Nach www.austria.cz/kultur/bolzano/rightside.html. Bolzanos 16 Erbauungsreden für Akademiker (1813) wurden 1848 um weitere 168 Exhorten ergänzt: Dr. Bernard Bolzanos Erbauungsreden an die akademische Jugend I–IV (1849–52). Als Inhaber der Lehrkanzel für katholische Religionslehre an der Karl-Ferdinands-Universität in Prag (1804-1820) hatte Bernard Bolzano neben den Vorlesungen der Religionswissenschaft auch an allen Sonn- und Feiertagen "Exhorten" (er nannte sie später "Erbauungsreden") zu halten. Zur Teilnahme waren sämtliche Hörer aller drei Jahre des Philosophicums verpflichtet. Dieses dreijährige Propädeutikum mussten alle Studenten der Universität vor ihrem Fachstudium (Theologie, Medizin, Rechtswissenschaften) absolvieren. Der Exhortator stand vor ca. fünfhundert bis über tausend Studierenden und übte so einen enormen Einfluss auf die gebildete Jugend des ganzen Landes aus. In den Reden ging es um Fragen der Religion sowie der Lebensführung, um Weltanschauliches und Politisches. Bolzano als Vertreter des böhmischen Landespatriotismus: Die erste Entstehungsphase der böhmischen Nation am Anfang des 19. Jahrhunderts stellte der sogenannte böhmische Landespatriotismus dar. Man verstand Böhmen als das Vaterland, mit Prag als Hauptstadt, im mehr oder weniger betonten Gegensatz zur Habsburger-Monarchie und zu Wien. Neben Bolzano teilten diese Ansichten Vertreter der böhmischen Stände Kinsky, Sternberg, Thun. Diese Ansichten wurden deutlich vor allem in Bolzanos Erbauungsreden - seinen unter Studenten beliebten Sonntagspredigten an die akademische Jugend. Er begann mit ihnen im Früjahr 1805. "Sie hatten einen ausserordentlichen Einfluss auf die studierende Jugend und aus den Gedanken, die Bolzano in ihnen entwickelte, wuchs der tschechische Bolzanismus. In Bolzanos persönlichem Leben waren vor allem die Erbauungsreden der Grund zu seiner Amtsenthebung."(2) Der thematische Kreis von Bolzanos Erbauungsreden war sehr breit. Überwiegend waren es ethische und erzieherische Themen, häufig sprach er auch über die Gleichheit aller Menschen, über die Berufung des Menschen zur Tugend (erschien im Jahre 1818 in tschechischer Übersetzung von Vincenc Zahradnik im Hlasatel český), über das wahre Heldentum, oder in der berühmten dreiteiligen Rede über das Verhältnis beider Volksstämme in Böhmen. In diesen Reden betonte er die Notwendigkeit eines Ausgleichs der sozialen Unterschiede zwischen den Tschechen und den Deutschen sowie der Unterschiede in ihrem Bildungsniveau und rief zur nationalen Verträglichkeit auf. Die tschechische Übersetzung dieser Reden bereitete noch in den ersten Monaten des Jahres 1849 K.H. Borovsky vor. Eine besondere Stellung unter den Erbauungsreden hatten jene, in welchen er - mit einem aussergewöhnlichen Mut - die gesellschaftlich-reformatorischen Gedanken entwickelte und in die er seine Sehnsucht nach sozialer Gleichheit und nach besserer, sozial gerechterer Gesellschaft projizierte, wo das oberste Sittengesetz herrschen würde, Ausgangspunkt und Ziel seiner gesamten Ethik. "Wissenschaft, Religion, Sittlichkeit und Liebe zum Vaterland heißen die Ecksteine, auf die wir das Gebäude unseres Glückes zu gründen von unserem Lehrer sind angeleitet worden."(3) Im Jahre 1813 wurde eine kleine Auswahl der Reden herausgegeben, im Jahre 1828 wurde diese auf die Liste verbotener Bücher gegeben. Eine zweite, verbreitete Ausgabe bereitete im Jahre 1839 M. J. Fessl vor und in den Jahren 1849-1852 kam eine vierbändige Ausgabe heraus, besorgt von Bolzanos Schülern F. Prihonsky und E. Veverka. Eines der von Bolzano angesprochenen Themen war die Rolle des Tschechischen:"Vor allem die Pflege der tschechischen Sprache schien ihm eine wichtige Voraussetzung für die wachsende Wohlfahrt im Lande zu sein, denn als Sohn der Aufklärung glaubte Bolzano an die Wichtigkeit der Muttersprache, die allein es ermögliche, die Bildung an breite Volksschichten heranzutragen."(4) In Böhmen war zur Zeit des Kaisers Josephs II. deutsch die "gesamtländische Amtssprache", tschechisch war bloss die geltende Hilfsamtssprache. An der Universität wurde deutsch durch ein Dekret Josephs II. aus dem Jahre 1784 eingeführt (bisher wurde auf Lateinisch vorgetragen, wobei man später zum Lateinischen teilweise zurückkehrte, z.B. im Philosophieunterricht). Obwohl Bolzano seine Studenten u.a. dazu mahnte, das Tschechische zu erlernen, um den anderen "Volksstamm" besser zu verstehen, blieb für ihn die Sprache an sich lediglich ein Vehikel, rein äusserliches Kleid für Gedanken, d.h. für Vorstellungen an sich, also Kommunikationsmittel. Obwohl Bolzano die Sprache, Nation, zumal Staatsnation, nur als etwas Relatives anerkennt, wird die Vaterlandsliebe zu einem sittlichen Postulat, wie aus seiner Erbauungsrede "Über die Vaterlandsliebe" deutlich wird. Der folgende Abschnitt bringt einen Beweis seiner zukunfts-optimistischen Vision des möglichen Zusammenlebens von Tschechen und Deutschen innerhalb eines Staates, obwohl er keine Angst hatte, in einem Atemzug auch von "einer rechtmäßig auszuführenden Trennung und Erhebung zu Selbständigkeit" zu sprechen: "Aber zuweilen sind oft mehrere Völker zu einem Staate vereinigt und - ist hier anders die Vereinigung nicht allzugewaltsam und widernatürlich, und ist der Umfang des ganzen Staatskörpers nicht allzugroß, und ist auch all Hoffnung einer rechtmäßig auszuführenden Trennung und Erhebung zu Selbständigkeit verschwunden: wohlan, dann reisset auch alle Scheidewänden, die euch noch trennen, ab, ihr Völker dieses Einen Staates! Hebet alle Unterschiede auf, sprechet nicht "dieß Land ist mein Vaterland, und deines liegt dort!" weg mit dem Seitengeiste! Liebet und umarmt euch gemeinschaftlich als Kinder eines - Eines Vaterlandes! - Aber was heißt das: sich lieben als Kinder Eines Vaterlandes? Es heißt: die Vorzüge dieses Landes kennen und schätzen, und die Erhaltung und den steten Wachsthum derselben als seinen eigenen Vortheil ansehen und betreiben."(5) Bolzanos Ansichten im Sinne des böhmischen Landespatriotismus, des sogenannten Bohemismus, waren für die Geschichte des tschechischen Denkens und der tschechischen Bildung um so wichtiger, als bei Bolzano viele Studenten tschechischer Nation studierten, gerade in einer Zeit, wo das neuzeitliche tschechische Denken und die Wissenschaft erst in Ansätzen existierten. Bolzano ist einer der Wegbereiter einer axiomatischen Logik. Er benutzt in seinen Arbeiten rechteckige Diagramme für Beziehungen zwischen logischen Klassen. Er weist darauf hin, dass die vier klassischen Urteilsarten keine einheitlichen Gebilde sind, sondern vielmehr die Zusammenfassung mehrerer Möglichkeiten von Umfangsverhältnissen der Begriffe darstellen. Diese veranschaulicht er graphisch durch ein System von parallel durchgezogenen bzw. punktierten Strecken. Bolzano versucht alle Begriffe durch eine anatomische Analyse auf einfachste, nicht definierbare Grundbegriffe zurückzuführen, wie z. B. Existenz, Bewußtsein, Wollen, Dauer, Ausdehnung, Kraft, Beweglichkeit, Einheit und Identität. Edmund Husserl bezeichnete die Wissenschaftslehre als "ein Werk, das in Sachen der logischen Elementarlehre alles weit zurücklässt, was die Weltliteratur an systematischen Entwürfen der Logik darbietet." In seinem Werk "Athanasia oder Gründe für die Unsterblichkeit der Seele" sucht er im Anschluß an Leibnizens Monadologie Beweise für die Unsterblichkeit der Seele. In der Mathematik lieferte er wichtige Beiträge zur Grundlegung der Analysis und versuchte eine Theorie der reellen Zahlen zu begründen. Er formulierte Sätze, die K. Weierstraß später zur Theorie der Funktionen ausarbeitete. Seine mathematischen Schriften enthalten eine umfassende methodische Umgestaltung dieser Wissenschaft. In seiner Sozialutopie (z.B. Von dem besten Staate) verlangte er nicht nur die Förderung des allgemeinen Wohles, sondern auch die Gleichheit aller Menschen, bzw. die Abschaffung des Privateigentums. Die Bemühungen um die Gründung von Schulen, um die Verbreitung einer rationalistischen Theologie und die Schaffung einer Harmonie zwischen Deutschen und Tschechen beeinflußten Denker wie Adalbert Stifter und Anton Günther sowie viele Herbartische Philosophen. Die Einheit der Vernunft und der Gesellschaft gehört zu den charakteristischen Zügen der Bolzano'schen Ethik und führt uns unwillkürlich über von den theoretischen Fragen der metaphysischen Begründung zu den praktischen Fragen der Anwendung dieser Ethik bei dem Entwurf der zukünftigen vollkommenen Gesellschaft; also von der philosophischen Reflexion zu utopischen Politik. Anmerkungen: 1. Fessl, Michael Josef:Lebensbeschreibung des Dr. B. Bolzano mit einigen seiner ungedruckten Aufsätze und dem Bildnisse der Verfassers. Sulzbach, 1836. S. 14 2. Pavlíková, Marie: Bolzanovo působení na pražské univerzitě. Praha: Univerzita Karlova 1985, S. 65. 3. Fessl, Michael Josef: Lebensbeschreibung des Dr. B. Bolzano mit einigen seiner ungedruckten Aufsätze und dem Bildnisse der Verfassers. Sulzbach, 1836, S. XLIX. 4. Winter, Eduard: Der böhmische Vormärz in Briefen B. Bolzanos an F. Přihonsk_ (1824-1848). Beiträge zur deutsch-slawischen Wechselseitigkeit. Hrsg. von H.H. Bielfeldt, Berlin: Akademie Verlag 1956 (Veröffentlichungen des Forschungsinstituts für Slavistik 11) Pd 874 Nr. 11 UK Praha 5. Bolzano, Bernard: Über die Vaterlandsliebe. In: B. Bolzanos Erbauungsreden an die akad. Jugend. Prag 1850, S.: 145-156. 6. Loužil, Jaromír: Bernard Bolzanos Sitten- und Gesellschaftslehre. - In: Bernard Bolzano. Leben und Wirkung. Hrsg. v. Curt Christian. Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1981, S. 5-28 7. Johnston, William A.: Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellscahft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938. Wien - Köln - Graz: Böhlau, 1972, S. 279-293. 8. Bolzano, B.: Lehrbuch der Religionswissenschaft, Sulzbach 1834, I, § 88, 4.