HUGO VON HOFMANNSTHAL Gabriele d'Annunzio Man hat manchmal die Empfindung, als hätten uns unsere Väter, die Zeitgenossen des jüngeren Offenbach, und unsere Großväter, die Zeitgenossen Leopardis, und alle die unzähligen Generationen vor ihnen, als hätten sie uns, den Spätge- borenen, nur zwei Dinge hinterlassen: hübsche Möbel um überfeine Nerven. Die Poesie dieser Möbel erscheint uns als das Vergangene, das Spiel dieser Nerven als das Gegenwärti- tige. Von den verblaßten Gobelins nieder winkt es mit schmalen weißen Händen und lächelt mit altklugen Quatrocento-Gesicht- chen; aus den weißlackierten Sänften von Marly und Trianon, aus den prunkenden Betten der Borgia; und der Vendramin hebt sichs uns entgegen und ruft: »Wir hatten die stolze Liebe, die funkelnde Liebe; wir hatten die wundervolle Schwelgerei und den tiefen Schlaf; wir hatten das heiße Leben; wir hatten die süßen Früchte und Trunkenheit, die ihr nicht kennt.« Es ist, als hätte die ganze Arbeit dieses feinfühligen, eklektischen Jahrhunderts darin bestanden, den vergangenen Dingen ein unheimliches Eigenleben einzuflößen. Jetzt umflattern sie uns, Vampire, lebendige Leichen, beseelte Besen des unglücklichen Zau- berlehrlings! Wir haben aus den Toten unsere Abgötter d'Annunzio: Gabriele d'A. (1863-1938), italienischer Dichter; Hauptvertreter der symbolistisch-dekadenten Richtung, die den Verismus, den italienischen Naturalismus, ablöste. Offenbach: Jacques O. (d. i. Jacques Eberst, 1819-90), Schöpfer und Meister der französischen Operette (»opera comique«). Leopardis: Giacoma Graf Leopardi (1798-1837), bedeutendster Lyriker Ita- liens seit Petrarca; Grundthemen: Weltschmerz, Todessehnsucht; Haupt- werke: Canti (1831); Pensieri (1845). Quattrocento: s. Anm. S. 332. Marly: M.-le-Roi, Lustschloß Ludwigs XIV. Trianon: Name zweier Lustschlösser im Park von Versailles. Borgia ... Vendramin: s. Anm. S. 301. 340 gemacht; alles, was sie haben, haben sie von uns; wir haben ihnnen unser bestes Blut in die Adern geleitet; wir haben diese Schatten umgürtet mit höherer Schönheit und wundervolle- rer Kraft als das Leben erträgt; mit der Schönheit unserer Sehnsucht und der Kraft unserer Träume. Ja alle unsere Schönheits- und Glücksgedanken liefen fort von uns, fort aus dem Alltag, und halten Haus mit den schöneren Geschöpfen eines künstlichen Daseins, mit den schlanken Engeln und Pagen des Fiesole, mit den Gassenbuben des Murillo und den mondänen Schäferinnen des Watteau. Bei uns aber ist nichts zurückgeblieben als frierendes Leben, schale, öde Wirklichkeit, flügellahme Entsagung. Wir haben nichts als ein sentimentales Gedächtnis, einen gelähmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung. Wir schauen unserem Leben zu; wir leeren den Pokal vor- zeitig, und bleiben doch unendlich durstig: denn, wie neulich Bourget schön und traurig gesagt hat, der Becher, den uns das Leben hinhält, hat einen Sprung, und während uns der volle Trunk vielleicht berauscht hätte, muß ewig fehlen, was während des Trinkens unten rieselnd verlorengeht; so emp- finden wir im Besitz den Verlust, im Erleben das stete Versäumen. Wir haben gleichsam keine Wurzeln im Leben und streichen, hellsichtige und doch tagblinde Schatten, zwischen den Kindern des Lebens umher. Wir! Wir! Ich weiß ganz gut, daß ich nicht von der ganzen großen Generation rede. Ich rede von ein paar tausend Menschen, in den großen europäischen Städten verstreut. Ein paar davon sind berühmt; ein paar schreiben seltsam trockene, gewissermaßen grausame und doch eigentümlich rührende und ergreifende Bücher; einige, schüchtern und hochmütig, schreiben wohl nur Briefe, die man fünfzig, Fiesole s. Anm. S.238. Murillo: Bartolomé Esteban M. (1618-82), spanischer Maler; Hauptvertreter Schule von Sevilla; vor allem religiöse Darstellungen und Genrebilder. Watteau: s.Anm. S. 177. Bourget: s. Anm. S.318. 341 sechzig Jahre später zu finden und als moralische und psy- chologische Dokumente aufzubewahren pflegt; von einigen wird gar keine Spur übrigbleiben, nicht einmal ein traurig- boshaftes Aphorisma oder eine individuelle Bleistiftnotiz, an den Rand eines vergilbten Buches gekritzelt. Trotzdem haben diese zwei- bis dreitausend Menschen eine gewisse Bedeutung: es brauchen keineswegs die Genies, ja nicht einmal die großen Talente der Epoche unter ihnen zu sein; sie sind nicht notwendigerweise der Kopf oder das Herz der Generation: sie sind nur ihr Bewußtsein. Sie fühlen sich mit schmerzlicher Deutlichkeit als Menschen von heute; sie verstehen sich untereinander, und das Privilegium dieser geistigen Freimaurerei ist fast das einzige, was sie im guten Sinne vor den übrigen voraushaben. Aber aus dem Rot- welsch, in dem sie einander ihre Seltsamkeiten, ihre beson- dere Sehnsucht und ihre besondere Empfindsamkeit erzäh- len, entnimmt die Geschichte das Merkwort der Epoche. Was von Periode zu Periode in diesem geistigen Sinn »modern« ist, läßt sich leichter fühlen als definieren; erst aus der Perspektive des Nachlebenden ergibt sich das Grundmo- tiv der verworrenen Bestrebungen. So war es zu Anfang des Jahrhunderts »modern«, in der Malerei einen falsch verstan- denen Nazarenismus zu vergöttern, in der Poesie, Musik nachzuahmen, und im allgemeinen, sich nach dem »Naiven« zu sehnen: Brandes hat diesen Symptomen den Begriff der Romantik abdestilliert. Heute scheinen zwei Dinge modern zu sein: die Analyse des Lebens und die Flucht aus dem Leben. Gering ist die Freude an Handlung, am Zusamm- spiel der äußeren und inneren Lebensmächte, am Wilhelm- Nazarenismus: Nazarener: urspr. Spottname für eine Gruppe von Malern, sich sich 1809 in Wien als »Lukasbund« zusammenfand und die eine Erneuerung der Kunst auf religiöser Grundlage nach mittelalterlichem Vorbild anstrebte; zu ihr gehörten u. a. Friedrich Overbeck, Peter Cornelius, Schadow, m Brüder Veit, Schnorr von Carolsfeld. In Rom, wohin die Lukasbrüder 1810 übergesiedelt waren, bewohnten sie das Kloster San Isidoro am Pincio. Brandes: s. Anm. S. 151; gemeint ist hier wohl sein Werk Hauptströmungen der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts (1872-90), Bd. 2: Die roman- tische Schule in Deutschland. 342 Meisterlichen Lebenlernen und am Shakespearischen Welt- lauf. Man treibt Anatomie des eigenen Seelenlebens, oder man träumt. Reflexion oder Phantasie, Spiegelbild oder Traumbild. Modern sind alte Möbel und junge Nervositä- ten. Modern ist das psychologische Graswachsenhören und das Plätschern in der reinphantastischen Wunderwelt. Modern ist Paul Bourget und Buddha; das Zerschneiden von Atomen und das Ballspielen mit dem All; modern ist die Zergliederung einer Laune, eines Seufzers, eines Skrupels; und modern ist die instinktmäßige, fast somnambule Hin- gabe an jede Offenbarung des Schönen, an einen Farbenakkord, eine funkelnde Metapher, eine wundervolle Allegorie. Ein geistreicher Franzose schreibt die Monographie eines Mörders, der ein experimentierender Psychologe ist. Ein geistreicher Engländer schreibt die Monographie eines Gift- mischers und Urkundenfälschers, der ein feinfühliger Kunstkritiker und leidenschaftlicher Kupferstichsammler war. Die landläufige Moral wird von zwei Trieben verdunkelt: dem Experimentiertrieb und dem Schönheitstrieb, dem Trieb nach Verstehen und dem nach Vergessen. In den Werken des originellsten Künstlers, den Italien augenblicklich besitzt, des Herrn Gabriele d'Annunzio, kri- stallisieren sich diese beiden Tendenzen mit einer merkwürdigen Schärfe und Deutlichkeit: seine Novellen sind psycho- pathische Protokolle, seine Gedichtbücher sind Schmuckästchen; in den einen waltet die strenge nüchterne Termi- nologie wissenschaftlicher Dokumente, in den andern eine beinahe fieberhafte Farben- und Stimmungstrunkenheit. 343