KARL KRAUS Die demolierte Literatur Wien wird jetzt zur Großstadt demoliert. Mit den alten Häusern fallen die letzten Pfeiler unserer Erinnerungen, und bald wird ein respektloser Spaten auch das ehrwürdige Café Gnensteidl dem Boden gleichgemacht haben. Ein hausherrlicherlicher Entschluß, dessen Folgen gar nicht abzusehen sind Unsere Literatur sieht einer Periode der Obdachlosigkeit entgegen, der Faden der dichterischen Produktion wird grausam abgeschnitten. Zu Hause mögen sich Literaten auch fernerhin froher Geselligkeit hingeben; das Berufsleben, die Arbeit mit ihren vielfachen Nervositäten und Aufregungen, spielte sich in jenem Kaffeehause ab, welches wie kein zweites geeignet schien, das literarische Verkehrszentrum zu präsentieren. Mehr als ein Vorzug hat dem alten Lokale zur Großstadt demoliert: Herbst 1896 gab es Umbaupläne für den Michaelerplatz, um der nahen Hofburg eine würdigere Umgebung zu schaffen; demolieliert (österr.): abgerissen. 644 seinen Ehrenplatz in der Literaturgeschichte gesichert. WVi gedenkt nicht der schier erdrückenden Fülle von Zeitungen und Zeitschriften, die den Besuch unseres Kaffeehauses gerade für diejenigen Schriftsteller, welche nach keinem Kaffee verlangten, zu einem wahren Bedürfnis gemacht hatte? Braucht es den Hinweis auf sämtliche Bände von Meyer's Conversations-Lexikon, die, an leicht zugänglicher Stelle angebracht, es jedem Literaten ermöglichten, sich Bildung anzueignen? Auf das reiche Schreibmaterial, das für unvorhergesehene Einfälle stets zur Hand war? Namentlich die jüngeren Dichter werden das intime, altwienerische Interieur schmerzlich entbehren, welches, was ihm an Bequem- lichkeit gefehlt, jederzeit durch Stimmung zu ersetzen vermocht hat. Nur der große Zug, der hin und wieder durch diese Kaffeehaus-Idylle ging, wurde von den sensiblen Stammgästen als Stylwidrigkeit empfunden, und in der letzten Zeit häuften sich die Fälle, daß junge Schriftsteller angestrengte Produktivität mit einem Rheumatismus bezahlten. Daß in einem so exzeptionellen Café auch die Kellner- natur einen Stich ins Literarische aufweisen mußte, leuchtet ein. Hier haben sich die Marqueure in ihrer Entwicklung dem Milieu angepaßt. Schon in ihrer Physiognomie drückte sich eine gewisse Zugehörigkeit zu den künstlerischen Bestrebungen der Gäste, ja das stolze Bewußtsein aus, an einer literarischen Bewegung nach Kräften mitzuarbeiten. Das Vermögen, in der Individualität eines jeden Gastes aufzugehen, ohne die eigene Individualität preiszugeben, hat diese Marqueure hoch über alle ihre Berufskollegen emporgehoben, und man mochte nicht an eine Kaffeesiedergenossenschaft glauben, die ihnen die Posten vermittle, sondern stellte sich vor, die deutsche Schriftstellergenossenschaft habe sie berufen. Eine Reihe bedeutender Kellner, welche in Marqueure: Zahlkellner. 646 diesem Kaffeehause gewirkt haben, bezeichnet die Entwicklung des heimischen Geisteslebens. Eine überholte Dichtergeneration sah Franz, den Würdigen, dessen Andenken noch in zahlreichen Anekdoten festgehalten wird. Es lag Styl und Größe darin, wenn er einem Passanten, der nach zwanzig Jahren wieder einmal auftauchte, dieselbe Zeitung unaufgefordert in die Hand gab, die jener als Jüngling begehrt hatte. Franz, der k. k. Hof-Marqueur, hat eine Tradition geschaffen, welche heute von den Jungen über den Haufen geworfen ist. Mit dem Tode des alten Kellners, dessen hofrätliche Würde schlecht zu dem Sturm und Drang der Neunzigerjahre gepaßt hätte, begann eine neue Aera. Franz, der mit Grillparzer und Bauernfeld verkehrt hatte, erlebte es noch, wie der Naturalismus seinen Siegeslauf von Berlin in das Café Griensteidl nahm und als kräftige Reaktion gegen ein schöngeisterndes Epigonentum von einigen Stammgästen mit Jubel aufgenommen ward. Seit damals gehört das Café Griensteidl der modernen Kunst. Eine neue Kellnergeneration stand bereit, sich mit dem komplizierten Apparat von Richtungen, die in der Folge einander ablösten, vertraut zu machen; die bis dahin einer veralteten Literatur als Zuträger gedient hatten, waren nun als Zahlmarqueure einer modernen Bewegung mit der Umwertung aller Werte beschäftigt - sie verstanden es, mit der Zeit zu gehen, und genügten bald den Anforderungen einer gesteigerten Sensitivität. Die Stimmungsmenschen, die jetzt wie die Pilze aus dem Erdboden schossen, wünschten seltsame Farbenkomopositionen für Gefrorenes und Melange, es machte sich das Verlangen nach inneren Erlebnissen geltend, so daß die Einführung des Absynths als eines auf die Nerven wirkenden Getränkes notwendig wurde. Sollte die heimische Lite- Bauernfeld: Eduard von B. (1802-90), fruchtbarer und außerordentlich erfolg-reicher Lustspieldichter des österreichischen Biedermeier mit Salonkomödien nach französischem Muster, so etwa das Lustspiel Bürgerlich und romantisch (1835). Absynths: Anspielung auf das in französischen Literatenkreisen (z. B. bei Verlaine) beliebte Getränk. 647 ratur aus Paris und Deutschland ihre Anregungen erhalten,so mußte das Kaffeehaus sich die Einrichtungen von Tortoni und Kaiserhof zum Muster nehmen. Bald war man mit dem konsequenten Realismus fertig, und Griensteidl stand im Zeichen des Symbolismus. »Heimlnche Nerven!« lautete jetzt die Parole, man fing an, »Seelenstände« zu beobachten und wollte der gemeinen Deutlichkeit der Dinge entfliehen. Eines der wichtigsten Schlagworte aber war »Das Leben«, und allnächtlich kam man zusammen, sich mit dem Leben auseinanderzusetzen oder, wenn´s hoch ging, das Leben zu deuten. Die ganze Literaturbewegung einzuleiten, die zahlreichen schwierigen Überwindungen vorzunehmen, nicht zuletzt, dem Kaffeehausleben den Stempel einer Persönlichkeit aufzudrücken, war ein Herr aus Linz berufen worden, dem es in der Tat bald gelang, einen entscheidenden Einfluß aul die Jugend zu gewinnen und eine dichte Schar von Anhängern um sich zu versammeln. Eine Linzer Gewohnheit, Genialität durch eine in die Stirne baumelnde Haarlocke anzudeuten, fand sogleich begeisterte Nachahmer – die Modernen wollten es betont wissen, daß ihnen der Zopf nicht hinten hing. Alsbald verbot der verwegene Sucher neuer Sensatinionen aus Linz seinen Jüngern, von dem »Kaiserfleisch des Naturalismus« zu essen, empfahl ihnen dafür die »gebackenen Dukaten des Symbolismus« und wußte sich durch derlei zweckmäßige Einführungen in seiner Position als erster Stammgast zu behaupten. Seine Schreibweise wurde von der literarischen Jugend spielend erlernt. Den jüngsten Kritikern Tortoni: Cafe Glacier in Paris, Boulevard des Italiens 22, unweit von der Plaice de l'Opera. Kaiserhof: Das Cafe Kaiserhof gehörte als »Wiener Cafe« mit anderen Etablissements zum Hotel Kaiserhof am Zietenplatz in Bertin und war ein Berliner Literatentreffpunkt. »Seelenstände«: Vgl. den Titel von Hermann Bahrs Roman Die Gute Schule Seelenstände (1890). Herr aus Linz: Hermann Bahr, der in Linz-Urfahr geboren wurde. 648 öffnete er die Spalten seines neugegründeten Blattes, welches allwöchentlich den Bahnbrecher und seine Epigonen in engster Nachbarschaft sehen ließ und noch heute eine nur durch die Verschiedenartigkeit der Chiffren gestörte Styleinheit aufweist. Damals, als er noch nicht die abgeklärte Ruhe des Weimarischen Goethe besaß, war es für die Anfänger noch schwer, ihm durch das Gestrüpp seines seltsam verschnörkelten und kunstvoll verzweigten Undeutsch zu folgen. Heute, wo er Goethe kopiert, findet er die meisten Nachahmer, und kaum einen seiner Schüler gibt es, der um den Unterschied zwischen einem »Kenner« und einer »Menge« verlegen wäre. [.. .] Die Tatsache, daß Einer noch ins Gymnasium ging, begeisterte den Entdecker zu dem Ausrufe: »Goethe auf der Schulbank!« Man beeilte sich, den Jüngling für das Kaffeehaus zu gewinnen, und seine Eltern selbst führten ihn ein: sollte doch gezeigt werden, daß er vom Vater die Statur, des Lebens ernstes Führen, vom Mütterchen die Frohnatur, die Lust zum Fabulieren habe. Seine Bewegungen nahmen bald den Charakter des Ewigen, seine Korrespondenzen den des »Briefwechsels« an. Er ging daran, ein Fragment zu schreiben, und war es seiner Abgeklärtheit schuldig, seine Manuskripte für den Nachlaß vorzubereiten. In hoheitsvollen Versen ließ er noch den Erben an Adler, Lamm und Pfau das Salböl aus den Händen der toten alten Frau verschwenden – dann studierte er sich seine »Letzten Worte« ein. Eine der zartesten Blüten der Decadence sproß dem Café Griensteidl in einem jungen Freiherrn, der, wie man neugegründeten Blattes: Gemeint ist die Oktober 1894 gegründete Wochenschrift Die Zeit, eine »Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Kunst«, herausgegeben von Bahr zusammen mit dem österreichischen Journalisten Isidor Singer (1857-1927) und Heinrich Kanner (1864-1930), österreichischer Publizist und Zeitungsherausgeber. Einer: Hugo von Hofmannsthal, der als Gymnasiast unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlichte: Loris, Loris Melikow, Theophil Morren u. a. Der ganze Abschnitt, erst in der Buchausgabe 1897 erschienen, stilisiert Hofmannsthal auf Goethe hin. Freiherrn: Leopold Andrian. 649 erzählte, seine Manieriertheit bis auf die Kreuzzüge zurückleitet. Die Art des jungen Mannes, der sich einst zufällig in das Kaffeehaus verirrte, gefiel dem Herrn aus Linz. Als jener sich vollends zu der enthusiastischen Bemerkung hinreißen ließ: »Der Goethe is ganz g'scheit«, da fühlte dieser: hier lag eine Fülle von Affektation, die der Literatur nicht verloren gehen durfte. So ward in dem Jüngling das Bewußtsein seiner Sensitivität geweckt, welches ausgereicht hätte, ihn zu produktivem Schaffen anzuregen. Dazu kam eine mit Kalkburg übertünchte Phantasie, und als das Produkt jener geistigen Beschränktheit, welche, von den sich an das Wort »wienerisch« knüpfenden Vorstellungen ausgefüllt, unter dem Namen »reines Künstlertum« geläufig ist, entstand eine Novelle, »Der Kindergarten der Unkenntnis«, [. . .] Der am tiefsten in diese Seichtigkeit taucht und am vollsten in dieser Leere aufgeht, der Dichter, der das Vorstadtmädchen burgtheaterfähig machte, hat sich in überlauter Umgebum; eine ruhige Bescheidenheit des Größenwahns zu bewahren gewußt. Zu gutmütig, um einem Problem nahetreten zu können, hat er sich ein für allemal eine kleine Welt von Lebemännern und Grisetten zurechtgezimmert, um nur zuweilen aus diesen Niederungen zu falscher Tragik emporzusteigen. Wenn dann so etwas wie Tod vorkommt — bitte nicht zu erschrecken, die Pistolen sind mit Temperamentlosigkeit geladen: Sterben ist nichts, aber leben und nichts sehen! ...[...] Wohin steuert nun unsere junge Literatur? Und welches ist ihr künftiges Griensteidl? Kalksburg: Dorf in Nieder-Österreich, das ein Jesuitenkloster mit Gymnasium hat; Andrian hatte dort einen Teil seiner Jugend verbracht. Dichter: Arthur Schnitzler. Grisetten: Kiinstlerliebchen.