Der letzte Frühling I. In der Nacht hatte ich Fieber, ich konnte nicht schlafen. Ich spüre, dass ich niemals so müde war wie jetzt… Ganze Wochen sehne ich mich nach einer einzigen Weile, in der ich völlig ausgeruht wäre, nach einem Augenblick, in dem ich die Kraft hätte, mit sich selbst abrechnen zu können-vergeblich… Als ob ich mich selbst verloren hätte… Ich habe das Gefühl, mein Hirn sei voll erstarrt, meine Nerven seien zerrissen und ich selbst sei in eine Todesanzeige verwandelt, in eine schablonenhafte Todesanzeige, die üblicherweise in der Zeitung erscheint-statt einer Sondernachricht. Zuweile ergreift mich ein wirres Bewusstsein der Realität. Diese sind für mich die schrecklichsten Momente: die, in denen ich feststelle, dass ich nun mehr bloße Ruine bin… …Was für einen schläfrigen, traurigen Morgen…! Gestern war noch Frühling, stimmt, so ein schüchterner Februarfrühling. Aber immerhin Frühling. Das Fest des Lebens. Leben… Eins der Symptome meiner Krankheit ist das, dass ich Tag für Tag auf eine unbestrittene Tatsache stoße. Und die neueste ist: mein Untertan begann damals, als es mir zum allerletzen Mal schien, dass ich verliebt bin… Derjenige, der zwei Monate lang auf Liebe verzichten kann, der lebt nicht mehr…! Ich erinnere mich noch daran, dass auch mein Leben auch mit einer solchen Entflammung geendet hat… Was füer einen schläfrigen, traurigen Frühling! Wir schwitzten in der Hitze der heiteren, prahlenden Mittagssonne… In den frühen Hitze das Blechkuppel des Theaters nahezu brannte… Dort haben wir uns gewärmt, wir Armen, zitternd sowohl in der Seele als auch an dem Leib. Agnes trug ein weißes Kleid mit einem roten Band. Der Frühling ließ ihre Wangen strahlen und sie, so oft mürrisch, lachte laut und fröhlich. Ich empfand plötzlich eine wahnsinnige Sehnsucht. Ich hätte nahezu das traurige Mädchen mit einer leidenschaftlichen Umarmung zerschmettern wollen. Denn ich wusste, dass auch sie noch nie im Leben glücklich war und ich konnte mich gar nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so eine Sehnsucht gespürt hatte, jemanden zu umarmen… II. Plötzlich wurde ich mir dessen bewusst, dass ich nur die kleine, traurige Agnes suchte. Ich lauerte ihr überall auf, auf der Straße, in jedem Café, mit flammender Sehnsucht beobachtete ich sie auf der Bühne, ganze Stunden lang saß ich bei ihr in ihrem kläglichen Zimmer in Untermiete, wo es keine Sträuße gab, wo weit und breit keine Blume blühte. Sie hatte ständige Kopfschmerzen. Doktor sagte, sie wäre ernsthaft krank… An diesem weinerlichen Morgen, wenn ich nach langer Zeit wieder ihr Gesicht vor mir sehe, erfüllt mit herzreißendem Schmerz, kann ich mir nicht erklären, was ich an ihr so geliebt habe… Es fällt mir die jämmerliche Liste eines großen, trübseligen, germanischen Philosophen von unterschiedlich starken Kämpfern der Rasse ein. Vielleicht passten wir zueinander. Sie, das kleine, sieche, traurige Mädchen, und ich, vorzeitig veraltete, ermüdete, unbemerkte, vergessene-Null… …An einem Märzabend saßen wir aufgeregt nebeneinander an der Bank. Brennende Kälte rüttelte an uns, es war aber nicht die brennende Kälte der Liebe… Ich küsste ihren Stirn. Er war eiskalt. Lang, traurig sah sie mich damals an… „Glauben Sie an Wunder? Ich nicht. Was wollen wir zwei? Liebe, Glück suchen? Sie haben ein falsches Mädchen gefunden, mein Freund. Ich habe mich von der Liebe verabschiedet schon damals, als Sie noch voller Hoffnung und Lebensfreude die leichtsinnigen Mädels in Chantan verführten. Bei ihr sei es ähnlich? Damit prahlen Sie vergebens. Ich habe nicht vor, mein Leben mit der Liebe zu verschwenden. Ich habe andere Sorgen. Ja-einen Haufen der Sorgen.“ „Denken Sie von mir, meine liebe Agnes, was Sie wollen, da stört mich nicht. Ich erwarte keinen Wunder, ich bitte Sie nur darum, bleiben Sie noch eine Weile bei mir. Ich habe das Gefühl, das Schicksal bereitet für uns die Erlösong vor. Warum sollten wir die letzte Hoffnung wegschmeißen? Sagen Sie mir, warum….!“ Sofern ich mich erinnere, sie lachte mich damals betrübt an… An dem Abend habe ich sie bis zur Garderobe begleitet. Wie grinsten uns die Mephistophelen mit glatt rasierten Wangen an! III. Es war die zahmste und lügenhafteste Liebe der Welt. Die letzte Flamme der Welt, ein heißes Tropfen Gift der Nervenerregung. Suggestion gelang in der Maßen, dass mich sogar Eifersucht zu quälen anfing, eine Eigenschaft, die nur den stärksten Männern eigen ist. „Warum beobachten Sie immer nur die eine Loge im Zuschauerraum…? Sie haben mir gelogen... Sie lieben jemanden ja und verhehlen, verheimlichen es…!“ Als die letzten Lichter ausgegangen waren, wartete ich auf sie, lehnend sich an die kalte Wand des Theatergebäudes. Sie habe wieder nicht gut geschlafen-so beschwor sie sich den ganzen Weg. Sie habe eine schwere, sehr schwere Role vor sich gehabt. Sie habe sie heute Nacht studieren wollen… Vor dem Haus gab sie mir ihre Hand. Sie trug billige, dünne Handschuhe. Ich habe sie geküsst und wartete, bis das Schloss zweimal knirschte. Dann saß ich bis Morgen in einer billigen Kneipe. Damals sehnte ich mich nach keiner Ruhe. Nur ewig wach sein…ewig sie sehen…! Ich glaube, damals war mein Kopf voll von albernen Gedanken. Dass alles gut werde. Dass ich Agnes heiraten werde. Dass sie eine erfolgreiche Künstlerin werde und dass ich vielleicht auch den Sinn meines Lebens finden werde. Dass unser gemeinsames Leben lauter Freude, lauter Liebe sein werde… Möglicherweise hätte jeden denjenigen erwürgt, der ein einziges böses Wort über meine Liebe gesagt hätte, über meine Agnes, die unter Schlaflosigkeit litt. IV. Schändlich, erschreckend schändlich ist dieser regnerische Morgen, die qualvollen, jämmerlichen Erinnerungen… Es war um Mitternacht. Andere Gäste in der Kneipe sangen schlüpfrige Lieder. Auf dem Tisch standen leere Flaschen. Ich bog meinen Kopf, ich war schamlos nüchtern in der ganzen besoffenen Bande. „Was ist dir über die Nase geflogen…? Denkst du nicht zufällig an Fräulein Agnes? Sei ruhig, die befindet sich jetzt in guter Gesellschaft, nicht einmal der Kopf tut ihr weh. Nach der Vorstellung hat bereits eine Kutsche auf sie gewartet. Insgesamt saßen vier darin. Evelyn, die schwarze Maske, die Naive und Agnes.“ …Aus dem Kopf verschwand der letzte Spur des Rausches… Ich fasste den betrunkenen Komödianten an die Schulter. „Du lügst! Wohin sind sie gefahren?“ Er lachte stumpf. „Zu dem, der ihr gestern den Blumenstrauß geschickt hat.“ …Der Hausmeister hat mich ins Haus gelassen. Vielleicht sah ich in dem letzten Anfall der Gefühle so gruselig, dass er nicht einmal einen Muck machen wagte. Ich schaute durch das Fenster. Die Gardine hüllte die Orgie nicht ein. Die ganze Gesellschaft war betrunken. Der Scheißkerl, der alte Affe hielt Agnes um den Hals… Und die verlogene, falsche Luder mit dem kindlichen Gesicht war im Rausch, ihre Augen strahlten, fast nackt tanzte sie und sang ein Chanson vom rauhesten Kern… V. Ich weiß selbst nicht genau, warum ich mich noch daran erinnere. Es scheint mir, dass das alles schon längst geschehen ist, dass es die letzte Geschichte meines Lebens ist. Und ich lebe nicht mehr-denn wir leben, nur solange wir uns nach Liebe sehnen, und gestorben ist der, der zwei lange Monate lang auf Liebe verzichten kann. Gestorben… Das dachte ich schon gestern, obwohl gestern ein gleich schöner, warmer Tag war, wie damals, als ich Agnes in ihrem weißen Kleid gesehen hatte. Und heute ist ein hässlicher, mürrischer, regnerischer, kalter Herbsttag… Es war der letzte Frühling…!