Zu Kafkas Lebzeiten erschienen im Druck nur die in dem 300-Seiten-Band vereinigten „Erzählungen" und das erste Kapitel des Amerika-Romans „Der Heizer". Alles übrige wurde, hauptsächlich von Max Brod, aus dem Nachlaß veröffentlicht. Dabei ist immer noch vieles, vor allem Briefe, ungedruckt. Anderes muß als verloren gelten, und einen großen Teil seiner Manuskripte hat Kafka selbst vernichtet oder gegen Ende seines Lebens unter seiner Aufsicht vernichten lassen. In dem Band mit dem Titel „Beschreibung eines Kampfes"^8 hat Max Brod unter Mitarbeit Heinz Politzers solche Stücke zusammengefaßt, die mehr oder weniger als vollendet gelten können. Darunter ist, hervorgezogen aus einem Konvolut loser Blätter, folgender Text, der im Spätherbst 1920 entstanden sein dürfte^9: Kleine Fabel „Ach", sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe." - „Du mußt nur die Laufrichtung ändern", sagte die Katze und fraß sie. Tierfiguren spielen in Kafkas Dichtungen eine wichtige Rolle. Dennoch hat er, von dieser einen Ausnahme abgesehen, keine eigentlichen Tierfabeln geschrieben, und selbst diese unterscheidet sich ganz wesentlich von anderen Vertretern ihrer Gattung. Das beginnt bei der Überschrift. Ein Fabeldichter würde kaum eines seiner Werke „Kleine Fabel" nennen, denn die Kürze versteht sich bei dieser Gattung von selbst. Kafka dagegen gibt durch den Titel zu verstehen, daß er sich hier für seinen dichterischen Einfall mehr zufällig der Form der Fabel bedient. Das Attribut „klein" zielt ironisch auf den Gegensatz zwischen der „kindlichen" Fabelweise und dem beklemmend ernsten Thema. Der Tradition gemäß hätte der Titel dieser Fabel zu lauten: Die Katze und die Maus. Trotz des sprichwörtlichen Mißverhältnisses zwischen den beiden Tieren ist dieses Paar in der überlieferten Fabeldichtung nur selten anzutreffen. Auch La Fontaine mußte sich erst von einem Prinzen bitten lassen, bevor er sich dazu bequemte, die Fabel „Le Vieux Chat et la Jeune Souris" zu dichten. Offenbar wirkte die absolute Überlegenheit der Katze über die Maus auf die Fabulisten wenig anregend, da sie dem Handlungsablauf kaum einen Spielraum ließ. Für Kafka aber war wohl gerade die Eindeutigkeit dieses Verhältnisses der Ausgangspunkt für seine „Kleine Fabel". Die Maus mit ihrer Angst und Schwäche, zwei sich gegenseitig bedingenden Eigenschaften, kann der Katze, die für die Vernichtung von Mäusen geradezu geschaffen zu sein scheint, überhaupt nicht entgehen. Im Gegensatz zu der üblichen Freude der Fabel an handgreiflichen Realien wird bei Kafka ein mehr surrealer, an Traumlandschaften Giorgio de Chiricos^10 erinnernder Schauplatz entworfen. Die Klagen der Maus sind an eine unbestimmte Instanz gerichtet; an ihrer Stelle erscheint am Schluß die allesverschlingende Katze, überraschend zwar, doch auch folgerichtig; denn, so gibt uns die Geschichte zu verstehen, wo Mäuse sind, kann die Katze nicht fehlen. Die Maus läuft um ihr Leben, wir erfahren damit im wahrsten Sinne des Wortes ihren „Lebenslauf"". Am Anfang steht, wie in der Parabel „Das nächste Dorf", eine allgemeine Feststellung, die ähnlich wie dort einer menschlichen Erfahrung entspricht: daß nämlich mit zunehmendem Alter die Möglichkeiten des einzelnen, sein Leben frei zu gestalten, immer mehr zusammenschrumpfen. Die Fabel drückt diesen komplexen Sachverhalt mit der parabolischen Formel aus: „die Welt wild enget mit jedem. Tag", also durch einen Vergleich mit räumlich-zeitlichen Umstandsbestimmungen. Der Beweis für diese Behauptung ist der Lebenslauf der Maus, den sie selbst bis zu dem Punkt beschreibt, an dem die Katze sie erhascht. Beklemmend ist, wie in dieser Beschreibung Raum und Zeit förmlich zusammenschnurren und bei der Falle enden. Zuerst „wai" die Welt so beängstigend breit; die Maus „lief" immer weiter und „sah" zu ihrem Glück „endlich" Mauern „in der Feine"; aber nun „eilen" (Präsens!) sie „so schnell" aufeinander zu (das Verhältnis hat sich umgekehrt; die Mauern können nun ihrerseits es kaum erwarten, sich zu treffen!), daß sie „schon im letzten Zimmer" ist (sie, die immer nur rannte, hat sich bereits von der Zeit überrennen lassen), und „dort im Winkel" sieht sie auch schon die Falle stehen: „in die ich laufe" (Futur!). Ihr Ende in der Falle wäre unabwendbar. Doch nun tritt eine pointierte Wendung zum - Schlimmeren ein. Die Katze, die wer weiß wie lange schon den „Lebenslauf" der Maus belauert hat, gibt dieser einen logisch unwiderlegbaren Rat, um sie im gleichen Augenblick aufzufressen. Wie in der berühmten Türhüterlegende „Vor dem Gesetz"^12 wird auch hier die erlösende Antwort erst gegeben, als sie keinen Sinn mehr hat. Doch im Vergleich zu dem Wort des Türhüters ist der Rat der Katze deutlich ironisch. Sie gibt ihn, ohne ihn ernst zu meinen. Doch konnte die Maus selbst ihn überhaupt ernst nehmen? Stand es noch in ihrer Macht, die Laufrichtung zu ändern? War ihr nicht vielmehr der Zuruf „die Laufrichtung ändern" ein völlig unverständliches Wort? Wurde die Maus getäuscht? Ist die Katze ein Sadist oder verkörpert sie das Böse in der Welt? Das alles sind unbeantwortbare Fragen, man sollte sie deshalb auch gar nicht ernsthaft stellen. Beschränkt man sich jedoch auf die Frage nach der Funktion der Katze als Gegenspielerin der Maus, so ergibt sich: Der Widerspruch in ihrem Verhalten ist nur der witzig-paradoxe Ausdruck dafür, daß jemandem, der immer nur angstvoll vorwärts läuft, nicht zu helfen ist. Kafkas „Kleine Fabel" vermittelt keine Lebensweisheit, keine „Moral", sondern ist eine in die Form der Tierfabel gekleidete Parabel über das, was wir gewöhnlich so leichthin mit dem Ausdruck „Lebenslauf" bezeichnen. ^7 „Hochzeitsvorbereitungen", S. 94 und 42. ^8 Zuerst 1936 erschienen; 3. Ausgabe 1954. ^9 „Beschreibung eines Kampfes", S. 119; zur Datierung vgl. „Kafka-Symposion", 1965, S. 83. ^10 Vgl. sein Bild „Melancholie und Mysterium einer Straße" von 1914. Die Erklärung dazu in „Malerei unserer Welt" (Köln 1957, S. 306) lautet: „Die Traumwelt Chiricos ist wahrhaft ,bedrohlich'. Jeder Gegenstand ist eine Vorahnung, der Vorbote einer unbekannten und deshalb beunruhigenden Zukunft." ^11 W. H. Sokel („Franz Kafka - Tragik und Ironie", S. 22) spricht von einer auf allerengsten Raum zusammengedrängten Biographie, dem „Bericht eines Lebenslaufes". ^12 In Franz Kafka „Das Urteil", Fischer Bücherei 19, S. 81 f. (Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf „Franz Kafka: Das Urteil und andere Erzählungen", Fischer-Taschenbuch Nr. 19, Frankfurt/M. 1952; zitiert wird nach der Auflage 1966). Hirschenauer Rupert —Weber Albrecht. Interpretationen zu Franz Kafka: Das Urteil. Die Verwandlung Ein Landarzt Kleine Prosastücke. München: R. Oldenbourg, 1970^2. S. 131-134.