Ihre Hände zitterten und waren ganz kalt. Das bemerkte sie erst, als sie vor der Tür stand. 313 … Ihr einziges Zuhause. Wie oft hat sie wohl in diesem Zimmer geweint, wenn sie alleine war. Nur alleine. Niemand sonst kann erfahren wie einsam, wie traurig, wie hoffnungslos sie sich in ihrem Inneren fühlt. Bevor Martina den Schlüssel aus ihrer Tasche herauszog, schaute sie auf die Uhr. „Nur halb vier? Mal sehen, ob Erika schon da ist...“ Sie öffnete die Tür. Im Zimmer spielte Radio und im Bad hörte sie das Rauschen des Wassers. Sie machte laut die Tür zu und warf ihren Rucksack auf den Boden. Im Bad war es plötzlich still. „Tina, bist du‘ s?“ Martina hob die Augen zum Himmel auf. „Erwartest du sonst jemanden der den Schlüssel von unserem Zimmer hat?“ „Nein, aber...“ Den Rest des Satzes hörte sie nicht. Sie wollte ihn nicht hören. Sie öffnete die Tür des Schrankes um sich in dem großen Spiegel zu sehen, der an der Tür hing. Ja, trotz ihrer 158 cm war sie kaum zu übersehen. wegen ihrer knabenhaften Figur und der schwarzen Haare und blauen Augen. Eine Kombination die viele interessierte Blicke sichert. Ein unsicheres, schuldloses Lächeln dazu, das löst alle Probleme in einem Augenblick… Sie kann sich nicht mal erinnern, wann sie letztes Mal ihren Rucksack von dem Bahnhof selber trug. Im Zimmer legte sie sich aufs Bett und sie sah sich um. Alle Sachen ihrer Mitbewohnerin waren schon auf ihren Platz gelegt. Die Bücher im Regal, ihre Kleider im Schrank. Unter dem Fenster standen Koffer, die Martinas Eltern heute Nachmittag mitgebracht haben. In wenigen Minuten trat Erika in das Zimmer herein. Mit nassen braunen Haaren, nur in einem gelben Tuch bekleidet. „Warum bist du hier so früh? Ich dachte, dass du erst morgen kommst, wenn überhaupt.“ Fragte sie erfreut aber leise. Sie sprach immer leise, als ob sie Angst hätte, dass sie jemand bemerken wird. „Ich hatte nichts Besseres zu tun. Bist du nicht froh, dass ich kam?“ „Das weißt du sehr genau, dass ich froh bin. Und überhaupt, wie war die Fahrt?“ „Ganz bequem, nur langweilig. Kein einziger schöner Junge im ganzen Bus. Das nenne ich Pech.“ „Wenn du es sagst…“ „Schaue mich nicht so an. Ich kann nichts dafür, dass du wie eine Nonne lebst. Du sitzest immer alleine mit deinen Büchern im Zimmer, manchmal guckst du aus dem Fenster und beobachtest wie das Leben vorbei geht.“ Erika neigte den Kopf. „Du weißt doch, wie sehr ich mich vor anderen Menschen schäme“, flüsterte sie. „Weißt du was? Jetzt bin ich zu müde um mit dir über deine fiktiven Probleme diskutieren zu können. Ziehe dich lieber an.“ Erika verschwand im Badezimmer. Sie sollte es mit der Kritik ihrer Lebensart nicht übertreiben, sonst könnte sie sich entscheiden sich zu verändern. Das wäre für sie sehr schlecht, denn in diesem Jahr muss sie die Prüfungen machen und ohne Erikas Hilfe müsste sie sich viel mehr anstrengen als bisher. Wird Padilosz wirklich so streng sein, wie es ihr ihre Bekannten sagten? Padilosz… Ohne es richtig zu bemerken, dachte sie wieder an ihn. Wenn sie ihren ganzen Sommer mit einen Wort beschreiben sollte, wurde es „Nachdenken“ heißen. Nachdenken über ihn. Wie gelingt es ihr an ihn endlich näher zu kommen… Was? Wie? Warum? Schon wieder diese dummen Fragen ohne Antwort, die sie befriedigen würde. So hat sie in Wirklichkeit den Sommer verbracht. Das ewige Kopfzerbrechen. Werde ich es überhaupt irgendwann los?