Der erste Tag Sabines ersten Arbeitstag in Brünn eröffnete das schrille Läuten ihres Weckers, welches ihr an diesem Morgen allerdings wohl kaum unangenehmer hätte sein können. In ihrem Kopf machte sich nämlich gerade ein Trupp Bauarbeiter daran, mit Vorschlaghammern aus ihrem Schädel herauszubrechen, und in ihrem Magen tobte ein ebenso verbissener Kampf um das Schicksal seines Inhalts. Als sich Sabine im Bett mühsam aufrichtete, wurde er auch schon entschieden, und zwar zu Gunsten jener Fraktion, die sein unverzügliches erbrechen forderte. Der Weg zur Toilette war zum Glück nicht weit und leicht zu finden, doch schlimmer war es um diverse Hygieneartikel, eine Tasse Kaffee oder etwa Kleidung gewesen, denn sie hatte am Vortag keine Minute Zeit gefunden, auch nur einen einzigen Koffer auszupacken. Im Gesellschaftsraum des Lektorenhauses stieg nämlich eine groß angelegte Feier, denn sie war nicht der einzige Neuzugang hier, und jedermann wollte sich gegenseitig kenenlernen. Sie ließ also ihr Hab und Gut auf dem Zimmer und machte sich gemeinsam mit Ivonne daran, ihren neuen Kolleginnen und Kollegen bei diversen Vorbereitungen zu helfen. Es dauerte keine vier Gläser Vodka-Orange, bis der offiziele Anfang der Feier wohl das gesammte Lektorenhaus sich im Gesellschaftsraum versammeln ließ. Sabine war angenehm überrascht, wie jung der überwiegende Großteil der hiesigen Belegschaft war. Es waren auffällig viele Frauen unter ihnen, allerdings auch einige sympathische Männer, und Sabine stellte zufrieden fest, wie blass die Erinnerung an Thomas in so kurzer Zeit geworden ist (auch wenn ihr sehr wohl bewusst war, dass ihr hierbei auch der Alkohol nachgeholfen haben durfte). Der nicht allzugroße Raum im Erdgeschoss wurde der Gesellschaft aber schließlich zu eng, und so beschlossen einige, in ein geeignetes Lokal zu wechseln, und da zu diesen „Abtrünnigen“ auch drei der vier deutschen Lektoren zählten, schloss sich Sabine ihnen an. Zuerst konnte man sich nicht einigen, wohin es denn eigentlich gehen sollte, und sie irrten ziellos durch die bereits schlafende Stadt. Sabine wunderte sich ein wenig, wie gleichgültig ihr die Sorgen ihrer Begleiter geworden waren, fast wünschte sie sich, in einem Lokal niemals anzukommen. Denn im gelblichen Licht der alten Straßenlaternen kam sie sich angenehm leicht vor, fast imateriell, sie sah sich plötzlich darin aufzulösen – aber nicht in ein leeres Nichts, sondern in der Straße aufzugehen, mit ihr eins zu werden. Sie fühlte, wie die Straße im Laufe der Zeit ihr Gesicht veränderte, so wie sich das Gesicht eines Menschen mit den Jahren verändert, und versuchte die Schicksale all jener Menschen zu erfassen, welche hier jemals gelebt und gearbeitet haben. Aus ihren Gedanken riss sie eine Frage Ivonnes, welche Sabine ohnehin nicht verstanden hatte und Ivonne wohl auch nicht beantwortet haben wollte. Da tauchten sie aber auch schon an einer breiten Geschäftsstraße auf, geblendet vom grellen Neonlicht und inmitten unzähliger Autos, hungrig nach Gesellschaft und Unterhaltung. Nur Sabine blieb noch kurz an der Straßenecke stehen und gab der Stadt mit einem zufriedenen Lächeln ein stilles Zeichen ihrer Sympathien. Nun, mit der Zahnbürste im Mund, zuckten ihrem Gegenüber im Spiegel bei dieser Erinnerung nur zynisch die Mundwinkel, sie dachte daran, wieviel Gras sie denn da geraucht haben musste, aber irgendwo in ihrem Inneren spürte Sabine sehr wohl, wie tief sie dieser magische Moment berührt hatte. Doch jetzt hatte sie keine Zeit darüber nachzudenken. Mühsam zwängte sie sich in die enge Jeans (eine Herausforderung, welche ihresgleichen sucht, dachte sie), zog schnell einen Pullover darüber und schon lief sie die Treppe des Lektorenhauses herunter. Noch im Laufen suchte sie fieberhaft nach der Wegbeschreibung, welche ihr Ivonne für einen Fall wie diesen am Vorabend an eine Serviette skizziert hatte, doch wurde Sabine dessen nicht fündig, ich musste ihn verloren haben, wollte sie laut aufschreien. Zum Glück traf sie fast im selben Augenblick ein von der Feier bekanntes Gesicht, einen Engländer wohl indischer Abstammung, welcher sich ihrer gerne annahm und sie bis zur Uni begleitete. Sabine war ohnehin schon etwas spät dran, und die Suche ihres Büros nahm noch zusätzliche Zeit in Anspruch, sodass sie mit einer bereits sehr deutlichen Verspätung ins Seminar kam; die Schüler ließ das auf jeden Fall ziemlich kalt. Es waren übrigens nur relativ wenige anwesend, entsprechend einer Liste, welche sie zuvor auf dem Tisch in ihrem Büro gefunden hatte, müssten mindestens doppelt so viele an ihrem Seminar teilnehmen; das kam Sabine allerdings nicht ungelegen, denn sie hatte sich bisher keine Zeit genommen, ihren Unterricht detaillierter einzuplanen. So fragte sie die Schüler über ihre Herkunft oder Hobbys aus, unterhielt sich mit ihnen über Wien und Brünn, bis die anderthalb Stunden um waren und sie mit Ivonne auf ein Kaffee verabredet waren. Zuvor wollte sie sich noch auf dem Lehrstuhl blicken lassen, um sich für die Verspätung zu entschuldigen und sich ihren neuen neuen Kollegen vorzustellen. Gleich neben dem ihrigen befand sich ein Büro, dessen Namensschild ein stolzes „Prof. Dr. Šárka Nesselová CSc.“ schmückte, also einen Namen trug, welchen Sabine von Ivonne schon gehört hatte, nur konnte sie sich aber nicht mehr erinnern, in welchem Zusammenhang. Also klopfte sie kurz an, und weil sie glaubte, hinter der Tür eine einladende Antwort vernommen zu haben, trat sie selbstbewusst ein. „Copak nerozumíte česky?“ prallte Sabine ins Gesicht. Die Worte mag sie zwar nicht verstanden haben, ihr Sinn war aber allzu deutlich. Zwei glühende schwarze Augen fixierten Sabines Blick, welcher aber sehr wohl mitbekommen hatte, wie zur gleichen Zeit eine braune Flasche mit gelber Etikette unter dem Tisch verschwunden ist. Sabine tat jedoch, als habe sie nichts gesehen, und stotterte: „Ehm, tut mir leid, ich habe gedacht, ehm ... ich verstehe nämlich kein Tschechisch, und da dachte ich sie haben...“. Das runde Gesicht der Frau verzog sich immer mehr in eine Grimasse, bei welcher es sich wohl um ein ironisches Lächeln handelte. „Na gut, ist doch nichts passiert. Sie sind Frau Hagen, nehme ich an..?“ wurde Sabine unterbrochen. „Sie waren heute das erste Mal hier und schon kamen sie zu spät. Glauben Sie, wir haben uns hier in Br-no an keine Regeln zu halten?“ Sabine war zunächst etwas aus der Fassung gebracht, versuchte aber so gelassen wie möglich zu antworten: „Das glaube ich nicht, ich habe nur einige Schwierigkeiten gehabt die Uni und dann mein Büro zu finden, das wird aber nicht mehr vorkommen.“ Die Frau lehnte sich theatralisch nach hinten, wobei diese Geste bei ihren sehr üppigen Proportionen aber höchstens lächerlich wirkte: „Das wollen wir hoffen. Haben sie sonst noch Fragen oder Wünsche?“ Sabine wollte das Gespräch so rasch wie möglich beenden, uns so erwiderte sie: „Nein, danke, wenn ich etwas brauche, kann ich doch auch Herrn Professor Pandilosz fragen.“ Das faltige Gesicht der Frau krümmte sich noch einmal. „Schön für sie. Auf wiedersehen,“ krächzte sie und schlug eine Mappe auf, auf welcher vorhin die Flasche gestanden hatte. Wie im Traum schloss Sabine hinter sich die Tür zu und blieb im Gang vor dem Büro stehen. Sie wusste nicht, was sie von dieser Frau und ihrem gemeinsamen Gespräch halten sollte. Offensichtlich hat diese Person ihr kleines Geheimnis, und dass es ihr Sabine genommen hatte, wird sich diese Nesslova sicher merken. Aber warum diese Feindseligkeit Sabine gegenüber? „Naja,“ schüttelte sie sich die unangenehmen Gedanken aus dem Kopf, „wenigstens habe ich mich mit Ivonne worüber zu unterhalten“. Sie sperrte noch ihr Büro zu und machte sich auf den Weg ins Krmítko.