Günter Kunert: Ninive Als Kerzen brannten, sah man es: Statt Stalagmiten und Stalaktiten hingen von der Decke Kleidungsstücke und kärgliche Nahrung in Beuteln wegen der Ratten, wölbten sich aus dem Boden steile Hügel von Abfall und gesammelten Überresten, zum Sortieren vorgesehen. Hier und da an den Wänden Hinweise und Ermahnungen: Schwarze Schriftzeichen auf einstmals weißem Karton starrten ungerührt auf die Überlebenden hinunter, die auf Lagerstätten hockten, errichtet aus dem Kram, den die Zerstörung verschonte. Blechnäpfe und Schüsseln klapperten in den Händen, während der Wal unhörbar dahinzog durch die kalten eiligen Wellen der Minuten. Längst hat er Jona verschlungen auf Nimmerwiedersehen. Denn anders ist es geschehen, als es steht im Buch der Bücher: Jona ist geblieben in dem ewig finsteren, dem reißenden endlosen Innern der Zeit, der die Unverständigen ein äußeres Antlitz gaben, nämlich das des großen Fisches, damit sie sich ein Bild machen konnten und verstehen. Verschlungen der, der Ninive erwecken sollte, daß es Buße tue und der Untaten abschwöre; daß es sein lasse und aufhöre, auszubeuten die unteren Klassen, vorzubereiten Krieg und Mord und Pest in seinen Mauern; daß es abstehe von der Eroberung Ägyptens, Polens, Frankreichs und weiterer Anlieger. In den tödlichen Rachen gejagt, zerrissen, zermalmt und zermahlen vorher der Prophet, den nichts wieder an die Ufer des Lebens speit. Da die übermütige Stadt nicht einhielt in ihrem Tun, vollzog sich an ihr, was sie an andern vollzogen: ein Urteil. Und wer danach noch eine Kerze zum Leuchten hatte, fand es fast gemütlich in deinen Höhlen, o Ninive. Poser, Therese (Hg.). Parabeln. Stuttgart: Reclam, 1978. ISBN 3-15-009539-5. S. 48-49.