Böhmisch oder tschechisch? Der Streit über die adäquate Benennung der Landessprache der böhmischen Länder zu Anfang des 20. Jahrhunderts Tilman Berger, Tübingen 29. September 2005 1. Vorbemerkungen zur Herkunft der Sprachbezeichnungen 1.1. ˇ böhmisch ­ Erstbelege Boemani, Beheimi, Beheimare etc. ab Ende des 8. Jhs., üblicherweise zurückgeführt auf den Namen der (keltischen) Boier; ˇ tschechisch, czechisch, čechisch ­ Erstbelege in russisch-kirchenslavischen Tex- ten (Česi) sowie ab Beginn der schriftlichen Überlieferung des Tschechischen im 14. Jh., ursprünglich Bezeichnung éines Stammes in Mittelböhmen, Etymologie umstritten (vgl. Blažek / Klain 2002), u. a. zu *čęti `anfangen' oder zu čeľadin `Knecht'. 1.2. Zur Quellenlage 2. Verwendung der Begriffe bis Ende des 18. Jahrhunderts ˇ böhmisch ­ der vorherrschende Ausdruck in beiden Bedeutungen, sowohl bezogen auf das Land wie auch auf die einheimische slavische Bevölkerung und ihre Sprache; ˇ tschechisch ­ fast nur in Ausführungen zur Etymologie belegt, vereinzelt zur Prä- zisierung bei der Gegenüberstellung mit deutsch. (1) Vnd darvmb, das ir vorweszer hies Czech, vnd darvmb nante sie sich Czechy, das ist czw dewcze, Pehem. (deutsche Übersetzung der Dalimilchronik) 1 Regensburg, 28.­30.09.2005 Tilman Berger, Tübingen (2) Deutschböhmen ­ Erztschech (Opiz 1782/1909) (3) ,,Die geographischen Benennungen kümmern mich wenig. Ragusiner, Macedoni- er, Bosnier sind doch Serben, Krainer, Besiaken, pannonische Kroaten sind dem Stamme nach Kroaten. Mährer, Slowaken sind geographisch keine Böhmen, aber doch Czechen". (Dobrovský in einem Brief an Kopitar vom Januar 1810) 3. Verwendung der Begriffe im Laufe des 19. Jahrhunderts ˇ böhmisch überwiegt weiterhin in den meisten Texten; ˇ tschechisch wird häufiger, zunächst in Kontexten, in denen vor allem um die Sprache geht, dann als abwertende Bezeichnung gegen die tschechische National- bewegung; ˇ erste Versuche einer bewussten Differenzierung. (4) František Jan Tomsa: Über die Aussprache der čechischen Buchstaben, Sylben und Wörter: Nebst Leseübungen. Prag 1801. (5) Mathias Kalina von Jaetenstein: Bemerkungen über die in Boehmen so häufig vor- kommende Verschiedenheit der Ortsnamen, in deutscher und czechischer Sprache. Prag 1825. (6) Franz Trnka: Praktisches Lehrbuch der čechischen vulgo böhmischen Sprache. Brünn 1830. (7) Böhmische Rosen: czechische Volkslieder. Übersetzt von Ida von Reinsberg-Dü- ringsfeld. Breslau 1854. (8) Böhmische Granaten: czechische Volkslieder. Übertragen von Alfred Waldau. Prag 1858. (9) ,,Herr Professor Palacky ist wahnsinnig geworden. Er stellt in einem ernsthaft gemeinten Aufsatz in diesen Blättern an die Regierung die Anforderung, den ein- zelnen Kronländern eigene Ministerien des Innern, des Unterrichts usw. zu ge- währen. (. . . ) Glücklicherweise aber ist Herrn Palackys Gesinnung nicht die der Mehrheit seiner Landsleute, sondern nur einer kleinern Fraktion, der Partei der germanisierten Tschechen. Nachdem sie alles, was sie wissen und können von den Deutschen gelernt haben, ahmen ihnen zum schuldigen Dank, auch ihre neuesten Narrheiten nach. (. . . ) Glücklicherweise aber, wiederhole ich, gibt es noch einen Kern der Nation, der von diesen slavischen Deutschtum nicht angesteckt ist. Es sind jene eigentlichen Tschechen, verständig natürliche Menschen, die ihre Spra- che reden, weil sie eben ihre Muttersprache ist, aber auch nichts dagegen hätten, Regensburg, 28.­30.09.2005 Tilman Berger, Tübingen sich einer anderen zu bedienen, wenn sie zufällig zehn Meilen weiter rechts oder links geboren wären." (Grillparzer 1964, 1051f.) (10) ,,Darauf kann ich nur im vollen Selbstbewußtsein erwidern: daß ich weder ein Čeche noch ein Deutscher, sondern nur ein Böhmen bin, daß ich, von inniger Vaterlandsliebe durchglüht, das Unterdrückenwollen einer dieser beiden Natio- nalitäten ­ gleichviel welcher ­ als das unheilvollste Mißgeschick betrachte, und daß ich für meine čechischen Brüder das Wort ergreife, weil ich es für Ritterpflicht halte, auf der Seite des Schwächern zu stehen." (von Thun 1845) (11) Debatte des Böhmischen Landtags vom 9. April 1861: die ,,nichtdeutschen" Abge- ordneten lehnen die Bezeichnung Czechen ab und bestehen auf der Bezeichnung als Böhmen. (Beer 1917, 56ff.) (12) Richard Andree: Tschechische Gänge. Böhmische Wanderungen und Studien. Leipzig 1872. 4. Entwicklung ab dem Anfang des 20. Jahrhunderts ˇ böhmisch wird als Sprachbezeichnung immer seltener und ist vor allem für offizielle Texte charakteristisch; ˇ tschechisch setzt sich im inoffiziellen Gebrauch durch, auch in Texten, die von Tschechen verfasst sind; ˇ Stützung des Gebrauchs von tschechisch durch die häufige Verwendung von tsche- choslawisch bzw. später tschechoslowakisch. (13) 1902 Debatte zwischen Max Burckhardt und Fritz Pick in der Wiener Zeitung ,,Die Zeit" (14) [Wenn man von mir verlangt], ich solle die Böhmen Czechen nennen, damit sich die Deutschen in Böhmen Böhmen nennen können, so fehlt mir hierfür jedes Verständnis. (Burckhardt) (15) Zur Benennung der deutschsprachigen Zeitschrift ,,Čechische Revue": ,,Wir brau- chen ein schlagendes Wort zur Bezeichnung unseres Volksstamms, und das kann böhmisch nicht sein, da es zweideutig ist: es bedeutet auch jeden Angehörigen dieses Königreiches und seine deutschen Bewohner nehmen es mit in Anspruch. ­ Da wir nun nicht bloss čechische, sonder auch böhmische Patrioten sind, kann es uns nur willkommen sein, wenn auch die Deutschen Böhmens gute Böhmen sein und heissen wollen; es gibt Aufgaben genug, bei denen ein Zusammenwirken aller Böhmen möglich und wünschenswert wäre." (Kraus 1909) Regensburg, 28.­30.09.2005 Tilman Berger, Tübingen (16) 1917-1921 Debatte zwischen Antonín Beer und Arnošt Kraus über ,,böhmisch a tschechisch" (17) Stichprobe in einem Internetkatalog (Südwestdeutscher Bibliotheksverbund) Jahr böhmisch czechisch čechisch tschechisch 1895­1899 27 0 0 0 1900­1904 35 0 0 2 1905­1909 31 0 4 2 1910­1914 32 1 2 9 1915­1919 24 0 0 6 1920­1924 19 0 0 12 1925­1929 23 0 2 24 2000 24 0 0 110 5. Zusammenfassender Überblick ˇ ,,normale" Bedeutungsentwicklung vom Zitat über eine fakultative Bezeichnung der Sprache und der sie zu tragenden Bevölkerung bis zur differenzierenden Bezeich- nung; ˇ komplexes Wechselverhältnis von Selbstbezeich- nung und Fremdbezeichnung; ˇ Wunsch nach Markierung der staatsrechtlichen Priorität vs. Selbstdarstellung der erfolgreichen Nationalbewegung; ˇ Rolle der Außensicht von außerhalb Österreich-Ungarns noch zu klären. 6. Böhmisch und Tschechisch bei Kafka (18) Der Petent ist der deutschen und böhmischen Sprache in Wort und Schrift mäch- tig, beherrscht ferner die französische, teilweise die englische Sprache. (Bewer- bungsschreiben vom 30. Juni 1908) (19) Nun sagte er das aber tschechisch, und von der Liebe, Bewunderung und Zartheit, die sich in dem Worte ,,Kněžna" vereinigen, ist in ,,Fürstin" keine Ahnung, denn dieses Wort ist ganz auf Pracht und Breite hergerichtet. (Brief an Felice Bauer vom 13.-14. Januar 1913) (20) Als solcher sage ich Dir, daß an Milena tschechisch eigentlich nur das Diminutiv ist: milenka. Ob es dir gefällt oder nicht, das sagt die Philologie. (Brief an Milena vom 24. Juni 1920) Regensburg, 28.­30.09.2005 Tilman Berger, Tübingen 7. Epilog (21) Höchstpunkt diese Landschaft ist Berg Zvičina, wo sich erste Flugplatz für Se- gelflieger und auch gut geeignete Gebiet für Schifahrern, Paraglyding, Radfahren usw. befindet. Hiernächst, in Tschechische Paradies ist Naturschutzgebiet wo sich eine menge von Sandsteinstadt, Schloss, Burg und anderen interessanten Natur- gebieten findet. (Internetseite eines Hotels in Hořice) 8. Literaturverzeichnis Beer, A. 1917. K dějinám slova böhmisch a čechisch. Praha. Beer, A. 1921. Arnošt Kraus: Ještě jednou böhmisch a tschechisch. Praha. Bělič, J. 1951. K otázce češtiny jako národního jazyka. In: Slovo a slovesnost 13, 71­86. Berger, T. 2000. Nation und Sprache: das Tschechische und das Slovakische. In: A. Gardt (Hrsg.): Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, Ber- lin / New York, 825­864. Berger. T. 2001. Sprache und Nation. In: W. Koschmal, M. Nekula, J. Rogall (Hrsg.): Deutsche und Tschechen. Geschichte ­ Kultur ­ Politik, München, 186­192. Blažek, V. / Klain, V. 2002. Etnonymum Čech v kontextu slovanských a indoevropských etn- onym. In: Čeština ­ univerzália a specifika 4, 37­50. Grillparzer, F. 1964. Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Bd. 3. Darm- stadt. Kořalka, J. 1991. Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815­1914: sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern. Wien. Kraus, A. 1917. Böhmisch nebo Tschechisch? Sonderdruck aus Naše doba 24. Kraus, A. 1921. Anti-Beer. Duplika. Praha. Kraus. A. 1921. Ještě jednou böhmisch a tschechisch. Na obranu. Praha. Lemberg, H. 1993. Haben wir wieder eine ,,Tschechei"? Oder: Wie soll das Kind denn heißen? In: Bohemia 34, 106­114. Nekula, M. 2003. Franz Kafkas Sprachen. . . . in einem Stockwerk des innern babylonischen Turmes . . . . Tübingen. Opiz, J. F. 1909. Johann Ferdinand Opiz' Autobiographie, aus seiner ,,Literarischen Chronik von Böheim" gezogen u. mit Anm. begleitet von Ernst Kraus. von Thun, J. M. 1845. Der Slawismus in Böhmen. Prag 1845.