Lyrik um 1900 Die Leistung der Lyriker der Jahrhundertwende überragt wohl die Bedeutung der Neuerungen in anderen Genres. Damit meine ich allerdings vor allem die Symbolisten Hofmannsthal, George und den reifen Rilke sowie den antisymbolistischen Experimentator Arno Holz. Dass es auch damals - in der Epoche des Stilpluralismus – viel bewunderte Dichter gab, deren Werk sich als Sackgasse der Entwicklung der Lyrik erwies, mag nur am Rande erwähnt werden: das gilt z. B. für den auf ritterliche Standestradition zurückgreifenden Balladendichter Börries Freiherr von Münchhausen, den ekstatische Hymnendichter Alfred Mombert oder den Kosmogoniker Theodor Däubler. Bei Viktor Žmegač heißt es: George ist eine Ausnahme. Die Regel repräsentieren Autoren wie Dehmel, Liliencron, Bierbaum oder gar Flaischlen. Bei ihnen war die Lyrik darauf angelegt, den bürgerichen Alltag zu schmücken . Ein populärer Lyriker stammt auch aus Brünn Richard Schaukal[1]: Abend Weiße Schwäne senken ihre schmalen, Schlanken Hälse in den schilfdurchragten, Stillen, grünen Weiher, plätschern leise, Ziehen weiter ihre stillen Kreise... An dem Arm des müden, hochbetagten Schloßherrn, der den schlafgemiednen Qualen Seiner kalten Nacht entgegenbangt, Steht in leichten, weißen Spitzen Die Gemahlin. Spielend langt Sie nach den gewundnen Rebenranken... Ihre flügelstarken Flucht-Gedanken Zittern vor den roten Lebensblitzen. Arno Holz (1863 – 1929) gelangte nach seinen naturalistischen Anfängen, als es ihm mehr um das Dargestellte als um nie Mittel der Darstellung ging, 1899 zu einer neuen Auffasung der Lyrik, die er in seiner Schrift Revolution der Lyrik zusammenfasste: Man revolutioniere eine Kunst … nur indem man ihre Mittel revolutioniert. Er verwirft die lange tradierten Gesetze hinsichtlich des Reims, des Metrums, der Strophe, die ihm nur ein geheimer Leierkasten zu sein scheinen. Er verlangt eine natürlichen Rhythmus, d. h. einen, der nur noch durch das lebt, was durch ihn um Ausdruck ringt. Seinen Formwillen erläutert er am folgenden Beispiel: „Ich schreibe als Prosaiker einen ausgezeichneten Satz nieder, wenn ich schreibe: Der Mond steigt unter glühenden Apfelbaumzweigen auf. Aber ich würde über ihn stolpern, wenn man ihn für den Anfang eines Gedichtes ausgäbe. Es wird zu einem solchen erst, wenn ich ihn forme: Hinter blühenden Apfelbaumzweigen steigt der Mond auf. Der erste Satz referiert nur, der zweite stellt dar. Erst jetzt, fühle ich, ist der Klang eins mit dem Inhalt.“ Diese Idee hat er sein Leben lang in seinem Werk Phantasus umgesetzt. Letztendlich schwoll das Buch auf fast 1600 Seiten an und wurde 1925 in 5 Büchern herausgegeben. Phantasos war in der antiken Mythologie ein Sohn des Schlafs. Durch seine stets wechselnden Verwandlungen ruft im Menschen Träume hervor. Bei Holz steht der Name für die dichterische Einbildungskraft, die sich unaufhörlich in die heterogensten Dinge und Gestalten zerlegt, wie er in einem Brief an Karl Hans Strobl schreibt, der eine essayistische Arbeit über ihn schrieb: Arno Holz und die jüngstdeutsche Bewegung. Die imaginäre Mittelachse seiner Gedichte erzeugt den notwendigen Rhythmus. Die erste Fassung des Gedichtes Unvergessbare Sommersüße lautete: Rote Dächer! Aus den Schornsteinen, hier und da, Rauch, oben, hoch, in sonniger Luft, ab und zu Tauben. Es ist Nachmittag. Aus Mohdrickers Garten her gackert eine Henne, die ganze Stadt riecht nach Kaffe. Ich bin ein kleiner, achtjähriger Junge … Die endgültige Fassung lautet: Unvergessbare Sommersüße Rote Dächer! Aus den Schornsteinen hier und da Rauch; oben, hoch, in sonniger Luft, ab und zu Tauben! Es ist Nachmittag. Aus Mohdrickers Garten her gackert eine Henne; Bruthitze brastet; die ganze Stadt … riecht nach Kaffe. Dass mir doch dies alles noch so lebendig ist! Ich bin ein kleiner, achtjähriger Junge, liege, das Kinn in beide Fäuste, platt auf dem Bauch und kucke durch die Bodenluke. Unter mir … steil, der Hof … hinter mir, weggeworfgen. ein Buch. /…/ Was geschah mit dem Gedicht? Der Rhythmus wird über Pausenmarkierungen beeinflusst, inhaltliche Ergänzungen mit der Alliteration tragen zur neuen Gewichtung[2] bei. Das Gedicht wird – durch deren Isolierung - auf Kernwörter zugespitzt: Rauch, Tauben Die Überleitung Dass mir doch dies alles noch so lebendig ist! betont die Zweiteilung des Gedichtes, dessen zweiter Teil jedoch hier aus Zeitgründen ausgespart blieb. Die assoziativ verbundenen Erscheinungen spiegeln nicht die Wirklichkeit der unmittelbaren Gegenwart: Erinnerung, Phantasie und aktuelle Wahrnehmung gehen ineinder über. Es ist kein reines Erlebnisgedicht mehr, sondern ein Gedicht über das Prinzip der Erinnerung. Nicht das Was, sindern die Fülle erinnerter sensueler Details erst macht die Atmosphäre dicht und damit wichtig. Friedrich Nietzsche 1844 – seit 1889 geistig umnachtet – gest. 1900 Ludvík Václavek : Nietzsches Hass auf Überflüssige, Pöbel, Wahnsinnige, Affen. Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist. Gedichte und Sprüche, 1898 Friedrich Nietzsche A. "Vereinsamt" Vereinsamt Ecce homo Die Krähen schrein Und ziehen schwirren[3] Flugs zur Stadt: Bald wird es schnein, - Wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat! Nun stehst du starr, Schaust rückwärts, ach! wie lange schon! Was bist du Narr Vor Winters in die Welt entflohn? Die Welt - ein Tor Zu tausend Wüsten stumm und kalt! Wer das verlor, Was du verlorst, macht nirgends Halt. Nun stehst du bleich, Zur Winter-Wanderschaft verflucht, Dem Rauche gleich, Der stets nach kältern Himmeln sucht. Flieg, Vogel, schnarr Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! - Versteck, du Narr, Dein blutend Herz in Eis und Hohn! Die Krähen schrein Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: Bald wird es schein, - Weh dem, der keine Heimat hat! Zwischen der zweiten und der letzen Zeile der ersten Strophe kann der Kontrast bei der Wiederholung des meisten Wortmaterials kaum größer sein. Die Kreisstruktur. Die Einsamkeit ist jedoch nicht nur ein Fluch, sondern ein Zeichen der Heh|re, Hehr|heit, die; - (geh., veraltet): das Hehrsein; Erhabenheit. Das Kunstwerk wird Ersatz für die verlorene Orientierung an religiösen Werten, aber gleichzeitig Opposition gegen eine materialistisch eingestellte Zeit. George sprichzt von der unheilige Menge. Rilkes Furcht vor der Menschen Wort ist bekannt. Hofmannsthals Reiselied[4] und Georges Der Herr der Insel[5] haben die Trennung von der Lebenswelt von der Kunstwelt zum Inhalt. Der Einbruch des Alltäglichen gefährdet die Kunstwelt. Ihr sprachlicher Schutz ist das Geheimnis, das verschlüsselte[6] Wort, das magische Bild, das Symbol, das nicht rational festlegbar ist, sondern in seiner Vieldeutigkeit mehr intuitiv oder assoziierend erahnbar ist. Hermerisch, d. h. dunkel, rätselhaft. her|me|tisch [1: nlat. hermetice, eigtl.y= mit geheimnisvollem Siegel versehen, nach dem sagenhaften altägypt. Weisen Hermes Trismegistos- Dreimal größter Hermes, der die Kunst erfunden haben soll, eine Glasröhre mit einem geheimnisvollen Siegel luftdicht zu verschließen; 2: nach dem Schrifttum einer spätantiken religiösen Offenbarungs- u. Geheimlehre, als deren Verfasser Hermes Trismegistos angesehen wird]: 1. a) so dicht, verschlossen, dass nichts eindringen od. austreten kann: h. verschlossene Ampullen; 2. (bildungsspr.) vieldeutig, dunkel (in Bezug auf das Verständnis); eine geheimnisvolle Ausdrucksweise bevorzugend. © Duden - Deutsches Universalwörterbuch, 5. Aufl. Mannheim 2003 [CD-ROM]. Hofmannsthal Die Symbolisten berufen sich alle auf die romantische Idee, dass die von Sinnen wahrgenommene Realität nur ein Bild für ein dahinter liegendes Sein mit tieferer Bedeutnug sei. Hofmannsthal sagt: Was der Dichter in seinen unaufhörlichen Gleichnissen sagt, das lässt sich niemals auf irgendeine andere Weise (ohne Gleichnisse) sagen, nur das Leben vermag das Gleiche auszudrücken, aber in einem Stoff, wortlos. Für mich...[7] Das längst Gewohnte, das alltäglich Gleiche, Mein Auge adelt mir´s zum Zauberreiche: ... Zum Traume sag ich: „Bleib bei mir, sei wahr!“ Und zu der Wirklichkeit: „Sei Traum, entweiche!“ Das Wort, das Andern Scheidemünze[8] ist, Mir ist´s Bilderquell der flimmernd reiche, Was ich erkenne, ist mein Eigentum Und lieblich locket, was ich nicht erreiche. Die Außenwelt, für alle anderen das alltäglich Gleiche ohne weitereBedeutung, wird ihm zum Zauberreich, zum ästhetischen Bezirk. Mit keinem Wort wird hier angedeutet, dass das Eintauchen in die Welt des „Schönen“ gefährlich sein könnnte, weil man dadurch dem Leben entfremdet wird. Vielleicht war das der Grund, warum das Gedicht vom Autor unterdrückt wurde und erst postum, 1934, in der Nachlese der Gedichte erschienen ist. Erst allmählich kommt Hofmannsthal zu der Überzeugung, dass eine subjektive ästhetische Lösung der Lebensproblematik nicht möglich sei. Die Entwicklung wurde durch äußere Erlebnisse während seiner Militärzeit in Göding (1893) und Tlumacz in Ostgalizien (1896) verstärkt. Ich korrigiere meinen Begriff vom Leben: von dem, was das Leben für die meisten Menschen ist: es ist viel freudloser, viel niedriger, als man gerne denkt (…) Ich glaube: das schöne Leben verarmt einen, schreibt er an einen Freund Ballade des äußeren Lebens Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen, die von nichts wissen, wachsen auf und sterben, und alle Menschen gehen ihre Wege. Und süße Früchte werden aus den herben und fallen nachts wie tote Vögel nieder und liegen wenig Tage und verderben. Und immer weht der Wind, und immer wieder vernehmen wir und reden viele Worte und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder. Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen, und drohende, und totenhaft verdorrte... Wozu sind diese aufgebaut? Und gleichen einander nie ? Und sind unzählig viele ? Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen? Was frommt das alles uns und diese Spiele, die wir doch groß und ewig einsam sind und wandernd nimmer suchen irgend Ziele ? Was frommt's, dergleichen viel gesehen haben? Und dennoch sagt der viel, der "Abend sagt, ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt wie schwerer Honig aus den hohlen Waben. Der zweiteilige Aufbau: Zuerst wird die Erfahrung der Vergänglichkeit, Fruchtlosigkeit, Vergeblichkeit und Innere Leere beschworen. Ein lyrisches Ich fehlt, es ist keine subjektive Verzweiflung, sondern ein gleichsam von außen gesehener Sachverhalt. Die Punkte nach dem vierten Terzett deuten an, dass die Aufzählung fortgesetzt werden könnte.. Stefan George * 12. 7. 1868 Büdesheim bei Bingen, † 4. 12. 1933 Minusio bei Locarno; Stefan George besuchte 1889 Paris und übertrug die Auffassungen der franz. Symbolisten, vor allem Mallarmés auf die deutsche Literatur. Er fordert Kunst für die Kunst Stefan George Komm in den totgesagten Park Komm in den totgesagten Park und schau: Der Schimmer ferner lächelnder Gestade, Der reinen Wolken unverhofftes Blau, Erhellt die Weiher und die bunten Pfade. Dort nimm das tiefe Gelb, das weiche Grau Von Birken und von Buchs[9], der Wind ist lau, Die späten Rosen welkten noch nicht ganz, Erlese, küsse sie und flicht den Kranz. Vergiß auch diese letzten Astern nicht, Den Purpur um die Ranken wilder Reben, Und auch was übrig blieb von grünem Leben Verwinde leicht im herbstlichen Gesicht. Das Gedicht könnte ein Gedicht vom Dichter und vom Dichten sein. Der Kranz wird zum Schlüsselwort, er soll ztum herbstlichen Gesicht geflochten werden. Ich und Du, an das sich die imperative beziehen, sind wohl dasselbe lyrische Subjekt. Der Künstler gibt sich mit der endlichkeit der Dinge nicht zufrieden, er soll sie im abstrakt Schönen verewigen, im Kranz soll die Zeitlichkeit überwunden werden. Rilke, Rainer Maria, auch: René (Maria) R., * 4. 12.1875 Prag, † 29. 12. 1926 Val-Mont bei Montreux; Mit der Übersiedlung nach München (1897) - äußerlich zum Zweck der Fortsetzung des in Prag begonnenen Studiums der Kunst- u. Literaturgeschichte - u. der Liebesbegegnung mit Lou Andreas-Salomé, der einstigen Freundin u. geistigen Partnerin Nietzsches u. späteren Schülerin Freuds, vollzog sich ein Durchbruch, der R.s Leben u. Schaffen die endgültige Richtung gab. Unter Nietzsches Einfluß zeichnete sich R. - bes. in dem für Lou geschriebenen Florenzer Tagebuch (April bis Juli 1898) - das Ziel einer unbedingten Dichterexistenz. Zu einer ersten Verwirklichung des Existenzentwurfs verhalfen ihm die beiden mit Lou Andreas-Salomé unternommenen Reisen nach Rußland (1899 u. 1900). Von jetzt ab wird alles, was R. erlebt, integraler Bestandteil seines Daseins und Werkes. Die Begegnungen mit Frauen haben ihren Ort u. ihre Bedeutung v. a. im Zusammenhang des dichterischen Lebensentwurfs; die Länder u. Städte werden als »literarische Landschaften« erfahren oder in solche verwandelt. An diesem Prozeß hat das umfangreiche Briefwerk R.s wesentl. Anteil. So wurde Rußland, seine unermeßl. Weite, seine von westl. Zivilisation noch wenig berührte Kultur u. die russisch-orthodoxe Religiosität als Lebensform bäuerl. Menschen, für R. - auch dank der persönl. Begegnungen mit Leo Tolstoj, Leonid Pasternak u. Spiridon Droshin, dem Bauerndichter - zu einer unverlierbaren seelisch-geistigen Heimat. Dem ordnet sich das erste vom Dichter noch später voll anerkannte Werk seiner frühen Schaffensphase zu, Das Stunden-Buch. Es entstand in seinen drei Teilen 1899, 1901 u. 1903 u. erschien 1905 im Insel Verlag Leipzig. Danach begab sich R. mit seinem Gesamtwerk unter den »Schutz« der Insel (28. 9. 1908 an Kippenberg). Das Stunden-Buch, als die »Gebete« eines russ. Mönchs u. Ikonenmalers konzipiert, ist ein Triptychon, das den Gedanken der Gott-Kreation durch die Kunst (Vom mönchischen Leben) mit dem des Weges eines Künstler-Ich zu sich selbst (Von der Pilgerschaft) u. den bedrohl. Existenzerfahrungen in der modernen Welt (Von der Armuth und vom Tode) verbindet. Das geschieht in einer Sprache, die - gemäß der Jugendstil-Ästhetik - mit ihren suggestiven Bildern, Rhythmen u. Reimklängen alle Inhalte fließend macht u. die monistische Weltanschauung der Jahrhundertwende in eine lyr. Großform umsetzt. Ein Pendant zum Stunden-Buch bilden die Geschichten vom lieben Gott (Lpz. 1904. U. d. T. Vom lieben Gott und anderes. Bln./Lpz. 1900), während sich Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (1899. Bln./Lpz./Stgt. 1906) den heroischen Tagträumen des Militärschülers R. u. dem sinnl. Glück der Liebe zu Lou Andreas-Salomé verdankt. Der Cornet wurde als Nr. 1 der Insel-Bücherei (Lpz. 1912) R.s größter Publikumserfolg, bes. bei den Soldaten beider Weltkriege (Aufl. 1990: 1125000). Bekanntschaft mit Rodin, über den er eine Monographie schrieb (Bln. 1903) u. dessen Sekretär er wurde (in Meudon 1906/1907), das »travailler toujours«, das konzentrierte »Schauen« u. Gestalten der »Dinge«, das noch dem impressionistischen Buch der Bilder in seiner zweiten Ausgabe (Lpz. 1906. 1. Ausg. Bln. 1902) zugute kommt u. den Neuen Gedichten (Lpz. 1907. Der Neuen Gedichte anderer Teil. Lpz. 1908) zur Entstehung verhilft. Nicht nur Rodin, auch Cézanne wirkt - nach der berühmten Ausstellung im Salon d'Automne von 1907 - auf R.s Ästhetik (Briefe über Cézanne an Clara Rilke) u. unmittelbar auf die »Sachlichkeit« der Neuen Gedichte ein. Deren frühestes u. bekanntestes Stück, Der Panther, das den neuen Stil sogleich rein verwirklicht, entstand schon 1903 (oder Ende 1902). Rilke: Archaischer Torso Apollos Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern. Herbsttag Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren laß die Winde los. Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein; gib ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin, und jage die letzte Süße in den schweren Wein. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. Der Panther Im Jardin des Plantes, Paris Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille - und hört im Herzen auf zu sein. September 1903 Der Beobachtende hat sich in das beobachtete tier so hineinversetzt, dass er seine Perspektive übernimmt. Schon das Vorübergehen der Stäbe deutet darauf hin. Die Versenkung in das Wesen des Dings dient auch der Daseinserhellung. Die Oberfläche sollt in die tiefe, ein reales Ding in ein Kunstding verwandelt werden. Der Dichter soll auch das Unsichtbare im Sichtbaren erfühlen. Darin sieht Rilke das Besondere des Dinggedichts. Aus der Welt des Bänkelsangs und des Kabaretts schöpft Frank Wedekind, der Autor des Liedes Brigitte B. Ein junges Mädchen kam nach Baden, Brigitte B. war sie genannt, Fand Stellung dort in einem Laden, Wo sie gut angeschrieben stand. Die Dame, schon ein wenig älter, War dem Geschäfte zugetan, Der Herr ein höherer Angestellter Der königlichen Eisenbahn. Die Dame sagt nun eines Tages, Wie man zur Nacht gegessen hat: »Nimm dies Paket, mein Kind, und trag es Zu der Baronin vor der Stadt.« Auf diesem Wege traf Brigitte Jedoch ein Individium, Das hat an sie nur eine Bitte, Wenn nicht, dann bringe er sich um. Brigitte, völlig unerfahren, Gab sich ihm mehr aus Mitleid hin. Drauf ging er fort mit ihren Waren Und ließ sie in der Lage drin. Sie konnt es anfangs gar nicht fassen, Dann lief sie heulend und gestand, Daß sie sich hat verführen lassen, Was die Madam begreiflich fand. Daß aber dabei die Tournüre[10] Für die Baronin vor der Stadt Gestohlen worden sei, das schnüre Das Herz ihr ab, sie hab sie satt. Brigitte warf sich vor ihr nieder, Sie sei gewiß nicht mehr so dumm; Den Abend aber schlief sie wieder Bei ihrem Individium Und als die Herrschaft dann um Pfingsten Ausflog mit dem Gesangverein, Lud sie ihn ohne die geringsten Bedenken abends zu sich ein. Sofort ließ er sich alles zeigen, Den Schreibtisch und den Kassenschrank, Macht die Papiere sich zu eigen Und zollt ihr nicht mal mehr den Dank. Brigitte, als sie nun gesehen, Was ihr Geliebter angericht', Entwich auf unhörbaren Zehen Dem Ehepaar aus dem Gesicht. Vorgestern hat man sie gefangen, Es läßt sich nicht erzählen, wo; Dem Jüngling, der die Tat begangen, Dem ging es gestern ebenso. [Wedekind: Die vier Jahreszeiten, S. 66 ff. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 99059 (vgl. Wedekind-W Bd. 2, S. 445 ff.)] Der Tantenmörder Ich hab meine Tante geschlachtet, Meine Tante war alt und schwach; Ich hatte bei ihr übernachtet Und grub in den Kisten-Kasten nach. Da fand ich goldene Haufen, Fand auch an Papieren gar viel Und hörte die alte Tante schnaufen Ohn Mitleid und Zartgefühl. Was nutzt es, daß sie sich noch härme - Nacht war es rings um mich her - Ich stieß ihr den Dolch in die Därme, Die Tante schnaufte nicht mehr. Das Geld war schwer zu tragen, Viel schwerer die Tante noch. Ich faßte sie bebend am Kragen Und stieß sie ins tiefe Kellerloch.- Ich hab meine Tante geschlachtet, Meine Tante war alt und schwach; Ihr aber, o Richter, ihr trachtet Meiner blühenden Jugend-Jugend nach. [Wedekind: Die vier Jahreszeiten, S. 124. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 99117 (vgl. Wedekind-W Bd. 2, S. 509)] Dem ursprünglich naiven Ton eines Bänkelgesangs hat der Vortrag zur Laute etwas Parodistisches beigemischt. Die grausige Geschichte wird grotesk. ------------------------------- [1](1874-1942) Leben und Meinungen des Andreas von Balthesser, eines Dandy und Dilettanten. Mchn. 1907. [2] gewichten – Schwerpunkte setzen [3] mit schwirrendem (1 a) Geräusch fliegen : Insekten schwirren durch die Nacht; Vögel schwirren über das Feld; Granatsplitter schwirren ihm um die Ohren; Ü derlei Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf; [4] Wasser stürzt, uns zu verschlingen, Rollt der Fels, uns zu erschlagen, Kommen schon auf starken Schwingen Vögel her, uns fortzutragen. Aber unten liegt ein Land, Früchte spiegelnd ohne Ende In den alterslosen Seen. Marmorstirn und Brunnenrand Steigt aus blumigem Gelände, Und die leichten Winde wehn. [5] Die fischer überliefern das im süden Auf einer insel reich an zimt und öl Und edlen steinen die im sande glitzern Ein Vogel war der wenn am boden fußend Mit seinem schnabel hoher stämme krone Zerpflücken konnte - wenn er seine flügel Gefärbt wie mit dem saft der Tyrer-schnecke Zu schwerem niedrem flug erhoben: habe Er einer dunklen wolke gleichgesehn. Des tages sei er im Gehölz verschwunden Des abends aber an den strand gekommen Im külen windeshauch von salz und tang Die süße stimme hebend daß delfine Die freunde des gesanges näher schwammen im meer voll goldner federn goldner funken. So habe er seit urbginn gelebt Gescheiterte nur hätten ihn erblickt. Denn als zum erstenmal die weißen segel Der menschen sich mit günstigem geleit Dem eiland zugedreht sei er zum hügel Die ganze teure stätte zu beschaun gestiegen Verbreitet habe er die großen schwingen Verscheidend in gedämpften schmerzeslauten. [6] zakódovat [7] Ein frühes Ghasel, dass er in der Nachlese 1934 veröffnetlicht wurde [8] veraltet: Münze mit geringem Wert [9] Buchs|baum, der [mhd. buhsboum, ahd. buhsboum, zu lat. buxus]: in vielen Arten vorkommender immergrüner Zierstrauch od. -baum, der häufig zur Einfassung von Beeten verwendet wird. Zimostráz [10] Turnüre: Honzík: 2. (Mode früher) im Kleid verborgenes, das Gesäß stark betonendes großes Polster;