Gérard Genette http://www.uni-essen.de/einladung Seine für die Erzählforschung wichtigsten Bücher heißen Discours du récit (1972) und Nouveau discours du récit (1983). In deutscher Übersetzung sind beide Texte zusammengefaßt unter dem Titel Die Erzählung (hg. von Jochen Vogt) 1994 erschienen. histoire und discours Verallgemeinernd kann man sagen, daß sich ein narrativer Text aus zwei Ebenen zusammensetzt, die eng aufeinander bezogen sind. Dabei handelt es sich um eine Abfolge von Zeichen, den Text (´discours´), der eine Abfolge von Ereignissen, eine Geschichte (´histoire´) repräsentiert. Die fundamentale Opposition besteht also zwischen der Ebene der ´histoire´, die ein reales oder fiktives Geschehen bezeichnet (das Was der Darstellung), und der Ebene des ´discours´, in der das Geschehen sprachlich dargestellt wird (das Wie der Darstellung). Die lange und verworrene Geschichte des Begriffspaars ´histoire vs. discours´ weist schon darauf hin, daß es sich hierbei um eine zentrale Kategorie, um eine der wesentlichsten Unterscheidungen innerhalb der Erzähltheorie handelt. Im Umkreis des Russischen Formalismus definierte Boris Tomaševski in seinem Buch Theorie der Literatur (1925) die ´fabula´ als die Summe der Ereignisse, den Stoff, der einer Erzählung zugrunde liegt, während er mit ´sjuzet´ ihre sprachliche Verknüpfung im Text bezeichnete. Etwa zur gleichen Zeit stellte der englische Romancier und Literaturwissenschaftler E.M. Forster (1927) die Begriffe ´story´ (Erzählung von Ereignissen in ihrer zeitlichen Reihenfolge) und ´plot´ (Erzählung von Ereignissen, die den Akzent auf die Kausalität legt) einander gegenüber. Wieder etwas später, in der Hoch-Zeit strukturalistischer Forschungen in Linguistik und Literaturwissenschaft, übernahm der Erzähltheoretiker Tzvetan Todorow das Begriffspaar ´discours/histoire´ von seinem Kollegen Émile Beneviste, der in seinen sprachwissenschaftlichen Forschungen den ´discours´ als eine subjektiv bestimmte Sprachverwendung definiert hatte, dem mit der ´histoire´ eine objektive, von einer Sprecherinstanz freie Sprachverwendung gegenübersteht. Todorow verknüpfte die Begriffe Benevistes mit den Beobachtungen Tomaševskis. Durch die Dominanz strukturalistischer Betrachtungsweisen hat sich in der Folgezeit das Oppositionspaar ´discours/histoire´ weitgehend durchgesetzt. Innerhalb dieser Tradition stehend differenzierte Gérard Genette das Oppositionspaar in Hinsicht auf eine erzähltheoretische Analyse noch etwas weiter aus: Er hält zwar am Begriff ´histoire´ fest, ersetzt aber den des ´discours´, indem er ihn in ´récit´ (´Erzählung´: narrativer Text) und ´narration´ (´Narration´: Akt des Erzählens) unterteilt. Die unterschiedlichen Herangehensweisen und Begriffe können leicht den Eindruck entstehen lassen, alle erwähnten Literaturwissenschaftler und Linguisten würden von grundverschiedenen Dingen sprechen. Tatsächlich sind die jeweiligen Begriffe natürlich nicht deckungsgleich und einfach austauschbar, dennoch läßt sich unter ihnen allen eine gemeinsame Basis beobachten. Besondere Bedeutung gewinnt diese Zweiteilung für die literarische Darstellung von Zeit-Erfahrung (vgl. Erzählzeit und erzählte Zeit). Fokalisierungstypen (nach G. Genette) Unter dem Stichwort ´Fokalisierung´ beschäftigt sich Gérard Genette in seinen Büchern Discours du récit (1972) und Nouveau discours du récit (1983) mit der Frage, aus welchem Blickwinkel (auch ´point of view´, ´point de vue´ oder ´Sehe-Punckt´) eine Geschichte erzählt werden kann. Hatte Franz Karl Stanzel in seinem Modell der Erzählsituationen den Blickwinkel (unter dem Begriff ´Perspektive´) und die Erzählerstimme (als ´Person´) zusammengefaßt, plädiert Genette für eine Trennung dieser beiden Kategorien, um eine Erzählung in ihrer Komplexität genauer analysieren zu können. Er trennt also die Frage "Wer nimmt wahr?" ganz klar von der Frage "Wer spricht?" Um die erste geht es bei den Fokalisierungstypen (zur zweiten Frage vgl. Stimme des Erzählers). Nach Genette schaltet der Autor den Erzähler als eine Vermittlungsinstanz zwischen die erzählte Geschichte und den Leser ein. So kann er ihn mit verschiedenen "Wissenshorizonten" ausstatten, die es ihm erlauben, die narrativen Informationen mehr oder weniger stark zu filtern. Je breiter dieser "Wissenshorizont" des Erzählers ist, desto umfangreicher wird auch der Leser über die Geschichte informiert. Die Informationsregulierung erfolgt also durch die Wahl oder auch Nicht-Wahl eines einschränkenden Blickwinkels oder ´Fokus´. Die drei unterschiedlichen ´Fokalisierungstypen´ bestimmt Genette als Verhältnis zwischen dem Wissensstand des Erzählers und dem seiner Figuren. Bei der ersten Form, der ´unfokalisierten´ Erzählung (oder auch Erzählung mit einem ´Null-Fokus´) sagt der Erzähler mehr als alle seine Figuren wissen können. Er erlegt sich keinerlei einschränkenden Blickwinkel auf und kann den Leser umfassend, auch über das Gedanken- und Gefühlsleben der verschiedenen Figuren, informieren. Im zweiten Fall, bei der ´internen Fokalisierung´, sagt der Erzähler genau so viel wie seine Figur weiß. Sein Blickwinkel ist auf den Horizont einer Figur (´fest´) oder auch verschiedener Figuren (´variabel´) beschränkt. Der dritte ´Fokalisierungstyp´, die ´externe Fokalisierung´, ist dadurch gekennzeichnet, daß der Erzähler weniger sagt als die Figur weiß. Er ist gezwungen, sie von außen zu beobachten, ohne ihre Gedanken oder Gefühle zu kennen. Man könnte sagen, er hat in diesem Fall einen sehr undurchlässigen Filter vor Augen. Da diese verschiedenen Möglichkeiten der Informationsregulierung vor allem in längeren Texten selten durchgängig auftreten, ist es angebracht, die jeweils ´dominante Fokalisierung´ zu bestimmen (siehe "Verstöße" gegen die Fokuswahl). Wenn man Genettes analytische Kategorie des ´Fokalisierungstyps´ - also die Frage: "Wer nimmt wahr?" - und diejenige der ´Person´ (vgl. Stimme des Erzählers) - mit der Frage: "Wer spricht?" - verbindet, kann man zu einem synthetischen Modell der Erzählung zu gelangen, wie es Stanzel in seinen Typischen Erzählsituationen vorgeschlagen hatte. Statt drei Erzählsituationen erhält man dabei sechs detailliertere Varianten (vgl. Beispiele für Fokalisierungstypen). © SR Sekundärliteratur: 1. G. Genette: Die Erzählung, hg. von J. Vogt, München 1994. 2. M. Martinez und M. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, Opladen 1998, Kap.2. Beispiele für Fokalisierungstypen Fokalisierung unfokalisiert intern extern __________________ Person heterodiegetisch (Erzähler in Thomas Mann: Franz Kafka: Dashiell Hammett[1]: seiner Geschichte nicht Der Zauberberg Die Verwandlung Der Malteser Falke anwesend) homodiegetisch (Erzähler in Thomas Mann: Johann Wolfgang von [Albert Camus: seiner Geschichte anwesend) Bekenntnisse des Hochstaplers Goethe: Der Fremde] Felix Krull Die Leiden des jungen Werthers Sicherlich kommen diese unterschiedlichen Typen von Erzählungen nicht gleichermaßen oft vor. Vor allem die Form der homodiegetischen Erzählung, in welcher der Erzähler in der von ihm erzählten Geschichte anwesend ist, läßt sich scheinbar nur schwer mit einer ´externen Fokalisierung´, also einer Außensicht auf sich selbst verbinden. Deswegen ist das entsprechende Textbeispiel, Albert Camus´ Roman Der Fremde, auch in Klammern gesetzt. "Verstöße" gegen die Fokuswahl Häufig geschieht es auch, daß innerhalb eines Textes ein ´Fokalisierungswechsel´ nur punktuell stattfindet, der ´dominante Fokalisierungstyp´ also erhalten bleibt. Dann spricht Genette von ´Alterationen´, die als "Verstöße" gegen die Erzähllogik aufgefaßt werden können. In einem ersten Fall (Genettes ´Paralepse´) teilt der Erzähler dem Leser mehr Informationen mit, als ihm seine ´Fokuswahl´ eigentlich erlaubt. Ein Erzähler, der sich den Blickwinkel einer Figur zu eigen gemacht hat (´interne Fokalisierung´), kann nicht ohne weiteres wissen, was in den Köpfen der anderen Figuren vor sich geht (es sei denn, er hat es auf irgendeine "natürliche" Art in Erfahrung gebracht oder er äußert sich dazu nur in Form von Vermutungen). Oft werden diese "Verstöße" aber auch aus guten Gründen in den Text eingebaut, wie der komplementäre Fall (die ´Paralipse´)[2] zeigt. Hier werden dem Leser Informationen vorenthalten, die der Erzähler aufgrund seiner ´Fokuswahl´ eigentlich geben müßte. Dieses Verfahren wird z.B. in Kriminalromanen angewendet, wenn bewußt die Gedanken einer Figur unterschlagen werden sollen, um zusätzliche Spannungseffekte zu erzielen. Ordnung Unter ´Ordnung´ versteht Genette das Verhältnis zwischen der "realen" Anordnung der Ereignisse in der ´histoire´ und ihrem Erscheinen im ´récit´. (vgl. Erzählzeit und erzählte Zeit) Wird der Ablauf der Ereignisse umgestellt und nicht chronologisch-linear erzählt, spricht Genette von ´Anachronien´. (vgl. Rückwendungen und Vorausdeutungen) Die ´Analepse[3]´ (bei Lämmert ´Rückwendung´) wird definiert als "nachträgliche Erwähnung eines Ereignisses, das innerhalb der Geschichte zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat" (Genette, S. 25). Bestimmt man eine ´Basiserzählung´ (récit premier) mit Anfang und Ende, so kann man die ´Analepsen´ entsprechend ihrer Reichweite in ´externe´ und ´interne´ unterteilen. Die ´externe Analepse´ erzählt Ereignisse, die vor Beginn der ´Basiserzählung´ liegen. Es besteht also keine Gefahr, daß sich die ´Analepse´ und die ´Basiserzählung´ überschneiden. Die ´interne Analepse´ hingegen füllt Lücken innerhalb der ´Basiserzählung´ auf. Hier kann es dazu kommen, daß ein Ereignis ein zweites Mal (meist aus einer anderen Perspektive oder mit einer anderen Intention) erzählt wird. Reicht ein ´analeptischer´ Nachtrag bis zu dem Zeitpunkt in der ´Basiserzählung´ heran, an dem die Erzählung unterbrochen worden war, spricht Genette von einer ´kompletten Analepse´het terug-opnemen, flash-back. Ist das nicht der Fall und endet die Erzählung vergangener Ereignisse in einer Ellipse, handelt es sich um eine ´partielle Analepse´. Mit ´partiell´ und ´komplett´ bezeichnet Genette den ´Umfang´ einer ´analeptischen´ Erzählung. Analoges gilt für die zweite Form der ´Anachronien´, die ´Prolepse´ (bei Lämmert: ´Vorausdeutung´, flash-forward). Sie wird dadurch definiert, "ein späteres Ereignis im voraus zu erzählen oder zu evozieren" (Genette, S. 25). Auch hier kann wieder nach der ´Reichweite´ (´extern´ oder ´intern´) sowie nach dem ´Umfang´ (´komplett´ oder ´partiell´) unterschieden werden. Die ´interne Prolepse´ (also eine ´Vorausdeutung´, die den zeitlichen Rahmen der ´Basiserzählung´ nicht überschreitet) kann zum einen als ´Vorgriff´ auftreten (die explizite Ankündigung eines späteren Ereignisses), zum anderen als ´Vorhalt´ (eine ungewisse Antizipation, die Erwartungen weckt, sich aber erst bei der weiteren Lektüre als Vorankündigung erschließt). Wie im Fall der ´internen Analepsen und Prolepsen´ zu sehen war, kann ein Ereignis, das auf der Ebene der ´histoire´ stattfindet, durchaus zwei- oder mehrmals erzählt werden. Diesen Sachverhalt untersucht Genette unter dem Stichwort ´Frequenz´. Dabei differenziert er zwischen ´singulativem´ Erzählen (was einmal geschieht, wird einmal erzählt), ´repetitivem´ Erzählen (was einmal geschieht, wird n-mal erzählt) und ´iterativem´ Erzählen (was n- mal geschieht, wird einmal erzählt). Mit der `Dauer´, der letzten Kategorie der Zeitanalyse, setzt Genette die Zeit, die ein Ereignis in der ´histoire´ einnimmt, ins Verhältnis zu dem Raum, den die Erzählung des Ereignisses im Text beansprucht. Dieses Verhältnis nennt er ´Erzählgeschwindigkeit´. Die verschiedenen Geschwindigkeiten in einem Text sind verantwortlich für Rhythmuseffekte. (vgl. Erzählzeit und erzählte Zeit) Im einzelnen unterscheidet er vier narrative Geschwindigkeiten: Im ´summary´ (1) wird viel ´histoire´ (Geschichte) bei relativ wenig Text erzählt. Es ist den Zeitraffungen vergleichbar. Natürlich gibt es innerhalb des ´summary´ verschiedene Raffungsintensitäten. Als ´Szene´ (2) bezeichnet er zeitdeckendes Erzählen, wie man es in Dialogen, tendenziell im Drama vorfindet. Die Zeit der ´histoire´ (Geschichte) entspricht in etwa der Länge des ´récit´ (Erzählung). In der `Ellipse´ (3) kann unendlich viel Geschichte in unendlich wenig Erzählung Platz finden. Was Lämmert mit ´Aussparung´ bezeichnet, wird bei Genette genauer differenziert: Die ´Ellipse´ kann ´bestimmt´ (die ausgelassene Zeitspanne wird angegeben, z.B. "drei Jahre später") oder ´unbestimmt´ (es wird keine genaue Zeitangabe geliefert, z.B. "lange Jahre vergingen") sein. Des weiteren kann sie ´explizit´ sein, d.h. angekündigt werden (z.B. "Hier bitten wir um Erlaubnis, einen Zeitraum von drei Jahren überspringen zu dürfen, ohne ein Wort darüber zu verlieren ..."). Oder aber sie kann ´implizit´, ohne Ankündigung stehen. Das ist typischerweise der Fall bei Kapitelübergängen, Absätzen oder auch der Leerzeile, dem sogenannten ´blanc´. Hier wird Zeit übersprungen, ohne daß es dem Leser ausdrücklich mitgeteilt wird. Bei der ´deskriptiven Pause´ (4) schließlich wird der Fortgang der Geschichte gleichsam angehalten, um eine Beschreibung oder einen Kommentar einzufügen. Hier kann tendenziell unendlich viel Text der Erzählung (´récit´) mit unendlich wenig Geschichte zusammenfallen. © SR Sekundärliteratur: 1. G. Genette: Die Erzählung, hg. von J. Vogt, München 1994. Raffung Des weiteren unterscheidet Lämmert drei Raffungsarten im engeren Sinne. Bei der ´sukzessiven Raffung´ handelt es sich um "eine in Richtung der erzählten Zeit fortschreitende Aufreihung von Begebenheiten. Die Grundformel dieser Raffungsart ist das Dann ... und dann..." (Lämmert, S. 83) Zum Beispiel: "Sie nahm nach dem Frühstück die U-Bahn bis zum Berliner Platz, dann ging sie zum Narratologie-Seminar, und dann in die Bibliothek, um Lämmerts ´Bauformen des Erzählens´ auszuleihen." Die ´iterative Raffung´ hingegen "faßt einen mehr oder weniger großen Zeitraum durch Angabe einzelner, regelmäßig sich wiederholender Begebenheiten" (Lämmert, S. 84) zusammen, ihre Grundformel lautet: "Immer wieder in dieser Zeit ...". Also: "Im Sommer fuhr sie jeden Tag mit dem Fahrrad zur Universität." Mit ´durative Raffung´ schließlich werden "allgemeine, den ganzen Zeitraum überdauernde Gegebenheiten" (Lämmert, S. 84) bezeichnet. Sie läßt sich mit der Formel "Die ganze Zeit hindurch ..." beschreiben: "Während ihres gesamten Studiums hat sie nebenbei für eine Werbeagentur gearbeitet." Da die letzten beiden Formen der Zeitraffung häufig gemeinsam auftreten, spricht Lämmert auch zusammenfassend von ´iterativ-durativer Zeitraffung´. Oft haben die unterschiedlichen Raffungsarten die Funktion, den Text in Erzählabschnitte oder -phasen zu gliedern. Wichtig bleibt anzumerken, daß die Raffungen selbst den chronologischen Ablauf der Ereignisse keineswegs durcheinanderbringen. Störungen in der Chronologie hat Lämmert dagegen unter dem Stichpunkt Rückwendungen und Vorausdeutungen abgehandelt. © SR Sekundärliteratur: 1. E. Lämmert: Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1967. 2. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, Opladen, 1998, Kap.3. Stimme des Erzählers Die ´Stimme´ stellt für Gérard Genette neben dem ´Modus´ (vgl. Fokalisierungstypen) und der ´Zeit´ (vgl. Zeitstruktur nach Genette) eine wichtige Kategorie zur Analyse der Erzählung dar. Im Unterschied zum ´Modus´, wo die Frage "Wer nimmt wahr?" im Mittelpunkt steht, geht es hier um die Frage "Wer spricht?". Genette unterteilt sie in mehrere Aspekte, nämlich: ´Zeit der Narration´, ´narrative Ebene´ und ´Person´. Bei der ´Zeit der Narration´ wird die narrative Instanz in Beziehung gesetzt zu der von ihr erzählten Geschichte. Die üblichste und am weitesten verbreitete Form der Erzählung bildet sicherlich die ´spätere Narration´, in der (in einem Vergangenheitstempus) zurückliegende Ereignisse erzählt werden. Viel seltener, aber durchaus möglich ist auch eine ´frühere Narration´, wenn nämlich im Futur oder im futurischen Präsens erzählt wird. Ein typischer Fall wären Zukunftsromane, wenngleich hier die narrative Instanz in aller Regel vordatiert wird. Ein dritter, durchaus geläufiger Typ ist die ´gleichzeitige Narration´, bei dem das Erzählen - im Präsens - die Handlung simultan begleitet (häufig z.B. im faktualen Genre der Sportreportage). Die ´narrativen Ebenen´ erlangen vor allem dann Bedeutung, wenn verschiedene Erzählungen ineinander verschachtelt werden. Jede Erzählung erschafft ein räumlich-zeitliches Universum, das man auch als ´Diegese´ bezeichnet. Wenn innerhalb eines Romans von einer Figur eine in sich abgeschlossene Geschichte erzählt wird, existieren bereits zwei ´Diegesen´, von denen die zweite in die erste "eingelassen" ist. In Erzählungen diesen Typs (wie beispielsweise Boccaccios Il Decamerone oder die Märchen aus Tausendundeiner Nacht) können diese verschiedenen Ebenen der Erzählung und vor allem die Beziehungen, die zwischen ihren ´Diegesen´ bestehen, untersucht werden (vgl. metafiction). Unter dem dritten Aspekt der Stimme, der ´Person´, greift Genette das Problem der Erzählung in der 1. oder 3. Person auf. Prinzipiell kann sich jeder, und nicht nur der sogenannte Ich-Erzähler, sondern beispielsweise auch ein auktorialer Erzähler, in der 1.Person zu Wort melden. Dieses Phänomen der ´Stimme´ ist also nicht zwangsläufig mit einem bestimmten Blickwinkel, den Fokalisierungstypen verbunden. Entscheidend ist vielmehr, ob der Erzähler in der Geschichte, die er erzählt, als Figur anwesend ist oder nicht. Den ersten Fall bezeichnet Genette als einen ´homodiegetischen´ Erzähler, den zweiten als einen ´heterodiegetischen´. Rückwendung und Vorausdeutung Als ´Rückwendung´ bezeichnet Lämmert prinzipiell die Unterbrechung der Erzählung, um Geschehnisse nachzutragen, die sich schon zu einem früheren Zeitpunkt ereignet haben. Ohne diese Umstellungstechnik kommt kaum eine Erzählung aus. Ein typischer Anwendungsfall besteht darin, Informationen über die Biographie einer Handlungsfigur an passender Stelle nachzureichen. Innerhalb dieser Erzählbewegung in Richtung der Vergangenheit differenziert Lämmert jedoch noch weiter: Die ´aufbauende Rückwendung´ bleibt auf eine jeweils zweite Erzählphase beschränkt. Nach einem Beginn ´medias in res´ (beispielsweise dem Treffen des Privatdetektivs Sam Spade mit einer neuen Klientin in seinem Büro) wird das am Anfang Ausgesparte nachgeholt (z.B. könnte aus dem Haushalt der jungen Dame ein wertvoller Gegenstand oder gar eine Person verschwunden sein, was sie dazu veranlaßt hat, den Detektiv aufzusuchen). Analog dazu spricht Lämmert von einer ´auflösenden Rückwendung´ am Ende des Textes. Hier werden die Lücken im bisher Erzählten aufgefüllt und Informationen nachgeliefert, die bis zu dieser Stelle zurückgehalten worden waren. So scharen sich die verdächtigen Personen am Ende eines Romans von Agatha Christie regelmäßig um den Detektiv Hercule Poirot, der die Ereignisse resümiert und diejenigen - bisher verschwiegenen - Informationen nachträgt, die ihn auf die Spur des Mörders geführt haben. Eine dritte Form bildet die ´eingeschobene Rückwendung´ (die Lämmert noch einmal in ´Rückschritt´, ´Rückgriff´ und ´Rückblick´ differenziert). Sie kann an einer beliebigen Stelle im Text vorangegangene Ereignisse einblenden, sei es, um Nebenhandlungen weiter auszuführen, um nur punktuell auf ein vergangenes Ereignis zu verweisen oder um mit einem Blick auf die Vergangenheit das gegenwärtige Geschehen zu vertiefen. Weniger häufig tritt eine Technik auf, die den gleichen Vorgang in der zeitlichen Gegenrichtung vollzieht. Wenn ein zukünftiges Ereignis der Geschichte vorweggenommen wird, obwohl der Gang der Erzählung noch gar nicht an diesem Punkt angelangt ist, spricht Lämmert von ´Vorausdeutungen´. Verallgemeinernd kann man sagen, daß seine Kategorie der ´zukunftsungewissen Vorausdeutung´ dem Horizont der Figuren zugeordnet ist (bzw. einem Erzähler, der nicht mehr weiß als die Figuren). Die Unsicherheit äußert sich als subjektive Hoffnung, Furcht, Glauben usw. Die ´zukunftsgewisse Vorausdeutung´ dagegen verlangt einen Erzähler, der zumindest mehr weiß als die Figuren. So kann er sichere Angaben über das zukünftige Geschehen machen. Lämmert differenziert hier noch einmal. Dabei bedeutet ´einführende Vorausdeutung´, daß am Textanfang eine Figur, ein Thema oder ein Geschehen angekündigt wird (wie z.B. in dem barocken Titel eines spanischen Schelmenromans von Mateo Alemán: Der große spanische Vagabund Guzmán de Alfarache, wie er aus Sevilla auszog, sein Glück zu suchen, in Madrid die Schule der Bettler und in Toledo die Schule der Liebe durchmachte, in Rom und Florenz großen Herren diente und da ihm das Glück zu lächeln schien, endlich auf die Galeere geriet). Die ´abschließende Vorausdeutung´ weist meist in eine Zukunft, die nicht mehr erzählt wird. Typisch ist hierfür die Märchenformel: "und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute". Die ´eingeschobene Vorausdeutung´ schließlich kann den Verlauf der gesamten Erzählung oder auch nur einer Erzählphase ankündigen. Zum Beispiel: "Das sollte er noch vor Einbruch der Dunkelheit bereuen." (vgl. Zeitstruktur bei Genette) © SR Sekundärliteratur: 1. E. Lämmert: Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1967. Welcher Termin aus Stanzels Erzähltheorie ist gemeint? In der ………………………………………….bestimmen die ´Innenperspektive´, in der die Gedanken und Gefühle einer Figur "ausgeleuchtet" werden können, und die szenische Darstellung durch eine ´Reflektorfigur´ (englisch auch ´showing´) die Erzählung. Es wird in der Er- oder Sie-Form erzählt. Im "Idealfall" wird die Geschichte aus dem Blickwinkel nur einer Figur dargeboten, der natürlich durch ihren jeweiligen Bewußtseinshorizont beschränkt wird. Es kann nur erzählt werden, was diese Figur wahrnimmt oder denkt (dies geschieht oft in Form der erlebten Rede). Das Vorherrschen von Erzähltechniken wie Beschreibung oder szenische Darstellung (in Form dialogischer Partien) erweckt den Anschein, hier sei kaum noch ein Erzähler am Werk, der sich vermittelnd zwischen die Geschichte und den Leser stellt. Damit wird in der ´personalen Erzählsituation´ ein sehr hoher Grad von "Unmittelbarkeit" erzeugt, die tatsächlich natürlich nur eine Wirklichkeitsillusion sein kann (vgl. Mimesis). Eine Radikalisierung dieser personalen Erzählsituation hat Stanzel in der sogenannten ´neutralen Erzählsituation´ gesehen. Hier ist nicht einmal mehr eine ´Reflektorfigur´ auszumachen, vielmehr wird die Geschichte wie von einem unsichtbar bleibenden Beobachter oder einer Kamera (dem ´camera-eye´) erzählt. Da die Erzählung von Bewußtseinsprozessen ausgeblendet wird (Formulierungen wie "dachte sie..." sind also nicht möglich), ist der Leser umso mehr aufgefordert, diese hinzuzufügen. ------------------------------- [1] 1894 – 1961, die harte Schule des amerikanischen Kriminalromans, Der Malteser Falke, 1930. [2] Vgl. Praeteritio: peraleipen . terzijde laten, uitdrukkelijke vermemlding dat men over iets nietzal spreken [3] analeptikum: lék zvyšující činnost životně důležitých orgánů: