ortsbestimmung der modernen parabolischen Erzählung - wie denn ^4 Helmut Richter, Franz Kafka. Werk und Entwurf, (Ost-)Berlin 1962, S. 220. ^5 Beda Allemann, Kafka: Von den Gleichnissen, in: ZdPh, 83, 1964, Sonderheft, S. 97-106 [s. in diesem Band S. 139-150]. ^6 Allemann, a. a. O., S. 97f. ^7 Ebd., S. 98. ^8 Ebd., S. 100. ^9 Ebd., S. 103. ^10 Ebd., S. 106. Die Wendung 'stehender Sturmlauf' ist aus einer Tagebuchnotiz Kafkas zitiert; vgl. Allemann S. 103. ^11 K.-P. Philippi, 'Parabolisches Erzählen'. Anmerkungen zu Form und möglicher Geschichte, in: DVjs, 43, 1969, S. 297-332 fs. in diesem Band S. 223-265]. Erzähllogik u. Verstehensprozeß in Kafkas >Von den Gleichnissen< 295 Philippi seine Kafka-Auslegung nicht nur über einen Kierkegaard-Exkurs führt, sondern auch an theologisch-inhaltlichen Begriffen orientiert ^u, die ihm Kafkas Erzählung mit biblischer Gleichnisrede zu vergleichen und den Aussagesinn des Kafka-Textes abzugrenzen ermöglichen. So deutet Philippi: Die Frage des Textes werde wohl „eindrücklich", aber als unlösbar „zum Bewußtsein gebracht" ^13. „Nur Spekulation-. . ., formalisierte Reflexion ohne den konkreten Inhalt der Offenbarung ist bei Kafka sichtbar."^14 Auch die form-, die gattungsgeschichtliche Problematik, die Philippi mit gewichtigen Hinweisen für Kafkas Text zu umreißen beginnt,^15 wird am Ende dahin beantwortet: „Die Form dient nicht mehr der prospektiven Einheit, sondern führt den Zerfall vor; einheitlich kann nur mehr die Einsicht in diesen Zustand sein." "' So erhellend Philippis Erörterungen sind, -sosehr ihm beizupflichten ist darin, daß „die Form der Parabel . . . mehr als Formales, mehr als Literarisches" intendiere^17, so meldet sich doch ein Zweifel, ob die Leitlinie dieser Deutung in eine zureichende, dem Problem des Textes angemessene Explikation geführt hat; kurz: ob genug gesagt ist mit dem Hinweis, bei Kafka diene die „Verwendung der Parabel (als angemessener Ausdruck des Paradoxes) zum Ausdruck des unkorrigierbaren Gegensatzes, gerade wo Glauben verlangt oder angeboten wird" ^18. Auch wenn ich mit meinem Auslegungsversuch anderen Fragen Raum geben möchte, sollen die bislang beschriebenen Texteigentüm- ^12 Philippi, a. a. O.: „Verheißung" (S. 317), „Trennung von Immanenz und Transzendenz", „Gegenwart im Vorgriff auf die Zukunft" (S. 318), „Zukunft schaffende Glaubenscntscheidung", „Glaubensverlust", „Transzendenz ist . . . leer" (S. 320), „Problematik möglichen Glaubens", „Inhalt der Offenbarung" (S. 324) u. a. ^13 Ebd., S. 321. ^14 Ebd., S. 324. „Nur noch formal ist die Problematik möglichen Glaubens entfaltet"; „das Paradox [ist] auf einen bloßen Gegensatz reduziert", S. 324. ^15 Ebd., S. 3t7: „Das Problem der Faßbarkeit der Gleichnisse ist selbst Gegenstand der Parabel" - „Dabei steckt das Beispiel eines Gleichnisses in der Parabel." "• Ebd., S. 326. ^17 Ebd., S. 332. ^18 Ebd., S. 326. 296 lichkeiten keineswegs übersehen oder in ihrer Bedeutung angezweifelt werden. Es möchte vielmehr möglich und geboten sein, eben auch solche Phänomene wie Antithetik und Paradoxie, den Schein des Änigmatischen, die Verweigerung von expliziten Sinnaussagen und die Offenheit des Textschlusses nach ihren Funktionen für einen Strukturzusammenhang zu befragen, dessen strenge Fügung, Kohärenz und logisch-gedankliche Dimension nicht zuletzt darauf zu beruhen scheinen, daß die Sprache des Textes von nicht allein denotativer Bedeutung ist. Da Struktureigentümlichkeiten sich schwerlich ohne Rekurs auf Fragen nach den Gattungsbedingungen bestimmen lassen, bedarf es wohl eines Hinweises auf die in dieser Auslegung gewählte Genus-Bezeichnung 'Gleichnis' - statt der so oft in Kafka-Auslegungen bevorzugten der 'Parabel'. - Die Grenzen zwischen Gleichnis und Parabel werden einesteils „fließend" genannt^19, andernteils mit unterschiedlichen Kriterien zu bestimmen versucht. Klarere Unterscheidungen ergeben sich erst dann, wenn die gemeinsamen Züge aus dem 'Genus proximum' genannt werden und dann von dieser Ebene aus die 'differentia specifica' erwogen wird. Gleichnis und Parabel stimmen als Sonderformen bildlicher Erzählrede überein in einer gewissen Kürze und Bündigkeit, in ihrer Eignung, Absicht oder Zweckbestimmung, „übersinnliche Wirklichkeit" zu veranschaulichen^20, was mit Hilfe eines 'tertium comparationis', im 'Analogieschluß' oder in vergleichender Übertragung zu erfolgen vermag. Die differentia specifica erscheint nur wenig scharf umrissen, wenn als Merkmal der Parabel eine „erdichtete Geschichte"^21, als das des Gleichnisses die „direkte Verknüpfung (so: wie) mit dem zu erläuternden Objekt" ^22 genannt wird. Eine bessere Distinktion ^19 Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 3. Auflage, Tübingen 1958, Bd. 2, Spalte 1617. ^20 Ebd., Sp. 1614. ^21 Ebd., Sp. 1617: in der neutestamentlichen Forschung spreche man von Gleichnis, „wo ein regelmäßiger Vorgang, von P(arabel) (oder Gleichni.ser7.al1-lung), wo eine erdichtete Geschichte als Bildhälfte dient". ^22 G. v. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, 4. Aufl., Stuttgart 1964, S. 490; auch S. 250: „. . . die ausdeutend direkt hinzugelügt wird (. . . etwa 'so . . . wie')". Aber es heißt zugleich übers Gleichnis: „Vorangehen des Vergleichs- ergibt sich aus Hinweisen wie denen, die die Parabel ein „zur Erzählung ausgebildetes, episch gewordenes Gleichnis" nennen und als eine 'erweiterte' Form charakterisieren, „die eine Reihe von belegenden Momenten, eine Reihe von Vergleichspunkten enthält".^23 Zu Fragen der Sujetbehandlung gehen auch die Kennzeichnungen über, die - angesichts der Vielfalt biblischer'Glcichnisreden'^24, unter denen die Parabel >Vom verlorenen Sohn< und das Gleichnis >Von viererlei Acker< als Beispielformen dienen können - im Gleichnis „einen typischen Zustand oder typischen bzw. regelmäßigen Vorgang", in der Parabel „einen interessierenden Einzelfall" sehen ^25; dieser Unterschied wird des näheren charakterisiert: „Das Gleichnis beruft sich auf Allgemeingültiges, die Parabel auf einmal Vorgekommenes . . . Durch ihre Anschaulichkeit ersetzt die Parabel, was das Gleichnis durch die Autorität des allgemein Bekannten und Anerkannten voraus hat. . . . Das Gleichnis operiert mit 'niemand', mit 'kein', mit'jeder Mensch', mit'wann immer', 'sooft nur' bereichs ohne Andeutung der Beziehung dient der Spannungssteigerung", S. 250. Die in der Kafka-Literatur von H. Hillmann (Franz Kafka. Dichtungstheorie und Dichtungsgestalt, Bonn 1964) skizzierte Unterscheidung: das Gleichnis enthalte „deutlich voneinander abgegrenzt, Modell und Realsituation", während die Parabel „nur das Modell" zeige (S. 168) (Modell: eine „schematisch-generellc und bildhafte Situation von sinnenfälliger Einfachheit", S, 164), ist nicht so klar und überzeugend (gewiß auch formuliert in Hinsicht auf einzelne Werke Kafkas), daß sie zum Ausgangspunkt genauerer Erörterungen dienen könnte. ^23 F. Th. Vischer, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, 2. Aufl., Bd. 6, München 1923, S. 369. Die Parabel, so heißt es im vollen Wortlaut, sei ein Gleichnis, „aber ein entwickeltes, zur Erzählung ausgebildetes, episch gewordenes Gleichnis, und diese Entwicklung hat ihren Grund darin, daß die vorzutragende Lehre nicht einfach, sondern vielseitig ist, eine Reihe von belegenden Momenten, eine Reihe von Vergleichsmomenten fordert". Diese Kennzeichnung wird in kurzer Form in vielen Definitionen wiederholt: vgl. RGG, a. a. O., Sp. 1614: „Die Parabel ist ein zur Erzählung erweitertes Gleichnis . . ." u. a. ^24 A. Jülicher (Die Gleichnisreden Jesu, 2 Bde., Tübingen 1910) faßt unter diesen Begriff sowohl 'Gleichnisse', 'Parabeln' als auch 'Beispielerzählungen' des Neuen Testaments. ^25 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 3. Aufl., Göttingen 1957, S. 188. 298 usw., es sucht den Hörer durch die Wucht des 'Überhaupt', des 'semper, ubique et ab omnibus' gleichsam zu erdrücken."^26 Diese Unterscheidungen geben für eine zunächst vorläufige Orientierung auf zureichende Weise Anlaß, den Kafka-Text wegen einiger Grundzüge seines Erzählstils, der ins Typische und Allgemeine weisenden Sujetbehandlung und der Anonymität der redenden Figuren als Gleichnis zu sehen. Daß mit einer solchen Kennzeichnung selbstverständlich die für Parabel und Gleichnis gemeinsamen Eigentümlichkeiten im Blick bleiben müssen, bedarf wohl ebensowenig der genaueren Hervorhebung wie der Umstand, daß erst die Texterläuterung als solche die Besonderheit eben dieses Gleichnisses aufzuzeigen vermag. Der Text zeigt in seinem äußeren Aufbau zwei Abschnitte, die sich in der Darbietungsweise (berichtete Einzelrede und berichteter Dialog), im (scheinbaren) Tempuswechsel und mit der im zweiten Teil erst anhebenden Benennung sprechender Personen unterscheiden lassen. Gleichwohl handelt es sich um einen bruchlos linear durchgeführten Darstellungszusammenhang, in dem ein Erzähler ohne Abstand, ohne sich mit eigenen Reflexionen bemerkbar zu machen, mit „einfachen", „schmucklosen" Worten^27 von einer fiktional zu nennenden Situation berichtet. Der Zusammenhang der Erzählabschnitte ist durch die präteritale inquit-Formel, die den neuen Erzähleinsatz mit einem 'darauf an den ersten Abschnitt bindet, hergestellt, so daß dieser- der Anfang des erzählten Ganzen - als eine Aussage aus der gleichen, unveränderten Gesamtsituation zu verstehen ist. Die Aussage zu Beginn des Textes, die nicht vorbehaltlos allgemeinen oder lehrhaft apodiktischen Charakters ist, erweist sich als mitgeteilte ^26 Eta Linnemann (Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, 2. Aufl., Göttingen 1962, S. 14) gibt hier ein Jülicher-Zitat mit geringfügigen Abweichungen (vgl. Linnemann, S. 137, Anm. 4) wieder. - Jülicher I, S. 93: „Das Gleichnis weist hin auf Dinge, die jeden Tag geschehen, auf Verhältnisse, deren Dasein der schlechteste Wille anerkennen muß." ^27 Fr. Beißner, Der Erzähler Franz Kafka, 4. Aufl., Stuttgart 1961, S. 51; vgl. auch unten Anm. 37. Erzahllogik u. Verstehensprozeß in Kafkas >Von den Gleichnissen< 299 Meinung, als berichtete Gedankenfolge eines - wenn auch nicht eigens benannten, so doch zu imaginierenden - Sprechers. Seine Mitteilung geht vom Hinweis auf die Klage der Vielen sogleich zur Stellung- und Anteilnahme, zur Identifikation mit dieser Klage über: sie setzt das 'wir' ein, das bis zum Ende des ersten Erzählabschnitts nicht aufgegeben, sondern mit gesteigerter Dringlichkeit beibehalten wird. Diese Rede nennt denn auch nicht nur in der indirekten Form des ersten reihenden Satzgefüges das, worüber die Vielen sich beklagen, sondern demonstriert und begründet den Anlaß zur Klage; zunächst zitierend, dann argumentierend wird die 'Unverwendbarkeit' und 'Unfaßbarkeit' der Worte der Weisen dargetan. Die Mitteilung kreist um den Gegensatz zwischen Gleichnissen als den „Worten der Weisen" und dem „täglichen Leben". Es ist bemerkenswert, daß die Schärfe dieses Gegensatzes mit einem betonten 'nur' für die beiden, vermeintlich unvereinbaren 'Dinge' hervorgehoben wird ('nur Gleichnisse' - 'nur dieses' tägliche Leben); es ist weiterhin bemerkenswert, daß der vorletzte Satz dieser den Klageanlaß demonstrierenden Rede ein solches 'nur' wie in einer Conclusio wiederholt, wobei nicht der Konjunktiv der indirekten Rede, sondern die harte Behauptungsformel verwendet wird ('. . . eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist ...'). Ein erneutes 'nur' steht mit wiederum ohrenfälliger Betonung auch am Ende des zweiten Erzählabschnitts. Mögen die syntaktischen Zuordnungen, mag der engere Kontext des 'nur' verschieden sein, so zeigt diese Wortwiederholung doch ein skeptisches Insistieren an, - ist Zeichen beharrlicher Abwehr sowohl im ersten wie im zweiten Erzählabschnitt und ist Zeichen auch dafür, daß eine Annäherung oder Verständigung der hier dargestellten Redepartner nicht stattgefunden hat. Das klare 'Nein' in der letzten Replik unterstreicht mit Deutlichkeit, wie weit die Urteile der Redenden über 'gewonnen' oder 'verloren' auseinandergehen. - Der Erzähler gibt keinerlei Andeutung, fügt keine Erläuterung hinzu, wie es mit der Erfahrung des Dialogpartners aussehen möchte, der diese Replik hören muß. Der Dialog bricht ab. Hat er 'nur' die Bedeutung - erfüllt er keine andere Funktion als die, den schon zu Beginn des Textes genannten Gegensatz zu bestätigen? - 300 Die im Erzählbericht dargebotene Situation, der hier mitgeteilte Vorgang erscheinen in der knappsten, auf jeden Zusatz, jede Ausschmückung verzichtenden Form. Es gibt keine Ortsbeschreibung, keine Zeitcharakterisierung — keinerlei Detail. Neben der Mitteilung von 'Redeinhalten' existiert der Erzählbericht explizit nur in den kurzen, mit kargen Präzisierungen versehenen inquit-Formeln. So herrscht in dieser Erzählung eine nahezu unüberbietbare Einfachheit, - die indes nicht den Eindruck einer Schematisierung oder den der Abstraktion erweckt. Auch die Art der hier gewählten Sprache - die Sprachschicht ist zunächst gemeint, nicht die Art der syntaktischen Strukturen - ist von größter Einfachheit; die im Text gewählten Worte sind nicht ungewöhnlich oder dunkel, sie bleiben im Umkreis des allgemeinen Sprachgebrauchs - bis auf zwei Ausnahmen, die - so einfach und bekannt auch sie als Worte sind - dem Erzählten das 'Thema', eine bestimmte Atmosphäre und auch das Problem geben: 'die Weisen' und 'Gleichnisse'. Es ist symptomatisch, daß sie mit dem Erzählbeginn nicht nur als gleichsam selbstverständlich, ohne erklärenden Zusatz gebraucht, sondern auch als eng zusammengehörend genannt werden: 'Worte der Weisen sind Gleichnisse'; und es ist erneut symptomatisch, daß der näher ausführende Satz den Hinweis auf die Worte der Weisen mit einer imaginierten Anrede-Situation demonstriert, die für den Redenden, für die 'Vielen' als vertraut, als „immer wieder" erfahren gilt. Es wird auf einen altbekannten Umstand, eine nachgerade 'ritualisierte' Erfahrung hingewiesen. Auch der Leser ist (im Normalfall) mit dem Erzählbeginn zureichend verständigt^28. Er erkennt die hier gebrauchten Worte, die hier berufene Erzähl-, Anrede- oder Unterweisungs-Situation wieder - wenn auch nicht aus eigenen Realsituationen, so doch aus dem Oberlieferungswissen, das daran zu erinnern vermag, daß in älteren -, daß in nahezu allen Gemeinden der Weltreligionen die Sprechweise gleichnishafter Rede ^28 Der Leser braucht jedenfalls für die hier verwendeten 'Vokabeln' zunächst — anders als Allemann betont (vgl. a. a. Ö., S. 98) — keine zusätzliche „Aufklärung". 301 von Wissenden und Lehrern geübt worden ist, wie vor allem und mit weitestem Bekanntheitsgrad die Bibel von Mitteilungsformen und Unterweisungen durch Gleichnisse berichtet. Selbst dann, wenn der Leser diese Überlieferungsreminiszenzen nicht für sich abruft, so ergibt sich für ihn aufgrund der Mitteilungen des Textes ein literarisch-sprachliches Vorverständnis - mag es sich nun im Fortgang der Erzählung bestätigen oder verwirren - zunächst dergestalt, es werde hier von einer 'Art zu reden' gehandelt, deren Eigentümlichkeiten in den nachfolgenden Hinweisen angedeutet, umschrieben und 'angeklagt' werden. Für die enge Verknüpfung von: 'Gleichnisse - Worte der Weisen' bedarf es allerdings wohl der Anmerkung, daß sie nicht auf ein unbestimmtes sprachlich-literarisches Vorverständnis und nicht allein auf die neutestamentliche Vorstellungswelt^29 zurückgeht, sondern z.T. auf Wendungen des Alten Testaments, auf Topoi vor allem aus der Sprachwelt der palästinensischen Rabbinen und der >Erzählungen der Chassi-dim<^30. Es mag an dieser Stelle auch erwähnt sein, daß bei den Rabbinen „mit einer Reihe von Gleichnissen selbst wiederum die Verwendung des Gleichnisses in der Exegese begründet" wurde^31, wobei 'Gleichnis' eben nicht in einer Definition erklärt, sondern - wie das angemerkte Beispiel^32 zeigt - nach seinem Wert („nichts Geringes") und seiner möglichen Wirkung charakterisiert wird. ^29 Vgl. Matthäus 13, 54: Die Frage der Schriftgelehrten: „Woher kommt diesem solche Weisheit ..." darf als Hinweis gelten auf die auch im Neuen Testament noch präsente Auffassung der 'Gleichnisrede' als Weisheitsrede. ^30 Die Wendungen: "Unsere Weisen sagen . . .' und 'Rabbi. . . erzählte dieses Gleichnis . . .' gehören zu den oft wiederkehrenden Einleitungsformeln in den chassidischen Erzählungen, mit denen Kafka - nicht zuletzt auch durch die Vermittlung Martin Bubers - in hohem Maße vertraut gewesen ist. ^31 R. Bultmann im Artikel »Gleichnis und Parabel: II. In der Bibel«, in RGG, 2. Aufl., Tübingen 1928, Bd. 2, Spalte 1239. ^32 Eines der höchst aufschlußreichen Beispiele, auf das später erneut hinzuweisen sein wird, ist das folgende: „Nicht sei das Gleichnis etwas Geringes in deinen Augen, denn durch ein Gleichnis kann der Mensch zum Verständnis der Worte der Tora gelangen. Gleich einem König, der ein Goldstück in seinem Hause oder eine kostbare Perle verloren hat; kann er sie nicht durch einen Docht im Werte eines Asses wiederfinden? So sei auch ein Gleichnis nichts Geringes in deinen Augen." 302 Doch zurück zum Text selbst. Der Hinweis auf die oder den 'Weisen' erfolgt nur zu Beginn des Erzählberichts. Daß der 'eine', der im Dialogteil das Wort ergreift, nicht als Weiser bezeichnet wird, obwohl er aus dem Einverständnis mit ihnen und ihrer Art zu reden spricht, gehört zu den notwendigen^33 Aussparungen dieses Textes, in dem keine der mitgeteilten Aussagen oder Verstehensweisen präjudiziert wird, - in dem der Erzähler nichts „korrigiert" und auch nicht einem „möglichen", vielleicht „unvermeidbaren Irrtum"^34 zuvorzukommen sich anschickt. Das Wort 'Gleichnis' dagegen durchzieht den gesamten Text; und zwar erscheint es in immer neuartigen Kontextwendungen auf eine Weise, die nicht allein den dargestellten Redenden, sondern auch dem aufnehmenden Leser als fragwürdig erscheinen muß. Dreimal ist mit eigener Sprachgeste von Gleichnissen die Rede. Das erste Mal am ausführlichsten, aber vorwaltend mit Erläuterungen in der Negationsform, die verdeutlichen sollen, was der erste Satz mitteilt: daß nämlich die Worte der Weisen nichts im Wortsinn sagen und deshalb im täglichen Leben „unverwendbar" seien, „also hier" nichts helfen könnten. Der negierende Sprachgestus hindert nicht, daß diese Mitteilungen einige Mitgeteilt in: H. L. Strack und P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. I, 3. Aufl., München 1961, S. 654. ^33 'Notwendig' - damit sei hier auch eine bestimmte Sinnesart und Verhaltensweise gekennzeichnet. Anders als im ersten Abschnitt des Textes, in dem fragend, zweifelnd und anklagend von den 'Worten der Weisen' die Rede ist, kann der erste der Redenden im Dialogteil nicht als 'Weiser' bezeichnet werden, wenn die gebotene Zurückhaltung der 'Wissenden', das Eigentümliche der 'Demut' nicht verletzt erscheinen soll. Diese Art von 'Demut' gilt „im Chassidismus als eine der Haupttugenden" (M. Buber, s. u. S. 889). Sie wird — wie in der Erzählung >Demut kein Gebot< dargetan ist — wegen ihrer durch Wollen und vorwegnehmendes Wissen verletzbaren und verfehlbaren Eigenart in der Tora „nicht. . . geboten". (Auf die Frage „Was bedeutet dieses Verschweigen?" wird in der Erzählung vom Rabbi geantwortet: „Wollte einer . . . Demut üben, ein Gebot zu erfüllen, er würde nie zur wahren Demut gelangen." Das Verschweigen hindert, daß „der Mensch . . . das vermeintliche Gebot" vollzieht und „auch noch damit seinen Hochmut" . . . „füttert".) Die Erzählungen der Chassidim, in: Martin Buber, Werke, 3. Bd.: Schriften zum Chassidismus, München/Heidelberg 1963, S. 262. ^34 Beißner, a. a. O., S. 32. 303 Merkmale gleichnishafter Rede angeben: sie nennen einen appellativen, einen Aufforderungscharakter, zitieren mit dem Beispielsatz einen konkret und einfach klingenden Wortlaut, und sie charakterisieren eine Verweisungsgeste, eine Verweisung auf 'Gemeintes', die aber als verwirrend, nutzlos und leer verworfen wird, weil sie keinen Aufweis des Bezugs (wo-hinüber?), keine tatsächliche Eindeutigkeit enthält. Das zweite Mal wird zu Beginn des Dialogs in der direkten Rede eines Anwesenden von Gleichnissen gesprochen; nicht jedoch 'über' Gleichnisse, nicht beschreibend, nicht urteilend, nicht einmal mit indikativischem Hinweis. Der hier Sprechende knüpft an die vorausgegangene Mitteilung an -daran des genaueren, daß ein Gebot, eine Aufforderung aus den Worten der Weisen — wenn auch nicht dem Sinne nach verstanden, so doch herausgehört worden ist. Darauf stützt sich die Entgegnung: 'Würdet ihr folgen . . .'-den Gleichnissen (statt: dem, was 'diese Gleichnisse sagen'), so heißt es hier in verkürzender, aber auch sinnschwerer Wendung. Im weiterführenden Satz wird das Wort 'Gleichnisse' in ungewöhnlicher, fremder, in änigmatischer Weise gebraucht. An dieser Stelle des Textes, die offenbar als besonders gewichtig aufzufassen nötig ist, da sie von einer möglichen Verbindung zwischen den zuvor als 'nur' gegensätzlich gedeuteten 'Dingen', Gleichnissen und täglichem Leben zu sprechen scheint, klingt die Rede dunkel - jedenfalls einer Auslegung bedürftig, die der Text selbst nicht expliziert. - Ein drittes Mal ist von Gleichnissen am Ende des Textes die Rede, nun nur noch in einer stark abbreviierten Form, in 'formelhaften Wendungen', die trotz gleichen Wortklangs zweierlei Bedeutung haben und antithetisch gegeneinanderstehen. Obwohl es für die Verwendung des Wortes 'Gleichnis' infolge des ihm jeweils zugehörenden Kontextes beobachtbar sein mag, daß sie von Mal zu Mal konkreter, singulärer und (das gilt, wie zu erläutern sein wird, auch für die letzte formelhafte Wendung) 'inhaltsreicher' geworden, auch fester an die partnerhafte Kommunikationsweise gebunden ist, so ist zugleich kaum zweifelhaft, daß der Grad der Dunkelheit der hier explizit gebotenen Rede vom Beginn zum Textende hin zugenommen hat und in eben dem Maße dem Verständnis gesteigerte, wenn nicht gar unübersteigliche Schwierigkeiten bietet. Hat also der Text als ganzer keine andere Bedeutung, - erfüllt er keine andere Funktion als die, die Dunkelheit der Rede von Gleichnissen 304 wahrnehmen zu lassen ? Soll er den Leser dazu führen, die Abwehrgeste nun für sich selber zu wiederholen - mit der vielleicht gesteigerten Tautologie, daß Unverstehbares eben unverstehbar ist? - III Nicht ohne Absicht ist jetzt das Wort 'unverstehbar' und nicht das des Textes 'unfaßbar' gebraucht worden. Es soll auf eine neue Überlegung weiterführen, auf ein Problem aufmerksam machen. Wie es wohl für jeden Vorgang der Rezeption von literarischen Texten gelten darf, daß der Lesende um einen angemessenen, auch seine Lesererwartung befriedigenden Zugang, um eine zureichende 'Realisation' oder 'Konkretisation'^35 im Rezipieren bemüht ist, so darf als nachgerade sicher angenommen werden, daß gerade der vorliegende Text den Leser nicht mit nur geringfügigem Anspruch entläßt, - daß er ihm den Eindruck und die 'Erwartung' vermittelt, die expressis verbis mitgeteilte Auskunft, „daß das Unfaßbare unfaßbar ist", dürfte dem Verstehensanspruch nicht schon genügen. Spürbar genug läßt dieser Text als „ein lückenlos strukturiertes Kunstgebilde der Sprache" ^36 eine Faszination entstehen, die gerade als eine Faszination des 'Logischen', das in der - bei allen Aussparungen -strengen Fügung denotativer Einzelelemente existiert, zur rationalen Entschlüsselung auffordert; oder, wenn es anderer Formulierung bedarf: der Text bietet in seiner Sprachgebärde und einzelnen seiner Mitteilungsformen eben gerade solche einer rational-expliziten Dechiffrierung widerstrebenden Elemente, daß der Leser nach Anhaltspunkten und deiktischen Besonderheiten für das in der sprachlichen Denotation Enthaltene und Vorenthaltene suchen und sich zu genaueren Erwägungen bereitfinden muß. Ein derartiges Reflektieren hebt im Prozeß des ^35 Diese Begriffe werden hier zunächst in der allgemeinen, noch nicht (wie später in dieser Auslegung) speziell auf das Verstehen von 'Gleichnissen' bezogenen Bedeutung verwendet - so wie sie von Roman Ingarden in seiner Erörterung »Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks« (Tübingen 1968) gebraucht werden. ^36 Beißner, a. a. O., S. 42. Erzähllogik u. Verstehensprozeß in Kafkas >Von den Gleichnissen« 305 Textlesens sehr bald an. Der vorbereitungslose Erzählanfang benennt ja nicht nur die Meinung einer Gruppe von 'Vielen', eine plausibel klingende communis opinio, sondern bietet mit dem schon im ersten Satzgefüge auftauchenden 'wir' dem Leser eine Brücke, mit dem hier Sprechenden zu denken - die ausgesagte Meinung mit der eigenen zu verbinden.^37 Dieser mögliche Identifikationsprozeß reicht höchstens bis zum Ende des ersten Erzählteils - wird mit Beginn des Dialogteils vor eine neuartige Orientierung geführt, wobei nicht auszuschließen ist, daß die Überzeugungskraft der bisherigen, so plausiblen Redemitteilung weiterwirkt und den Leser dazu veranlaßt, den abwehrenden, den 'Sinn' von Gleichnissen bezweifelnden Standpunkt zu übernehmen und auch angesichts der dialogisch sich fortsetzenden Textaussage zu verteidigen und zu vertreten. Denn das 'wir' des ersten Erzählteils birgt zugleich auch diese Möglichkeit: es nimmt den die 'Identifikationsbrücke' betretenden Leser mit hinein in die 'Selbstverständlichkeit' des Redens von Gleichnissen, - überträgt auf ihn den gewissen Bekanntheits- oder Vertrautheitsgrad der Erfahrung, von der hier die Rede ist. Für den Leser, der die Identifikation mit dem 'wir' nicht vollzieht, der mit dem Bewußtsein von der Fiktionalität des Erzählten den Leser-Abstand wahrt, geschieht - wenn auch nur in einem Punkt und möglicherweise unter anderen Vorzeichen - Vergleichbares: er wird bei der Aufnahme des Satzmitteilungssinnes zu einem Verständnis des Worts 'Gleichnis' herausgefordert; das Wort wird aus dem zunächst allgemeinen Sprach- und Vorverständnis oder Gedächtnisvorrat abgerufen und 'zitiert'; es beginnt, mit der Aktualisierung des ihm inhärenten semantischen Potentials, mit der von ihm angezeigten 'Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung' einen Erwartungshorizont für den Leseprozeß zu bestimmen, der auch darin seine Eigenart haben kann, daß er einer neuartigen Orientierung und Information durch den Text gewärtig ist, der aber auch darauf drängt, das Gesagte, die gesamte Mittei- ^37 Diese Möglichkeit entspricht den Besonderheiten des Kafkaschen Erzähl-süls, die gerade F. Beißner (a. a. O.) eigens betont hat: „Kafka läßt dem Erzähler keinen Raum neben oder über den Gestalten, keinen Abstand von dem Vorgang ... Es gibt nur den sich selbst . . . erzählenden Vorgang: daher beim Leser das Gefühl der Unausweichlichkeit . . ." (S. 35). „Kafka verwandelt . . . nicht nur sich, sondern auch den Leser in die Hauptgestalt" (S. 36). 306 lungsfolge des Textes möchte sich als transparent und in begreifbarer Weise in allen Teilen als kohärent erweisen. Dem diesen Text aufnehmenden Leser wird aber in der hier erzählten Folge von Aussagen deutlich, daß mit dem Wort 'Gleichnis' nur erst ein Code-Wort gegeben ist, dem unterschiedliche Mitteilungshinweise zugeordnet sind - mit dem divergierende 'Nachrichten' in der Rede^38, im Textganzen aufeinandertreffen. Der Erzähltext läßt eine Situation wahrnehmen, in der zwei 'Positionen' gegeneinanderstehen; es scheint indes, daß diese Positionen nicht völlig unvereinbar bleiben müßten; darf es doch als eine wichtige Voraussetzung für das 'Problem' des Textes gelten, daß auch die sich wehrenden 'Vielen' Gleichnisse kennen; sie leugnen weder deren Existenz noch Eigenart, auch wenn der 'Signalwert' des von ihnen gebrauchten Worts 'Gleichnis' einer bestimmten, eingeschränkten Ausfegung unterworfen bleibt.^39 Die Positionen sind nicht unbedingt in einem stren- ^38 Zur Terminologie vgl. A. Martinet, Grundzüge der Allgemeinen Sprachwissenschaft, 4. Aufl., Stuttgart/Köln/Mainz 1970, S. 33. ^39 Die Kontextdeterminationen, die Auslegungsweisen des Worts 'Gleichnis' erscheinen nicht als 'paradigmatisch' voneinander ausgeschlossen; die Auslegungen, die 'Positionen' stehen nicht schon in einem strengen 'Oppositionsverhältnis' zueinander; sie beziehen sich allerdings auf verschiedene Erfahrungsbereiche. Da es als das im Text angezeigte Problem gelten muß (wie es auch mit dem gewichtigen Mittelsatz: 'Würdet ihr folgen . . .' umschrieben wird), diese Erfahrungsbereiche zu erkennen und zu- oder ineinander zu fügen, ist es unangemessen, den Gegensatz, den der Text zu bedenken aufgibt, ins 'Absolute' zu verschärfen — wie es mit den folgenden Formulierungen von Allemann nahegelegt wird: „Das Gleichnis steht ihr [der vergänglichen.Wirklichkeit der täglichen Mühsal] vielmehr immer schon als absoluter Gegensatz in absoluter Unzugänglichkeit gegenüber" (a. a. O., S. 104); und „es gibt vom Boden der alltäglichen Wirklichkeit aus keinen Zugang zu den Gleichnissen" (a. a. O., S. 104). Ein solcher - auch von anderen Interpreten vorgetragener - Gedanke führt zu Auffassungen von der grundsätzlichen Trennung oder Trennbarkeit von 'Wirklichkeit', 'Alltag' und 'Sinn'; dies aber sind Auffassungen, die nicht zuletzt-und dies ist kein Zusatz- oder Scheinargument — von gerade der chassidischen Vorstellungswelt streng und klar zurückgewiesen werden. Martin Buber betont in seinen Schriften über den Chassidismus oft und unmißverständlich gerade den Gedanken von der Bedeutung des Alltags, der Welt- 307 gen, sich ausschließenden Gegensatz - das heißt: einem wirklichen 'Oppositionsverhältnis' zu denken, sondern unterscheiden sich vornehmlich nach interpretativen Gesichtspunkten auf dem Grunde eines gleichen Problems. So obliegt es dem Leser wohl, einen möglichen, dem 'Wortlaut' zugrundeliegenden oder ihn übergreifenden Gedankenzusammenhang aufzufinden, von dem her sich die Intentionalität des Textganzen erschließen ließe. Ein solcher Versuch bietet sich um so dringlicher an, als im ersten Textabschnitt offenbar eine Reihe wichtiger Informationen zum Wort 'Gleichnis' gegeben werden und dort, wo im zweiten Textabschnitt in änigmatischer, verhüllter Weise von Gleichnissen die Rede ist, diese Informationen nicht bestritten, sondern 'aufgenommen' erscheinen, so daß sich hier ein antwortendes, 'weitergreifendes' Verständnis bekundet, das die Position der Vielen mitversteht. - Damit ist gesagt, daß der Leser für seinen Verstehensprozeß das Gesamtfeld interpretativer Gesichtspunkte aufzudecken suchen muß, - daß er die der einen wie der anderen Position nicht auslassen darf und dementsprechend alle für sein Code-Wort gebotenen Kontextdeterminationen wägend zu befragen hat. Da es sich vorerst um ein 'Probandum' möglichen Leserverstehens handeln soll, wird für das Wort 'Gleichnis' zunächst die - gewiß wenig genaue - Wendung 'sinnhafte Rede' eingesetzt. Der Versuch zielt darauf, möglichst viel des Textes zu erhellen, seine Logizität und Kohärenz aufzuzeigen - seines intentionalen Zusammenhangs ansichtig zu werden. So mag denn das Tentamen lauten: Der im ersten Textabschnitt zu imaginierende Redende handelt von der Eigenart der Gleichnisse deshalb ex negativo, weil er sie nur als einen 'Wortlaut' hört, der ihm keinen Sinn und Zweck von tatsächlicher Eindeutigkeit und Anwendbarkeit angibt. Da er ein anderes 'Meinen' sol- zuwendung, der konkreten Einzeldinge - die „antiasketische Tendenz" (a. a. O., S. 810) der chassidischen Glaubenslehre und Frömmigkeitshaltung: die „Erneuerung der Beziehung zur Wirklichkeit" (S. 801). Es gelte, „den Umgang mit allen Dingen und Wesen im Leben des Alltags zu heiligen" (S. 802). „Es gilt nicht ein neues, seiner Materie nach sakrales oder mystisches Tun zu gewinnen; es gilt, das einem Zugewiesene, das Gewohnte und Selbstverständliche in seiner Wahrheit und in seinem Sinn, ... zu tun" (S. 812) u. ö. 308 eher Worte einräumt, aber eines damit angesprochenen Sinnes entbehrt, sich somit zu „nichts" geführt sieht, bezeichnet er ein so Gemeintes als „unfaßbar". Dem vom Problem sinnhafter Rede ausgehenden Leser fallen besondere Genauigkeiten in Wortwahl und Wortfügungen der hier mitgeteilten Aussage ins Auge: zur generalisierenden Sprechweise - in 'Viele'und'wir'-gehört das gesteigert anonyme'man'; es gehören aber auch die Wendungen „sagenhaftes Drüben" und „das Unfaßbare" zu dieser Sprechweise. Sie sind konventionalisierter, hier pejorativ verwendeter Ausdruck, klischeehaft rhetorisiert; sind im Grunde verblaßte, abgesunkene, unmerklich gewordene Metaphern. Nach eingeschliffenem, zur Trivialform neigendem Gebrauch meint 'sagenhaftes Drüben' hier 'chimärisches Drüben', und doch ließe sich der Kern der Metapher mit willentlich anderem Sprachsinn noch hervorheben: ein aus der 'Sage' hervorgehendes, der Sprache aufruhendes, von ihr 'erzeugtes' Drüben. Ähnlich, sogar um vieles deutlicher und hier im semantischen Umfeld von beachtenswerter Schärfe ist es mit 'unfaßbar': in der konventionalisierten Form steht es für 'unverstehbar', 'dunkel', 'unglaublich' - und spricht nach seinem Wortkern doch von 'sinnenhaftem Greifen', 'Hand-zugreifen', 'packen'; es enthält also einen Sinn, der den Forderungen täglichen Lebens entspricht. Das empirisch orientierte Verhalten, das praktisch Verwendbares aus dem Redewortlaut einfordert, spricht damit offenbar zu Recht von der 'Unfaßbarkeit' dessen, was in 'sinnhafter Rede' dem empirisch nutzbar zu machenden 'Zugreifen' sich als unverfügbar, nicht handhabbar entzieht. - Bemerkenswert sind nicht allein diese semantischen Einzelheiten als solche, sondern die Art von Genauigkeit in der Textaussage, die mit den Wortverwendungen einen Sprecherstandpunkt bestätigt oder enthüllt, der bestimmte Redegewohnheiten, abgesunkene metaphorische Formeln bevorzugt und damit eine Art rhetorischen Redens von nur vermeintlichem und trivialisiertem Wirklichkeitsbezug verrät. - Die im Dialogteil folgende Entgegnung gibt, wie schon angemerkt, keine Erklärung oder deskriptive Aussage über das, was Gleichnisse sind, sein sollen oder über die Art ihres Wortlauts, sondern einen auf den Dialogpartner bezogenen Hinweis auf die mögliche Wirkung von befolgter, realisierter Gleichnisrede. Da es sich um einen aussparend-andeutenden Hinweis und ein im Wortlaut selbst nicht anzutreffendes Problem handelt, läßt sich zunächst nur eine amplifizierende Um- 309 Schreibung geben: Würdet ihr dem in Gleichnissen Gesagten - sie als sinnhafte Rede verstehend - folgen, dann wäret ihr selbst zu der Art von 'etwas Sinnhaftem', von sinnhafter Existenzweise geworden und wäret in dieser Art zu sein („damit schon") frei von der je wieder neuen („täglichen"), euch von 'faßbar' scheinenden 'Dingen' sich herleitenden Mühe. - Da es sich bei diesen Worten um vergleichende Andeutung, auch um deiktische und appellative Rede handelt, wird die nachfolgende Kennzeichnung, daß dies 'ein Gleichnis sei', bestätigt - in einer Redeweise („du hast gewonnen"), die allerdings nicht das von dem hier Redenden inhaltlich Gemeinte, - nicht die vorher genannte Deutung von Gleichnis ('nur Gleichnis', das „hier gar nichts helfen kann") einzuschließen braucht. Am Schluß des Textes erscheinen die beiden identisch lautenden Wendungen „im Gleichnis" in der Weise gegeneinandergestellt, daß die erste wiederum als gängige, konventionalisierte Formel erkennbar ist - also des Sinnes: 'nicht eigentlich', nicht realiter, 'nur bildlich genommen', womit, wie die adversative Anknüpfung sagt, das 'Gewonnen-Haben' bezweifelt und als von eingeschränkter, unzulänglicher, nur schemenhafter Bedeutung bedauert wird. - Diesen Bezug verneint die Antwort: der Ausdruck 'gewonnen' sei 'eigentlich', sei 'ernst', 'proprie' zu nehmen. Da aber nicht mit einem einfachen 'wirklich' geantwortet wird - da zudem der Ausdruck 'in Wirklichkeit' als Gegensatz zu 'im Gleichnis' betont ist, taucht hier ein anderer Bezug, ein anderer Gedanke auf. Es bietet sich, da anstelle von 'wirklich' als Trivialformel der 'So-ist-es'-Bestätigung hier die umständlichere präpositionale Wendung mit der Lokativ-Bedeutung steht, eine konkrete, bestimmtere Vorstellung an: 'im Bereich der Wirklichkeit'; da sich damit überdies eine dem Grammatischen inhärente besondere Kontextgenauigkeit verbindet (ein Dativ neben Partizipium Perfekti bezeichnet meist „ein Ergebnis . . ., dessen Wirkung fortdauert"^40), ließe sich der hier enthaltene Gedanke wie folgt formulieren: 'du hast im Bereich der Wirklichkeit, in der du lebst und aus der du urteilst, gewonnen'; und er erlaubt die Fortsetzung: 'im Bereich des Gleichnisses als eines sinnhaften Zusammenhangs und Existierens hast du verloren'. Anders gewendet: der 'andere' ist in die von ihm erfragte und bezweifelte Dimension dessen, ^40 Hermann Paul, Deutsche Grammatik, Bd. IV, Halle/Saale 1920, S. 12. 310 311 was er selbst mit dem Wort 'Gleichnis' bezeichnet, nicht hineingelangt. Die Erfahrung, daß Gleichnisse ihm nichts in konkretem Sinne sagen, hat sich bestätigt; seine letzte Bemerkung „nur im Gleichnis" weist auf den ihm mangelnden 'Sinn', auf nur ein Wortlautverständnis, wie es schon zu Beginn des Textes augenfällig ist.^41 Der Versuch dieser paraphrasierenden Erläuterung erlaubt, einige Beobachtungen zu resümieren: 1. Der Text gibt mit der erzählten Rede nicht allein zwei Positionen zu erkennen und zwei divergierende Auslegungen oder 'Nachrichten' zum Code-Wort 'Gleichnis', sondern läßt diese Divergenz auch - übereinstimmend mit der Reihe implizierter interpretativer Gesichtspunkte - in der Redeweise, in der Sprachart, im Verhältnis der hier Redenden zur Sprache wahrnehmen. Die eine der Redeweisen, deren Tendenz als Plausibilität und Enthüllung zu bezeichnen ist, zeigt .signifikante Züge im gewöhnlichen, verfremdungsfreien Wortgebrauch und Satzbau, zeigt damit auch konventionalisierte, dem Trivialen zuneigende klischeehaft-rhetorisierte Wendungen, deren metaphorische Nuancen bedeutungs- und reflexionslos eingeebnet erscheinen. Die Tendenz der anderen Redeweise darf als die der Verhüllung, aber auch als die der Konkretisation beschrieben werden; ihre Merkmale liegen in der 'bezogenen', existentielle und anschauungsgeleitete Vorstellungen intendierenden, komplexeren Wortwahl und Satzfügungsform. 2. Beiden Redeweisen ist nicht nur das Code-Wort gemeinsam, sondern auch - obschon unter andersartigen interpretativen Voraussetzungen – der Umstand, daß ihrer Aussage eine Grenze gesetzt ist. Keine der Redemitteilungen gibt eine voll explizite Erklärung darüber, was ein Gleichnis sei. Der Text als ganzer deutet etwas davon an, macht aber mit gediegener Strenge vor einer solchen Aussage halt. Er umkreist vielmehr das Problem des Verstehens von Gleichnissen. ^41 Es ist hier ein »Wortlaut-Hören« gemeint, dem kein 'Geschehen* folgt; mit solchen Worten ist ein im Problemsinn ähnlicher Gegensatz angedeutet in dem 1918 entstandenen Text Kafkas aus dem »Vierten Oktavheft«: hier wird in einem Dialog davon gesprochen, es sei „nicht möglich . . ., daß du dieses Gebot nur hörst und sonst nichts geschieht". Franz Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, Frankfurt a. M. 1966, S. 110/111. 3. Das Leseverstehen, das aus den unterschiedlichen Hinweisen und Sprachformen des Textes möglichst viele Informationen aufnimmt, wird dieses Problems inne - und zwar dergestalt, daß es mit einer weiter ausgreifenden, wenn auch noch des näheren unbestimmten Intention für das Code-Wort einen Gedankenzusammenhang zu entwerfen sich anschickt, der die Gesamtlinie des Textes, seine logische, in sich kohärente Struktur wahrzunehmen erlaubt. Das aufgrund der eigenen Intention -: Gleichnis sei sinnhafte, appellative und deiktische Rede -vorgehende Leseverstehen erweist sich als konsumtives Moment für den Problemzusammenhang des Textes. Dieser Umstand, daß das Leserverstehen in hohem, noch der näheren Bestimmung bedürftigem Grade konstitutive Bedeutung für die strukturelle Einheit des Erzählganzen besitzt, ist gravierend auch für die Überlegungen, die dem Genus des vorliegenden Textes gelten. Sie erst können den Gedankengang, der dem Code-Wort gilt, vervollständigen; das heißt: mit der genaueren Wahrnehmung der die Erzählgattung tragenden Bedingungen wird die Intentionalität dieser Dichtung erst zur Gänze erkennbar. IV Es ist möglich und nützlich, eine Sonderfrage zur näheren Bestimmung der Erzählgattung zu streifen, die auch die Klärung von Art und Bedeutung des Leserverstehens betrifft.^42 Es gibt in einigen 'einfachen Formen' der Erzählgattung ein jeweils spezifisches „Verhältnis zur Frage"^43. Die Form z. B. des Kasus zeigt eine Eigentümlichkeit, die A. Jolles dahin beschreibt, „daß sie zwar die Frage stellt, aber die Antwort nicht geben kann, daß sie uns die Pflicht ^42 Überlegungen, die die Erzählform des 'Kasus' vom gleichnishaften Erzählen abgrenzen, scheinen auch darum angebracht, da es Hinweise gibt, die das moderne parabolische Erzählen in die Nähe des 'Kasus' rücken; so spricht C. Heselhaus (Artikel .Parabel« in: RL, 2. Aufl., 3. Bd., S. 10) davon, es gebe die „phänomenologische Kasus-Parabel des 20. Jahrhunderts"; außerdem weist Heselhaus in seinem Aufsatz .Kafkas Erzählformen« (DVjs, 26, 1952, S. 371/72 [s. in diesem Band S. 55-83] auf das „kasuistische Denkspielen" als eine Voraussetzung für Kafkas literarische Formen hin. ^43 Andre Jolles, Einfache Formen, 2. Aufl., Tübingen 1958, S. 190. 312 der Entscheidung auferlegt, aber die Entscheidung selbst nicht enthält -was sich in ihr verwirklicht, ist das Wägen, aber nicht das Resultat des Wagens" ^44. Es mag auf den ersten Blick so scheinen, als träfe gerade dies für den Kafka-Text zu; doch die angeführte Formulierung weist auch auf einen gravierenden Unterschied. Er ist mit dem Begriff 'Entscheidung' angezeigt, der der „Welt der Normen"^44 zugehört und einen „Maßstab bei der Bewertung von Handlungen" ^45 vorauszusetzen nötigt. Mag ein 'Kasus' dadurch charakterisiert sein, daß er 'unentscheidbar', daß er nur 'wägbar' ist,^46 so steht doch fest, „diese Erwägung enthält die Frage: wo liegt das Gewicht, nach welcher Norm ist zu werten?" ^47. Das heißt, der 'Kasus' muß hervorgehen „aus einer solchen Welt, in der sich das Leben als ein nach Normen Wertbares und Beurteilbares vollzieht"^48. Diese Voraussetzung ist für Kafkas Text nicht gegeben - auch darin nicht, daß der Leser die im Text erkennbaren Positionen und deren interpretative Gesichtspunkte für das Wort 'Gleichnis' zu erwägen sucht. Dieser Verstehensversuch ist, da er nicht auf 'paradigmatische' Vorgegebenheiten, nicht auf ein sprachlich voll expliziertes Exemplum zurückgreifen kann, charakterisierbar als eben ein konstitutives Moment der Art, das im Leseprozeß selbst zum Tragen kommen muß; das heißt: bestimmte Möglichkeiten des Verstehens können sich erst als mehr oder weniger zureichende Realisationsformen der Erzählintention erweisen. Für die Struktur und Bedeutung von Gleichnisreden sind Probleme und Zusammenhänge dieser Art - sensu stricto - namhaft zu machen. Sie lassen sich mit Hilfe der Begriffe, die seit langem zur Kennzeichnung der generischen Besonderheiten eingeführt und erprobt worden sind^49, präzisieren. In der Strukturbeschreibung von Gleichnissen wird eine „Bildhälfte" von einer „Sachhälfte" unterschieden; mit Bildhälfte wird ^44 Ebd., S. 191. ^45 Ebd., S. 190. ^46 Ebd., S. 191: „Und so ist es dann auch die Eigentümlichkeit des Kasus, daß er dort aufhört, ganz er selbst zu sein, wo durch eine positive Entscheidung die Pflicht der Entscheidung aufgehoben wird." ^47 Ebd., S. 190. ^48 Ebd., S. 193. ^49 Sie sind ausführlich dargelegt bei A. Jülicher: vgl. oben Fußnote 24. Erzähllogik u. Verstehensprozeß in Kafkas >Von den GIeichnissen< 313 das bezeichnet, „was erzählt wird" - mit Sachhälfte das, „was das Erzählte meint" ^so: der 'Gleichnissinn'. Damit ist, um es eigens hervorzuheben, stets auch die besondere Verbindung zwischen beiden zu denken nötig: „Die Bildhälfte muß sich auf die Sachhälfte beziehen lassen" ^5I; so sind denn diese Begriffe, wie mit Recht betont worden ist, „auf die Blickrichtung des Auslegers zugeschnitten und nur in dieser sinnvoll" «. Diese Unterscheidungsbegriffe machen klar, daß es ungemäß wäre, wollte man sie auf einen 'Teil' der Kafkaschen Erzählung -einen der Erzählabschnitte oder eine der Redeweisen - anwenden. Die Erzählung als ganze ist die 'Bildhälfte' des hier vorliegenden Gleichnisses. Was erzählt wird, ist eine Unterredung, die als solche einfach dargeboten und anschaulich vorstellbar wird, obschon deren Problematik oder 'Gegenstand' subtil genug ist: die „Verstehbarkeit der Gleichnisse"^53. Dabei verschärft sich diese in die Bildhälfte, in die Gesamterzählung einbezogene Thematik insofern zum 'Problem', da die Verstehbarkeit von Gleichnissen gerade darin sich ausweisen soll, daß sie als deren Verwirklichung, als die Verwirklichung des Gleichnis«'«»« erscheinen müßte und als solche angesprochen wird. Es ist an dieser Stelle nicht überflüssig anzumerken, daß das Erzählte nicht darum schon als 'Bildhälfte' zu bezeichnen ist, weil ihm das in vielen Gleichnisreden mit den Einleitungs- oder Schlußformeln verbundene 'so - wie' fehlt; solche Wendungen bedeuten auch sonst nicht mehr als einen Vergleichshinweis, der einen Verstehensschlüssel darreicht, nicht aber schon das Verstehen selbst, noch weniger die Realisation des Gemeinten darstellt. Das weist darauf, daß das, was 'Sachhälfte' als das von Gleichnissen Gemeinte genannt wird, nicht schon als explizierte Aussage der Texte existiert, sondern - generell nach den Bedingungen der Gattung - dem Hörer-Verstehen anheimgestellt, ihm zur Realisation überantwortet wird. ^50 Philippi (a. a. O.,S. 309) unter Berufung auf Jülicher und Linnemann (vgl. Fußnote 52). ^51 Philippi, a. a. O., S. 309. ^52 Eta Linnemann, Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, 2. Aufl., Göttingen, 1962, S. 33. ^53 Philippi, a. a. O., S. 317. 314 Obwohl in Kafkas Text das Problem der Verstehbarkeit von Gleichnissen thematisiert wird, wäre es doch irreführend zu sagen, „Bildhälfte und Sachhälfte [fallen] im Ganzen des Textes zusammen" ^54; denn, und wiederum ist auf die bestimmenden Gattungsmerkmale hinzuweisen, wenn Bildhälfte und Sachhälfte zusammenfallen, „hätte der Erzähler damit auf die Kraft der Analogie verzichtet" und das Erzählte „um die gewünschte Wirkung gebracht"^55; das heißt, es wäre der Übergang in ein anderes Rede- oder Erzählgenus vollzogen. Es muß vielmehr auch für Kafkas Text eine Beziehung herzustellen sein zwischen Bildhälfte und Sachhälfte, - zwischen Erzähltem und Intentionalem; und es gibt Anhaltspunkte für solche Beziehungsmöglichkeit im Text. In der erzählten Unterredung über die Verstehbarkeit von Gleichnissen erscheint dies Thema nicht nur vielfach reflektiert, die deiktischen Elemente in Umschreibung, Trage und Antwort deuten auch auf das Problem der Sinnverwirklichung von Gleichnisrede vor allem mit den als appellativ und postulativ erkennbaren Worten: 'Gehe hinüber' - und 'würdet ihr folgen'. - Hier liegt in der Tat ein „Angelpunkt der Reflexion"^56; und trotz der Offenheit und Unbestimmtheit der Worte liegt in ihnen mehr als nur ein „völlig formalisierter Gehalt der Aufforderung"^57. Für die dargestellte Unterredung liegt hier zunächst ein deutlich hervorgehobenes, wichtiges -von beiden Redepartnern auch als solches aufgefaßtes - Hinweiszeichen auf den Vollzugs-charakter des mit Gleichnissen Gemeinten. - Für den aufnehmenden Leser ist damit auch ein Analogon, ein denkbares 'tertium comparationis' angezeigt, das für das „Gesamtverständnis", das heißt: für die herzustellende Beziehung zwischen Sachhälfte und Bildhälfte von Bedeu- ^54 Ebd., S. 317; es sei denn, Philippis Hinweis: sie „fallen scheinbar . . . zusammen, indem der Gegensatz als Problem thematisiert wird", will mehr sagen, als daß es sich um ein 'nur theoretisches', ein 'Reflexionsproblem' (darauf gründet sich seine Deutung; vgl. unten) handle. ^55 Linnemann, a. a. O., S. 36. ^56 Philippi, a. a. O., S. 317. Bei Linnemann heißt es allgemein zur Gleichnisauslegung: „Dieser Vergleichspunkt, das 'tertium comparationis' ist der Angelpunkt, der das Gleichnis und die Sache, auf die es gemünzt ist, . . . verbindet." (a. a. O., S. 32) ^57 Philippi, a. a. O., S. 317. 315 tung sein kann - wie denn solche Beziehung, ein solches „Verbindende nur ein erschließbarer Grundzug der Bildhälfte sein" kann^58. Das heißt des genaueren: der Aufnehmende liest im Wortlaut der hier erzählten Geschichte einen Hinweis, dessen mehrdeutig-besonderer Gehalt sein Textverständnis zunächst allgemein, das heißt: auf der -gleichsam ersten - Ebene der informativen Sprachmitteilung beschäftigen muß, es aber auch in erhöhtem Maße - auf einer gleichsam zweiten Ebene - herausfordert, wenn er den Text selbst und als ganzen als 'gleichnishafte Rede' zu verstehen beginnt-wenn er den 'Gleichnissinn' (die Sachhälfte) des hier Erzählten mitbedenkt. Mit nochmals anderen, zugeschärfteren Worten: hier wird eine besondere Art des Verstehens, ein Verstehensprozeß oder -akt des Lesers herausgefordert, der dem Text als Gleichnis zu folgen imstande und angemessen wäre. Wenn generell über „Grundsätzliches zur Gleichnisauslegung" ^5y gesagt werden kann, es dürfe als eine der wichtigsten Funktionen von der -der „Kraft der Sprache"^60 anvertrauten - Gleichnisrede gelten, daß sie „etwas als etwas anzusprechen" vermag^61, so läßt sich das für den Kafka-Text konkretisieren: hier wird das Gleichnis als Gleichnis angesprochen - dergestalt, daß der Gleichnissinn« (Sachhälfte) als das im Wortlaut mein Gegebene, aber in dessen Beziehungsumfeld als Analogie Enthaltene nun zur 'Sache' des Verstehens werden müßte-genauer: eines Verstehens/>rozMSM, als etwas, das 'in actu', als 'praktischer' Vorgang einzusetzen hat; denn die Brücke des Analogieschlusses, der 'denkbaren' Beziehung muß zum Weg der Erfahrung sprachverstehend-sinnhaften Vollzugs gemacht werden. Für den in seinen Sprachzeichen als Gleichnis erscheinenden Text wird der Gleichnissinn die Intentionalität des Gesagten, die Sachhälfte diesem Verstehensprozeß als einem Akt der Realisation übertragen. Das meint nichts anderes, als daß das Textverständnis sich hier als ein Sprachverstehen besonderen Grades zu realisieren vermöchte - als, und das liegt in der besonderen Signatur dieses Textes: ein Verständnis hic et nunc in litteris, nicht aber extra litteras, so als gelte es einen gesonderten, ^58 Ebd., S. 309. ^59 Linnemann, a. a. O.; Überschrift des ersten Buch-Abschnitts. ^60 Ebd., S. 40. ^61 Ebd., S. 36. 316 317 herauslösbaren, vielleicht moralischen oder religiösen Inhalt in eine spätere Tat umzusetzen, 'irgendwo' in der Zukunft zu realisieren.^62 Eine solche Problemkonstellation ist darin angezeigt und davon getragen, daß Kafkas Text nicht allein den Erfordernissen der Gattung gemäß von größter Einfachheit in Aufbau, Wortwahl und der entworfenen Redesituation, nicht nur in potenzierter Form anonym und allgemein in der Erzähldarstellung ist, sondern daß dieser Text-anders als das oben angemerkte rabbinische Gleichnis - zu seinem Sujet, zum Thema und 'Bildprojekt' eben ein Gleichnis in litteris gewählt hat; daß er es in seiner Buchstaben-, Rede- und Hinweisfolge, in der sprachlichen Darstellung selbst vor-stellt und als Hör- und Verstehensweise umschreibt. Diese Besonderheit wird mit dem Blick auf das Rabbinen-Gleichnis vom Gleichnis nochmals präzise wahrnehmbar: dieses verdeutlicht Wert und Wirkung von Gleichnissen mit dem Bild vom Lampendocht, der helfen könne, eine kostbare Perle zu finden; hier können und sollen Gleichnisse als Mittel und Weg verstanden werden, um „zum Verständnis der Worte der Tora zu gelangen" ^63. Der Kafka-Text erlegt auf, das Gleichnishafte selbst und nicht dessen Mittelbarkeit für etwas außerhalb seiner Liegendes zu verstehen. Damit verlangt der Text als Gleichnis von Gleichnissen eine Art des Verstehens, die sich als ein actus realisationis des intendierten, im Wortlaut des Erzählten enthaltenen, aber auch der wörtlichen 'Aussage' vorenthaltenen Sinnes erweisen kann. Das ist ein Sinn, der nicht auf 'irgendein Jenseitiges', auf nichts außerhalb des vorliegenden literarischen, intentionalen 'Gegen- ^62 Der Gedanke, daß das, wovon der Text handle, einen 'utopischen' oder 'zukünftigen' Charakter zeige, ist in den bisherigen Interpretationen wiederholt - wenn auch unter verschiedenem Aspekt - betont worden. Allemann (a. a. O., S. 106): „Die Worte der Weisen tragen, weil sie gleichnishaft sind, utopischen Charakter." — Auch Arntzen hat „seinen Standpunkt dahingehend" präzisiert, die „Utopie" sei „hier als der Fluchtpunkt der Perspektive ... zu verstehen" (a. a. O., S. 113). Da Philippi für den „Gehalt des biblischen Redens in Parabeln" betont, erliege in der „Zukunft schaffenden Glaubensentscheidung", gilt ihm gerade dies als ein Kriterium dafür, daß Kafka diese Möglichkeit der Parabel nicht gefaßt habe: dieser Gehalt sei bei Kafka „außer Kraft gesetzt"; „diese Zukunft hat keinen Horizont" (a. a. O., S. 320). 63 Vgl. Fußnote 32. Standes' auszugreifen braucht, aber in litteris auf den actus intellectualis realisationis angewiesen ist. Es kommt nicht wenig darauf an, daß das Wort 'Realisation' sensu stricto genommen wird; erst dann tritt die volle Bedeutung des Textes, der ein Grundmuster sprachlich-literarischer, geistiger Erfahrung in sich trägt, zutage. Dies Problem gilt es nochmals zu unterstreichen. Was der Gleichnisrede in der bekanntesten ihrer Ausformungen als sprachliche Mitteilung im Bereich der religiösen oder sittlichen Unterweisung zugehört und sie in vollem Verstande charakterisiert: daß die in ein bildlich entsprechendes Wort oder eine anschaulich vorstellbare Erzählung gefaßte Mitteilung einen deiktischen und postulativen Sinn enthält und diesen dem Aufnehmenden zur Verwirklichung, zur Umsetzung in das eigene Tun, die eigene Existenzweise anheimstellt - als ein 'eigentliches' Sinnbegreifen auferlegt, — das ist ein signifikanter Zug auch des Kafka-Textes. Seine Besonderheit erscheint darin, daß die Realisation dessen, wovon der Text in der von ihm dargestellten Unterredung - unter doppeltem Aspekt - spricht: die Verstehbarkeit von Gleichnissen, nicht als 'Thema', 'Sujet' oder nur beredetes und nur reflektierbares Problem stehenbleiben muß, sondern in statu legendi eintreten, im Akt des Verstehens vollzogen werden kann. Die Bedingung einer solchen Verwirklichung des Gemeinten ist geboten mit eben dem Umstand, daß dieser Gleichnistext nicht mit Bildworten wie Acker und Weizen, Fischnetz oder Lampendocht auf ein sittliches Verhalten hinweist und zu dessen Verwirklichung in der ferneren Lebenshaltung oder Tätigkeit auffordert, sondern von Verstehensmöglichkeiten der Gleichnissprache, des Gleichnisses selbst handelt - von Möglichkeiten genau der Art, die schon dieser Gleichnistext für sich herauszufordern imstande ist: von einem Sprachverstehen, vom 'literarischen' Verstehen, das in dem gegenwärtigen Leseaugenblick in einen 'actus', in einen Status realisationis übergeben kann; es wäre der die 'Sachhälfte', der die in den Strukturzusammenhang als ein Relationsgefüge eingelassene Intentionalität, der den Gleichnisse;« aufnehmende und eben die vorliegende Gleichnisrede realisierende Vorgang. Es bedarf nur einer kurzen Erwähnung, daß der Text keinerlei Zwang zu einem solchen Verstehensprozeß ausübt; der Text bleibt offen und läßt frei auch zu der Art von Verstehen, das aus der Wortlaut- und Satzfolge nur die Teile aufnimmt, die als plausibel, denotativ und als direkte Mitteilungsform akzeptabel erscheinen. Daß diese 'Teile' mit dem Gesamttext einer Befragung oder Konfrontierung unterworfen werden, die dem Wortlautverständnis als Ärgernis oder 'Dunkelrede' erscheinen, wäre kaum zu leugnen; es entsteht ein Gegensatz, der sich der strukturellen, auch das Intentionale umgreifenden Einheit des Textes nicht einfügt.^64 Die Offenheit des Textes auch für diese Art der Rezeption läßt die oben erläuterte Besonderheit des Verstehensprozesses, der in actu et in litteris eine Realisation des Intentionalen, des Gleichnissinnes vollzieht, um so deutlicher auch als einen spontanen Vorgang literarisch-geistiger Erfahrung vor Augen treten. Es gibt Gelegenheit, diese mit dem Textauslegungsversuch verbundene These von der Erfahrungsqualität des aktualen Verstehensprozesses nochmals zu überprüfen und zum Schluß erneut zu explizieren. Ansätze zu einer ähnlichen Fragestellung sind auch in der Interpretation von Philippi zu erkennen. - Es bleibt zunächst im Bereich der im Text dargestellten Unterredung, wenn Philippi davon spricht, daß für die 'Vielen' mit der „Spannung des Paradoxes" eine „mögliche . . . Entscheidung" existiere^65; „zu wagen, was indirekt gefordert ist, und so den Unterschied im konkreten Tun aufzuheben, wäre die Realisierung" des Wortes der Weisen^66. Philippi spricht aber mit Deutlichkeit von einem „Problem auch für den Interpreten"; er könne das Paradox, das das Gleichnis Kafkas „ausdrücklich" thematisiere, zu lösen versuchen.^66 Für die Aufhebung des Gegensatzes sei „in der Gegenwart aber keine Basis - anders als beim Hörer Jesu" - gegeben/'^7 Wenn Philippi ^64 Unter dem Gesichtspunkt, daß „Gleichnisse als Sprachgeschehen" zu verstehen seien - als ein „Ereignis, das die Situation entscheidend verändert", hat Linnemann für die biblischen Gleichnisse betont, sie seien „auch dann von Bedeutung, wenn das Einverständnis nicht zustande kommt", es bleibe nicht „alles beim Alten". „Dadurch, daß [dem Angeredeten] eine echte Möglichkeit eröffnet wurde, seine bisherige Einstellung aufzugeben, hat diese ihre Selbstverständlichkeit verloren." „Das Beharren . . . wird zum ausdrücklichen Gegensatz" (a. a. O., S. 38). ^65 Philippi, a.a.O., S. 317. ^66 Ebd., S. 319. ^67 Ebd., S. 320. Erzähllogik u. Verstehensprozeß in Kafkas >Von den Gleichnissen« 319 betont, es sei „begreifbar am Ganzen dieser Geschichte . . ., daß man sie nicht mehr im Sinne eines übergreifenden, die Gegensätze aufhebenden Verständnisses interpretieren kann" ^68, so ist das für ihn darin begründet, daß bei Kafka ein „Verzicht auf eine bestimmbare Sachhälfte" ^68 zu beobachten wäre: „das Angebot der Weisen ist inhaltslos"^69, - „die Verheißung leer" ^70. Die Gegensätze würden aber auflösbar - „stellt man sich auch als Interpret - wie immer - auf den Boden der Weisen, macht man die eigene Existenz zum Gleichnis" - in einem „Entschluß zur Praxis": dem werde hier jedoch „kein theoretischer Boden bereitet"^71. Wenn es an einer Stelle so scheint, als nähere sich Philippi einer anderen Deutung mit dem Hinweis: „im Vollzug der Reflexion realisiert diese Sachhälfte sich", so meint er doch damit nur wieder eine 'leere Reflexion'; er meint „die Position dessen, dem nur die Reflexion über, aber nicht der 'transzendierende' Sprung in das Gleichnis als Möglichkeit gegeben ist".^72 Der Grund für diese Umkehr auf halbem Deutungswege liegt, wie mir scheint, darin, daß Philippi - entgegen seinen allgemeinen Ausführungen zur Parabel^73 - eine religiös-inhaltliche Aufforderung und Transzendenzvorstellung nach den Auslegungen neutestamentlicher Gleichnisse vor Augen hat, -Vorstellungen, denen gegenüber Kafkas Text den Ort und die Aussage des Glaubensverlusts ^74 anzuzeigen vermöchte. Die Auslegung, die ich zu geben versuche, sieht dagegen auch und ^68 Ebd., S. 321. ^69 Ebd., S. 320. ^70 Ebd., S. 317, ^71 Ebd., S. 321. ^72 Ebd., S. 321. ^73 „Die Gleichnisse . . . liefern aber das Ergebnis nicht expressis verbis mit" (ebd., S. 308). „Die Form realisiert sich erst im Hörer (oder Leser). . . . Erst wenn sie verstanden worden ist, ist sie ganz erfüllt." (ebd., S. 310) - Die Parabel brauche „Offenheit für die Freiheit des Verstehens . . ." (ebd., S. 310) u. a. ^74 Ebd.,S. 320. Philippi weist -anläßlich seiner Deutung, Kafkas Parabel sei Mittel nur der Reflexion (ein „Mittel, den Charakter der Parabel selbst herauszustellen", S. 321) - auf ein solches geschichtliches Problem auch mit den Worten hin: „hier könnte man fast an Kontrafaktur und Zurücknahme der christlichen Parabel denken, ihrer theologischen Erfülltheit" (S. 321). Aber gerade dem Begriff der „theologischen Erfülltheit" der biblischen 320 schon im Sprachverstehen einen Vollzugs- und Realisationszusammenhang. Für die Eigenart solchen Verstehens wäre wohl zu betonen, daß es — der zusätzlichen, moralischen oder religiösen Inhalte entbehrend -keinen Mangel an geistiger oder auch existentieller Bedeutung leiden muß (wäre doch die Möglichkeit der Kommunikation in Sprache keine der geringsten von solchen Bedeutungen) und daß es auch die im Text dargestellten und mit dem Text sich auftuenden Gegensätze nicht in harmloser Vereinfachung überspringt. Die Verstehensart, die dem Gleichnis»«« dieses Textes zu folgen, ihn zu realisieren sich anschickt, wird eines Problems inne, das ein Grundmuster geistiger Erfahrung birgt und im Modell sprachlich-literarischen Verstehens anzeigt. Daß dies in Kafkas Text erkennbare Grundmuster der Erfahrung von Sprachverstehen möglicherweise auch andersartige Vorstellungen und Inhaltsbilder für das 'transcende' zuläßt - für sie offen ist, soll nicht geleugnet sein. Das Ungewöhnliche aber, die außerordentliche Grundsignatur und künstlerisch-sprachliche Kraft des Textes >Von den Gleichnissen« er- Gleichnisse gegenüber ließe sich an die Erörterungen von Linnemann erinnern: L. weist auf den Unterschied hin, den die Gleichnisse „als geschriebener Bibeltext" (S. 49) schon „im Zusammenhang der Evangelien" (S. 53) und das heißt als „Auslegungen dieser Texte durch die kirchliche Überlieferung" (S. 53), „in der Urkirche" (S. 52) und mit „einem theologischen Motiv" (S. 51) besitzen. „Das Ärgernis, das Skandalon, das die Gleichnisse Jesu für seine ersten Hörer bedeuteten, geht verloren" (S. 50); sie werden zur „Offenbarungsrede des Christus über Gott und sein Reich", dienen „zu einer Belehrung oder Ermahnung, die schon auf diesem grundsätzlichen Einverständnis beruht" (S. 50). „Indem an die Stelle des tiefgreifenden Gegensatzes, über den hinweg das Gleichnis ursprünglich zum Einverständnis führen sollte, das grundsätzliche Einverständnis gesetzt wurde, änderten die Gleichnisse ihre Struktur." (S. 50/51) Wenn es denn — in theologicis - gelten möchte, daß aufgrund dieser Zusammenhänge „kritisch hinter die Evangelien zurück[zu]gehen" (ebd., S. 53) nötig ist, um in die ursprüngliche Gleichnisrede-Situation zurückzudenken, so wird die These Philippis von der „Zurücknahme" der „theologischen Erfülltheit" von Parabeln (oder Gleichnissen) bei Kafka höchst problematisch. Ohne spezielle theologische Problematik ließe sich sogar die These vertreten, daß Kafkas Gleichnis >Von den Gleichnissen/ - trotz und in all seiner subtilen geistigen Problematik — etwas von der Ursprünglichkeit, ja ein Grundmodell des Sprechens durch Gleichnisse zurückgewonnen, wieder freigelegt hat. 321 scheint nicht zuletzt darin, daß er in den Zeichen der Sprache auf eine 'nicht-aussagende', nicht allein denotative Weise eine Erfahrung und ein Verstehen von Sprach-Sinn anberaumt, -eine Verstehenserfahrung, die die Fragwürdigkeit, den Spannungsraum und die Erkenntnis von der 'Aussageverweigerung' in der Dimension expliziter Sprache durchschreiten muß. Es wird ein Verstehen von Sprachmitteilung anberaumt, das die Spannung zwischen Wortlaut und Gemeintem, zwischen Zeichen und Bezeichnetem, Redenden und Hörenden, aber auch zwischen litterae und realitas wahrnimmt und als eben ein Problem, eine Aufgabe des Sinnbegreifens auf sich nimmt. So scheint es begreifbar und auf das genaueste begründet, daß Kafkas Text nur von einer Unterredung und der in ihr offenbleibenden Frage erzählt, daß er nur ein Gleichnis darstellt. Und wiederum kann es deswegen als aufs genaueste begründet erscheinen, daß in der künstlerischen Fügung und im poetischen Wortgebrauch des Textes ein Problem des Sprachverstehens auch damit zum Vorschein kommt, daß in der einen Redeweise der hier dargestellten Unterredung das 'Wortlautverstehen' vorherrscht und eine konventionalisierte und nur dem Schein nach wirkhchkeilsorientierte Verwendung von Sprache bevorzugt ist, und daß davon eine andere Redeart sich unterscheidet mit einer ins Konkrete sich wendenden, eigensinnigen, komplexere Vorstellungen einbegreifenden Sprachweise. Es ist eben die Art von Differenz, sind die Arten des Sprachverstehens, von denen der Text mit seinem Thema, in seiner gleichnishaften 'Geschichte' im ganzen handelt. Auf solche Weise gleichnishaft von Gleichnissen zu sprechen und den Möglichkeiten von Sprache und Verstehen Raum zu geben - ihnen eine Realisation in litteris anheimzustellen, führt auch zu dem Bewußtsein hin, dem Sprachverstehen möchte eine Wirklichkeitsbedeutung zukommen -, wenn es denn in actu, in statu realisationis sich zu vollziehen vermag. Es ist vielleicht ein solches Bewußtsein, das Kafka zu schreiben veranlaßte: „es ist nicht mitteilbar, weil es nicht faßbar ist, und es drängt zur Mitteilung aus demselben Grunde."^75 75 Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, Frankfurt a. M. 1966, S. 1 M/l 12, vgl. Fußnote 41. In: BILLEN, JOSEF. DIE DEUTSCHE PARABEL ZUR THEORIE EINER MODERNEN ERZÄHLFORM. Darmstadt: WISSENSCHAFTLICHE BUCHGESELLSCHAFT, 1986. S. 292-321.