Literatur in der Wiener Moderne: Lexikalische Artikel Klaus Zelewitz, Barbara Schober August 30, 2000 4 Peter Altenberg 1859-03-09 (Wien (A)) bis 1919-01-08 (Wien (A)) A. entstammte einer gutsituierten jüdischen Wiener Kaufmannsfamilie, besuchte - wenige Jahre vor Arthur Schnitzler - das Akademische Gymnasium. Er studierte Jus und Medizin, beides kurz und ohne wesentlichen Erfolg. Nachdem er auch eine Buchhändlerlehre abgebrochen hatte, attestierte ihm ein Arzt wegen ”überempfindlichkeit des Nervensystems” Berufsunfähigkeit. Dieser Befund verlieh A. eine modische Aura und stempelte ihn zum Bohemien. Er schwankte ständig zwischen Depressionen, Alkohol und Drogen und steckte immer wieder in finanziellen Schwierigkeiten. Das daraus resultierende interessante Renommee nutzte er zu pädophilen Kontakten mit sehr jungen Mädchen hart an der Grenze des Strafrechts. Andererseits lehnte er die Ausbeutung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft strikt ab und lavierte derart als ”neuer Mann” in einem widersprüchlichen Spannungsverhältnis. A. war zum Mitglied von ”Jung-Wien” prädestiniert, nahm im Konflikt zwischen der Gruppe und Karl Kraus kaum offen Partei, stellte sich aber doch erkennbar auf die Seite des Herausgebers der ”Fackel”. Er bewunderte Adolf Loos und vor allem Gustav Klimt. Als ”Schnorrer” lebte der Schriftsteller mehr recht als schlecht und bewegte sich zu allen modischen Orten, von den Wiener Kaffeehäusern bis zu den Touristenzentren am Semmering - so auch der Titel eines Bandes: Semmering 1912 (1913) - oder im Salzkammergut. A.begann erst mit 30 mit dem Schreiben, zu seiner ersten Veröffentlichung wurde er von Karl Kraus und Arthur Schnitzler gedrängt. Dann jedoch hatte er die Feder ständig zur Hand und hielt seine Eindrücke fest: ”Nie weiß ich mein Thema vorher, nie denke ich nach”, schrieb er im Juli 1894 an Schnitzler, und: ”Ich hasse die Retouche!”. Als Auslöser für diese ”Extrakte” (Altenberg) konnten dabei ebenso eine Begegnung mit einer Frau wie ein Landungssteg am Traunsee fungieren. So entstanden Hunderte von kurzen Skizzen, von höchst unterschiedlicher Qualität, aber in ihrer subjektiven, unverstellten Unmittelbarkeit beeindruckend: Wie ich es sehe, 1896; Was der Tag mir zuträgt, 1900; und andere. So spontan diese Prosaskizzen niedergeschrieben wurden - häufig als journalistische Tagesarbeit, zeigen sie doch umfassend rhetorische Muster, arbeiten mit Pointen, anaphorischen Wiederholungen und Paradoxen. A. beeindruckte beinahe alle wesentlichen deutschsprachigen Autoren seiner Zeit, von Egon Friedell bis Franz Kafka, die ihm gegenüber bewundernd bis abwehrend (Thomas Mann) Position bezogen. 13 5 Leopold von Andrian-Werburg 1875-06-09 (Wien (A)) bis 1951-11-19 (Fribourg (CH)) A. war der Sohn eines anerkannten Geologen und Anthropologen und einer Tochter des Komponisten Giacomo Meyerbeer, besuchte kurz das jesuitische Elite-Gymnasium in Kalksburg bei Wien und wurde dann vom späteren Literaturwissenschaftler Oskar Walzel privat unterrichtet. Nach dem Jus-Studium in Wien war A. als Diplomat in Buenos Aires, Rio de Janeiro, St. Petersburg, Athen und schließlich als Generalkonsul in Warschau tätig. Im 1. Weltkrieg kehrte er dorthin als Gesandter zurück, agierte beim Frieden von Brest-Litowsk als enger Mitarbeiter des k.u.k. Außenministers Graf Czernin und wurde drei Monate vor Kriegsende zum letzten Generalintendanten der Wiener Hoftheater bestellt. Mit Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauss, Franz Schalk, Alfred Roller und Max Reinhardt trug er zum Konzept für die Salzburger Festspiele bei. A. lebte dann als Pensionist zum Teil zurückgezogen in Altaussee, war aber auch viel auf Reisen und musste als Monarchist 1938 ins brasilianische Exil. Knapp vor seinem Tod unternahm er im Südsommer 1950/51 gemeinsam mit seiner zweiten Frau eine ausgedehnte Reise nach ”Jenseits von Afrika”, in die spätkolonialen Gefilde Rhodesiens und Südafrikas; eine Zeitreise zugleich, denn in Kapstadt traf er mit dem greisen Germanisten Joachim Roßteutscher zusammen, der ihm unbekannt gewesene Details vom jungen Hofmannsthal erzählte. Literarisch stand A. ursprünglich dem George-Kreis nahe und Stefan Georges ”Blätter für die Kunst”. Das Irrationale, Antibürgerliche - vielleicht nur Attitude - figurierte als Anstoß zu einer inneren, solipsistischen Reflexion, ideal repräsentiert in Erwin, dem Protagonisten der Novelle Der Garten der Erkenntnis (1895). Seine Lebensweise trägt Züge eines Intellektuellen der Jahrhundertwende a la Andrian: Finanziell abgesichert, mit attraktivem sozialen Status, versucht er, das Leben zum Kunstwerk zu stilisieren und die äußeren Anlässe nur insofern innerlich zu verarbeiten, dass sich ihm die ganze Außenwelt samt Menschen und Dingen entfremdet. Die ”In-Novelle”, aus einer Schwebeposition zwischen Ornament und Märchen erzählt, vom George-Kreis und Jung-Wien bewundert, trägt gemeinsame Züge mit Jugendwerken Hofmannsthals, wie etwa Der Tor und der Tod (1893) und Das Märchen der 672. Nacht (1905): Erwin lebt in einer solipsistischen Eigenwelt, und die erträumte ”Realität” überdeckt die ”äußere” Wirklichkeit so, dass sich alles miteinander vermischt. Insofern hat er eine Dandy-Haltung, er schaut seinem Leben nur zu, statt es aktiv zu durchleben. Es gelingt 15 ihm nur einen Augenblick lang zu glauben, dass es ihm gelungen sei, den Schlüssel zur Erkenntnis zu finden. In späteren Schriften plädierte A. für Sittlichkeit, für christliche Ordnung und für ein (konservativ-utopisches) Österreich als dessen Inbegriff ( Österreich im Prisma der Ideen). 7 Hermann Bahr 1863-07-19 (Linz (Oberösterreich, A) bis 1934-01-15 (München (D) Der Sohn eines gut situierten Notars aus Linz (später Karl Kraus: ”der Herr aus Linz”) besuchte das Gymnasium in Salzburg und studierte, von zwei Universitäten wegen deutschnationaler Umtriebe relegiert, klassische Philologie, Philosophie, Jura und National ökonomie ohne Abschluss. Er sympathisierte dann mit der Sozialdemokratie verlagerte aber während seines Parisaufenthalts zwischen 1888 und 1890 seine Interessen auf eine schriftstellerische Karriere. Dort begann seine rege Tätigkeit als Literatur- und Kunstkritiker; 1891 kehrte er über Berlin nach Wien zurück, wo er sich bald als Theater-, Literatur- und Kunstkritiker, als Essayist, Dramen- und Romanautor durchsetzte. Die Höhepunkte seiner Karriere als Theaterpraktiker bildeten das Engagement als Regisseur am Deutschen Theater in Berlin 1906/07 und die Leitung des Wiener Burgtheaters 1918. Von 1895 bis 1909 war B. mit der Schauspielerin Rosa Jokl, ab 1909 mit der Opernsängerin Anna Mildenburg verheiratet. 1912 übersiedelte das Paar nach Salzburg, 1922 weiter nach München. B. zählt zu den vielseitigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten im Kulturleben Wiens um 1900. Von größter Bedeutung für die Entwicklung der Künste in Österreich sind seine kritischen, essayistischen und organisatorischen Leistungen als ”Bahnbrecher der Moderne” (D. G. Daviau) in der Vermittlung europäischer Kunsttendenzen und der Unterstützung neuer Autoren (”Jung-Wien”). Zudem war er ein engagierter Förderer der Wiener Secession (Essaysammlungen: Zur Kritik der Moderne, 1890; Die überwindung des Naturalismus, 1891; u. a. ). Als Kritiker bemühte sich B. um die Modernisierung des Theaters (Theaterkritiken: Wiener Theater, 1899; Premieren, 1902; Rezensionen, 1903; Glossen zum Wiener Theater, 1907). Seit Ende der 1890er Jahre akzentuierte B. zunehmend die österreichische Barock-Tradition (Essaysammlungen: Bildung, 1900; Austriaca, 1911; Inventur, 1912; Expressionismus, 1916 u. a.). B.s. künstlerische Schaffen im engeren Sinne erreicht nicht den Rang seiner kritischen Schriften und ist heute großteils vergessen. Als Dramatiker war B. allerdings einer der meistgespielten Wiener Autoren seiner Zeit. Nach epigonalen Anfängen im Zeichen der Décadence (u. a. Die Mutter, 1891) erhob B. den Publikumserfolg zum obersten Gebot und schuf rund vierzig Theaterstücke von geschickter Dialogführung und großer Bühnenwirksamkeit, oft jedoch ohne ausgewogene Charakterzeichnung und Hand- 19 lungsstruktur. Die meisten Stücke sind Komödien, die z. T. an die Wiener Volkstück und Lustspieltradition anknüpfen (Komödie Das Konzert, 1909). Auch das Erzählwerk stand anfangs im Zeichen der Décadence (Die gute Schule, 1890 u. a.). Weitere acht Romane, in formaler und thematischer Hinsicht eher konventionell, verarbeiten B.s Erfahrungen im Theatermilieu (Theater, 1897) bzw. gestalten sein persönliches Österreichbild in einem unvollendeten Roman-Zyklus zur österreichischen Vor- und Nachkriegszeit (Die Himmelfahrt, 1916; Die Rotte Korahs, 1919, u. a.). Die Werke B.s existieren - mit wenigen Ausnahmen - nur in der Erstausgabe. Der Nachlass befindet sich im Österreichischen Theatermuseum in Wien. Seine Privatbibliothek wird von der Universitätsbibliothek Salzburg verwaltet. 8 Richard Beer-Hofmann 1866-07-11 (Wien (A)) bis 1945-09-26 (New York (USA)) B.-H. verlor seine Mutter bei seiner Geburt, seinen Vater nicht viel später und wuchs bei Adoptiveltern in Wien und Brünn (Brno) auf. Er studierte Jus, arbeitete als freier Schriftsteller und zählte von Anfang an zum engsten Kreis von Jung-Wien, und dabei zu den führenden Antinaturalisten. Klug, aber immer etwas zurückhaltend, extravagant gekleidet, war er im Kreis der Schriftsteller hoch geachtet, besonders auch bei Hugo von Hofmannsthal, zu dem er aber wegen dessen Anbiederung ans Christentum Distanz hielt. Eng befreundet war er mit Arthur Schnitzler, mit dem ihn auch literarisch vieles verband. Beinahe gleichzeitig veröffentlichten beide im”inneren Monolog” ablaufende Texte, B.-H. die Erzählung Der Tod Georgs (1900): Dieses Ereignis - der Arzt Georg ist nach längerer Zeit überraschend als Besucher aufgetaucht und ebenso überraschend verstorben - ist fast das einzige äußere, alle anderen verlaufen im Innern. In der Pantomime Pierrot Hypnotiseur hatte B.-H. schon 1892 die Grenzen der Manipulation des Menschen durch Hypnose aufgezeigt. Sein Schlaflied für Miriam machte B.-H. 1897 schlagartig auch einem größeren Kreis bekannt. Das wunderbare Lied enthält zugleich ein Bekenntnis zur jüdischen Tradition. In mehreren Werken macht B.-H. deutlich, welche Rolle Geld in der Gesellschaft spielt: Der Wert der Vorstadtgeliebten Franzi in der Novelle Camelias (1891) ist durch die Ablöse bestimmt, die Dandy Freddy für sie bezahlt hat. Aber auch für alle möglichen Varianten des weiteren Verlaufs der Beziehung ist mit klaren, vertraglich fixierten Regelungen vorgesorgt. Im Drama Der Graf von Charolais (1904) wird auf der politischen Bühne der Leichnam des alten Grafen als Pfand für aushaftende Schulden genommen und direkt zu Tausch gegen Geld angeboten und so der dramatische Konflikt geschürzt. In den zwanziger Jahren leistete B.-H. Regiearbeit unter Max Reinhardt, die frühen Dreißiger kennzeichnen seine dramatische Arbeit am jüdischen David-Stoff. Er war einerseits ein Assimilierter, der sich freilich andererseits stark für das Judentum und für jüdische literarische Themen interessierte: Versuche, ihn deshalb jedoch für den Zionismus zu vereinnahmen, entbehren der Grundlage. 1938 exilierte B.-H. zuerst nach Zürich, dann weiter in die USA. In New York starb er knapp nach Ende des 2. Weltkriegs. 23 29 Hugo von Hofmannsthal 1874-02-01 (Wien (A)) bis 1929-07-15 (Rodaun bei Wien (A)) Hugo Laurenz August Hofmann, Edler von Hofmannsthal, war der einzige Sohn von Hugo August Peter (1841-1915) und Anna Maria Josefa Hofmann, geborener Fohleutner (1852-1904). Er besuchte das Akademische Gymnasium in Wien, nachdem er durch Privatlehrer gründlich vorbereitet worden war. 1890 veröffentlichte er sein erstes Gedicht, das Sonett Frage. Um 1891 veröffentlichte er unter ”Loris” und anderen Pseudonymen auch seinen ersten Einakter Gestern. Autoren wie Paul Bourget, Henri-Frédéric Amiel, Maurice Barr`es beschäftigten ihn, persönliche Begegnungen gab es u. a. mit Richard Beer- Hofmann, Arthur Schnitzler und Hermann Bahr. Er war befreundet mit Josephine von Wertheimstein, Leopold von Andrian, Eberhard von Bodenhausen u. a. H. reiste durch die Schweiz, Südfrankreich, Italien. Vor allem Venedig schlug sich in seinen Gedichten und im Andreas-Roman nieder. Sein Militärdienst bei den Dragonern in Göding / Hodonín qualifizierte ihn zum Reserveoffizier. H. studierte Jus und Romanistik (Dissertation über den Sprachgebrauch bei den Dichtern der Pléjade, 1898; Habilitation Studie über die Entwicklung des Dichters Victor Hugo, 1901). 1901 heiratete H. Gertrud Schlesinger und übersiedelte nach Rodaun bei Wien, wo beide bis zu seinem Lebensende wohnten. 1902 entstand der berühmte, sprachskeptische Chandos-Brief. H.s. Schaffen ist aktiver, sprühender, unsterblicher Geist. Lyrik, Epik und Dramatik sind in seinem gesamten Werk aufs engste miteinander verbunden. Vor allem seine Essays haben in und außerhalb seiner Zeit eine besondere Wirkung erreicht, besonders auch eine Struktur- und Stiluntersuchungen zu Texten. Auch wenn Hofmannsthal den Begriff ”Essay” nicht gern verwendete, den er ”eine alles verschlingende Unform” nannte: Sein essayistisches Werk umfasst über tausend Druckseiten und erschien in verschiedenen Ausgaben unter dem Titel Reden und Aufsätze. Es ist ein Schaffen im Dienste der Ich-Findung und der schriftstellerischen Verantwortlichkeit, ein Wirken im Sinne eines modernen, fortschrittlichen, vereinten Europa der Nationen. In heutiger Terminologie könnte man H. als Verfechter der Multikulturalität bezeichnen. Beeindruckend an ihm ist sein Dialog mit der Vergangenheit, mit allen Epochen der Geschichte und Kultur, auch mit der sogenannten ”österreichischen Idee”. Er versucht, das Unerreichte, wohl auch Unerreichbare zu rekonstruieren, indem er ästhetische, psychologische, ethische und soziale Aspekte kombiniert. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts vermag H. Tradition, Bildung und Kultur gültig zu vermitteln. 65 38 Karl Kraus 1874-04-28 (Gitschin – Jičín (Böhmen, A) (CZ)) bis 1936-06-12 (Wien (A)) K. wurde 1874 als Kind jüdischer Eltern in der böhmischen Kleinstadt Gitschin (Jičín) geboren, verbrachte seine Kindheit aber v.a. in Wien. Sein Vater besaß eine große Papierfabrik. Sein Erbschaftsanteil nach dessen Tod machte K. finanziell unabhängig. Sein Studium - darunter Jus und Germanistik - an der Wiener Universität beendete K. nicht. Vielmehr fühlte er ein schriftstellerisch-kritisches und ein schauspielerisches Talent. Er sozialisierte sich literarisch um Jung-Wien, ging aber zu dieser (nach seiner Meinung: zu modisch-unverbindlichen) Literatur bald auf kämpferische Distanz (Die demolirte Litteratur, 1896/97). Damit und mit der Ablehnung, ein Feuilletonist für Tageszeitungen zu werden, machte er sich Gegner. Er suchte den Konflikt mit dem Promotor aller literarischen Moden, dem ”Herrn aus Linz” Hermann Bahr (Die überwindung des Hermann Bahr, 1893). Ab 1899 veröffentlichte K. die Zeitschrift ”Die Fackel”, ein ”Anti-Medium”, mit dem er die Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft angriff. K. suchte den Kampf gegen die Zeitungspresse, auch über die Gerichte. Daneben hielt er viele Vorlesungen (u.a. Texte des jungen Bertold Brecht), verfasste Aphorismen, Gedichte, Theaterstücke, von denen wenige zu seinen Lebzeiten zur Aufführung kamen, denn der Autor war auch mit sich selbst sehr streng. Daneben widmete er sich der Aktualisierung, Bearbeitung und übersetzung von älteren Theaterstücken u.a. von Johann Nestroy, Jacques Offenbach und Shakespear. Zudem gab er ausgewählte Texte aus der ”Fackel” in Büchern heraus (u. a. Sittlichkeit und Kriminalität, 1908, Die chinesische Mauer, 1912). Zum Judentum, besonders zum Zionismus, hatte K. eine distanzierte Position und sympathisierte zeitweise mit den Thesen Otto Weiningers. 1897 trat K. aus der israelischen Kultusgemeinde aus, 1911 bekannte er sich zum Katholizismus. Der Auseinandersetzung mit dem Hurrapatriotismus des 1. Weltkriegs stellte er sich am intensivsten mit seinem dramatischen Fanal Die letzten Tage der Menschheit. Das letzte Heft der Fackel erschien 1936 - nachdem K. auf die politische Kritik am Nationalsozialismus angesichts dessen enormer Ungeheuerlichkeit wortreich verzichtet hatte. Einige Monate später starb K. knapp vor dem sogenannten ”Juli-Abkommen”, das die Normalisierung der Beziehungen zwischen dem 3. Reich und der Republik Österreich fixierte. 42 Ernst Mach 1838-02-18 (Chirlitz bei Brünn (Mähren,)/Chrlice bei Brno (CZ)) bis 1916-02-19 (Vaterstetten bei München (D)) M. wurde als ältestes von drei Kindern in Mähren in der Nähe von Brünn (Brno) geboren. Vater Johann war Lehrer und Erzieher und gab M. auch Privatunterricht. M. war ”ein schwaches elendes Kind”. 1840 übersiedelte die Familie nach Niederösterreich, wo der Vater eine Landwirtschaft erwarb. Früh kristallisierte sich M.s Interesse für Technik heraus. Durch seine Tischlerlehre erwarb sich M. die Achtung vor der Arbeiterschaft, die später in seiner Befürwortung der Sozialdemokratie zum Ausdruck kommen sollte. Mit 15 Jahren trat er in die 6. Klasse eines öffentlichen Gymnasiums ein. In dieser Zeit kam er in Kontakt mit der metaphysischen Lehre von Kant, die er später kritisierte. Mit 17 Jahren begann M. an der Wiener Universität zu studieren und bildete sich autodidaktisch weiter. Er konstruierte einen Apparat, zum Nachweis einer - damals noch bezweifelten - akustischen Erscheinung, des ”Doppler-Effekts”[1]. 1860 promovierte er zum Doktor der Philosophie. In der Folgezeit arbeitete M. als Privatlehrer und habilitierte sich als Dozent für Physik. Sein interdisziplinäres Interesse, das erkenntnistheoretische Untersuchungen zu Physik, Physiologie und Psychologie einschloss, trat zunehmend hervor. Mit Josef Popper-Lynkeus setzte sich M. aber auch für die Anliegen der Arbeiterbewegung ein. 1864 wurde M. nach Graz berufen, wo sein beruflicher Aufstieg begann. Drei Jahre später heirateten er und Ludovica Marussig, sie bekamen fünf Kinder. Ab 1867 legte M. den Grundstein für seine internationale Reputation an der Prager Universität (u. a. Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen, 1875; Die Mechanik der Entwicklung historisch-kritisch dargestellt, 1883;). In den 70er Jahren geriet er in den Sog des Nationalitätenstreits. Als Gegner jedes Nationalismus er wehrte sich vergeblich gegen die Teilung in eine deutsche und eine tschechische Universität. 1895 kam M. nach Wien, wo eigens für ihn ein Lehrstuhl geschaffen worden war (Die Prinzipien der Wärmelehre, 1896). Ein Schlaganfall 1898 schränkte ihn körperlich ein, er emeritierte 1901 und wurde zum lebenslangen Mitglied des Herrenhauses ernannt. Einen angebotenen Adelstitel lehnte er ab. Sein letztes großes Werk (Erkenntnis und Irrtum, Skizzen zur Psychologie der Forschung) veröffentlichte er 1905. 1913 übersiedelte er in die Nähe von München, wo er ein Jahr nach Beginn des 1. Weltkrieges verstarb. An M.s Werk schieden sich bereits zu seinen Lebzeiten die Geister. Albert Einstein bezeichnete ihn als Wegbereiter der Relativitätstheorie, Robert Musil schrieb über ihn 91 in seiner Dissertation, Friedrich Adler sah seine Naturauffassung als Entsprechung zur Marxschen Geschichtsauffassung. Zu seiner prominenten Gegnerschaft zählten Lenin, Max Planck, Ludwig Boltzmann, Otto Weininger und Hermann Broch. 59 Richard, von Schaukal 1874-05-27 (Brünn (Mähren, A gest. Brno (CZ)) bis 1942-10-10 (Wien (A)) S. studierte nach der Schulzeit in Brünn (Brno) Jus in Wien und trat danach in den Staatsdienst ein. 1898 promovierte er zum Dr. jur. und heiratete 1899 Fanny Hückel, die Tochter eines Hutfabrikanten, mit der er drei Kinder hatte. Seine Karriere als Staatsbeamter verlief ausgesprochen erfolgreich; 1903 wurde er in das Ministerialpräsidium nach Wien berufen, 1908 zum Ministerialsekretär, 1909 zum Sektionsrat und 1911 zum Ministerialrat ernannt, 1918 wurde er durch Kaiser Karl nobilitiert und verließ er den Staatsdienst, um ausschließlich als freischaffender Dichter, Kritiker und übersetzer zu arbeiten. S. starb 1942 in Wien. Von Wien aus pflegte S. intensive Kontakte zur führenden Intelligenz, so stand er u. a. in regem Briefkontakt mit den Dichtern Arthur Schnitzler, Thomas und Heinrich Mann, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, Karl Kraus, Arno Holz, Max Brod, Ferdinand von Saar und Marie von Ebner-Eschenbach. Auch verbanden ihn freundschaftliche Verhältnisse mit Malern und Illustratoren wie Heinrich Vogeler, der seinen Gedichtband Pierrot und Colombine (1902) illustriere, oder Alfred Kubin. S.s Wesen ebenso wie sein Schreiben ist nicht geschlossen und einheitlich, oft kann man ihn mit seinen eigenen Aussagen widerlegen. Vergleicht man die strengen stilkritischen Bemerkungen, die ihn in den Kontext der Ornamentkritik Karl Kraus oder des Architekten Adolf Loos stellen, mit seinen impressionistisch gefärbten literarischen Arbeiten, zu denen neben den frühen Gedichten auch die Novelle Mimi Lynx (1904) zählt, so wird ein krasser Widerspruch deutlich, der S.s Charakter und sein Werk insgesamt auszeichnet. In seinen vielschichtigen Tätigkeiten als Schriftsteller, Übersetzer, Rezensent und Kulturkritiker ist S. gleichermaßen konservativ und progressiv. Da er die verschiedensten Einflüsse seiner Zeit sensibel registriert und produktiv umsetzt, stellt er eine gleichsam seismographische Figur nicht nur der Wiener Jahrhundertwende, sondern der europäischen Kultur um 1900 dar. S.s auf Lyrik und Novellistik konzentriertes Oeuvre umfasst über 75 Werke; die frühen Gedichte orientieren sich an der französischen Lyrik des Symbolismus, die er auch bevorzugt übersetzt hat, und sind von schwüler, jugendlicher Leidenschaft sowie der elitären Abgrenzung gegenüber der Masse geprägt, besonders der Gedichtband Meine Gärten. Einsame Verse (1897). Im Weiteren kreist S.s Schreiben um die zeittypischen Pole Liebe und Tod, was sich in seinen Gedichten ebenso zeigt wie in dem Novellenband Eros Thanatos (1906). Sein wohl bekanntester Prosatext Leben und Meinungen 125 des Herrn Andreas von Balthesser (1907) beschreibt das Leben eines Dandy und Dilettanten in Glossen, Dialogen, Briefen sowie scharfzüngigen Aphorismen. Andreas von Balthesser, ”der prächtigste Dandy der österreichischen Poesie” (Peter Härtling), vertritt einen dekadent überfeinerten Lebensstil, ist überlegen, lässig, elitär und hasst die Gesellschaft, die er gleichwohl nicht missen möchte. Im Mittelpunkt des Interesses steht seine äußere Erscheinung, die er mit größtem Aufwand inszeniert. Dennoch achtet der Dandy auch auf sein Benehmen, seine Manieren und seine Sprache; das Dandytum ist eine Ideologie. Mit vielen Intellektuellen teilt S. die Euphorie für den 1. Weltkrieg, die sich in seinen Ehernen Sonetten (1915) niederschlägt. ähnlich wie Hofmannsthal oder Wildgans kann er sich mit dem Untergang der Donaumonarchie nicht abfinden und verfasst als überzeugter Österreicher und Monarchist kontemplative Texte mit katholischphilosophischer Prägung sowie biographische Erzählungen. Literatur • Dominik Pietzcker, Richard von Schaukal. Ein österreichischer Dichter der Jahrhundertwende, (1997) , Würzburg • Ingo Warnke, Andreas Wicke (Hg.), Eros Thanatos, () , • Richard Schaukal, Mimi Lynx. Die Sängerin, (1999) , Siegen 61 Arthur Schnitzler 1862-05-15 (Wien (A)) bis 1931-10-21 (Wien (A)) Vater Johann Schnitzler kam aus tristen jüdischen Verhältnissen (Nagy Kanisza, West- Ungarn), über Budapest nach Wien, heiratete in eine prominente Familie ein und wurde angesehener Arzt als Leiter der Allgemeinen Poliklinik. Sohn Arthur studierte ebenfalls Medizin, spezialisierte sich auf Laryngologie und arbeitete an der Zeitschrift Internationale Klinische Rundschau mit. Er war 1886 beim Psychiater Theodor Meynert Sekundararzt und setzte Hypnose und Suggestion experimentell ein. S.s. eigentliches Interesse galt der Schriftstellerei. Er gab den Arztberuf auf, gründete mit anderen zusammen die literarische Gruppe Jung-Wien und suchte eine Lebensperspektive. Seine Tagebücher (Wien 1981 ff.), in denen er von 1879 bis zu seinem Lebensende gewissenhaft auch Intimstes festhielt, bieten mehr als interessante Einblicke in die Psyche des Dichters und in die Schriftsteller- und Schauspielerszene der Zeit. Unter dem Pseudonym Anatol schrieb er in der Zeitschrift An der schönen blauen Donau; sukzessive veröffentlichte er auch einen Zyklus um die Figur eines jungen, dandyhaften, nihilistischen Ästheten (gedruckt unter dem Titel Anatol, 1892). Im Drama Liebelei (1895) machte er die Figur eines mit Tiefgang ausgestatteten, naiven ”Süßen Mädels” aus der Wiener Vorstadt burgtheaterfähig. In einer polygonalen Struktur erfasst der Einakterzyklus Der Reigen (1900 nur als Privatdruck) die Anbahnungen von Mann-Frau-Beziehungen quer durch alle Gesellschaftsschichten. Der Text provozierte bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts und länger den Vorwurf der Pornographie, ist aber gegenwartsnahe in Österreich, Frankreich und den USA in interessanten Adaptierungen vorgestellt worden. S. wird häufig als literarisches Pendant Sigmund Freuds bezeichnet: In seinen Dramen, aber noch mehr in seinen beiden Novellen Leutnant Gustl (1900) und Fräulein Else (1924), die die revolutionäre Erzähltechnik des ”Inneren Monologs” durchgehend verwenden, bringt S. das Unterbewusstsein seiner Figuren unmittelbar und drastisch zum Vorschein. Weil er das militärische Ritual des Duells im Leutnant Gustl (1899) lächerlich gemacht und damit auch den militärischen Ehrenkodex verletzt hatte, wurde dem Dichter sein Reserveoffiziersrang als ”k.u.k. Oberarzt in Evidenz” aberkannt. Nach 1900 zeichnete der Autor mit den Dramen Der einsame Weg (1904) und Das weite Land, 1911 an allen wichtigen deutschen Bühnen synchron uraufgeführt, große Entwürfe des Scheiterns. Der Roman Der Weg ins Freie (1908) zeichnet ein breites Bild bürgerlich-jüdischen Lebens in Wien und weiblicher Emanzipationsversuche und 61 kann auch als Antwort auf Otto Weininger gelesen werden. Das Schauspiel Professor Bernhardi (fertiggestellt 1912) stellte die jüdische Titelfigur eines Mediziners in den antisemitischen Intrigenstadel aus Krankenhaus und Behörde. Auch wegen entschiedenen Widerstands der katholischen Kirche konnte es erst 1918 - nach der Abschaffung der k.k. Zensurbehörde - uraufgeführt werden. Nach der Trennung von seiner Frau Olga, einer wenig erfolgreichen Sängerin, war Schnitzler auch Alleinerzieher von Sohn Heinrich Schnitzler (geboren 1902) und von Tochter Lili (geboren 1909). Ihr Selbstmord 1928 traf den 66jährigen hart. Er starb drei Jahre später an den Folgen eines Gehirnschlags. Literatur • Arthur Schnitzler, Anatol, (1893) , • Arthur Schnitzler, Liebelei, (1895) , • Arthur Schnitzler, Tagebuch 1879 -1931, () , Wien • Arthur Schnitzler, Der Reigen, () , • Arthur Schnitzler, Leutnant Gustl, (1901) , • Arthur Schnitzler, Fräulein Else, (1924) , • Arthur Schnitzler, Der einsame Weg, (1904) , • Arthur Schnitzler, Das weite Land, (1911) , • Arthur Schnitzler, Der Weg ins Freie, (1908) , • Arthur Schnitzler, Professor Bernhardi, () , • Renate Wagner, Arthur Schnitzler. Ein Biographie, (1981) Fischer, Frankfurt am Main • Ulrich Weinzierl, Arthur Schnitzler Lieben, Träumen, Sterben., (1998) , Frankfurt am Main 74 Otto Weininger 1880-04-03 (Wien (A)) bis 1903-10-04 (Wien (A) - Selbstmord) W. wurde 1880 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren. Vater Leopold, ein anerkannter Goldschmied, beherrschte durch seine ständige Kritik und Herrschsucht die familiäre Umgebung. Nur vier von W. sechs Geschwistern erreichten das Erwachsenenalter. Mutter Adelheid starb mit 55 Jahren an Tuberkulose. W.s außergewöhnliche Auffassungsgabe zeigte sich bereits während seiner Schulzeit. 1898 begann er sein Studium an der philosophischen Fakultät, hörte aber auch Vorlesungen an anderen Fakultäten, u. a. bei Ludwig Boltzmann und Sigmund Freud. Er beherrschte viele Fremdsprachen und eignete sich in kürzester Zeit eine umfassende Bildung an. Er entwickelte eine philosophisch-psychologische Theorie der Geschlechter, in deren Zentrum er die These der menschlichen Bisexualität stellte. Diese These sah Freud als sein geistiges Eigentum und bezichtigte W. des Plagiats. 1902 - im Jahr seiner Promotion - verwirklichte W. seinen lang gehegten Entschluss, zum Protestantismus überzutreten. W. wechselte häufig seine Wohnadresse, besuchte regelmäßig die Sitzungen der Wiener Philosphischen Gesellschaft, verwickelte sich gerne in schwierige philosophische Diskussionen und ging oft ins Theater. Ansonsten führte ein eher zurückgezogenes Leben. Früh verfasste er erste Gedichte, Aufmerksamkeit zog er aber erst mit der Veröffentlichung seines Werks Geschlecht und Charakter im Juni 1903 auf sich. Die frauen- bzw. körperfeindliche sowie antisemitische Geisteshaltung der psychologisch philosophischen Abhandlung provozierte viele Zeitgenossen zur Kritik. Andererseits beeinflusste W.s Werk nachhaltig die Literatur (Doderer, Kraus, Canetti, Musil, Zweig) und Philosophie (Wittgenstein) der folgenden Jahrzehnte, wurde aber auch von den Nationalsozialisten zur Legitimierung ihres Antisemitismus? benutzt. Die Arbeiten an seinem Hauptwerk hatten den ”hochbegabten und sexuell gestörten jungen Philosophen” (Freud) aufgezehrt. Im Oktober 1903 mietete der 23jährige das Sterbezimmer von Ludwig van Beethoven und erschoss sich. Seinem Begräbnis wohnten u. a. Karl Kraus, Stefan Zweig und der 14jähige Ludwig Wittgenstein bei. ------------------------------- [1] Bekanntes Beispiel ist die Tonhöhenänderung des Martinshorns eines Krankenwagens. Solange sich das Fahrzeug nähert, ist der Ton höher, wenn es sich entfernt, wird der Ton tiefer.