Prosa der Jahrhundertwende frei nach Leiß/Stadler Wie sah die Genrehierarchie in der Prosa jum 1900 aus? Kurze Formen wie Studie, Skizze, novellistische Darstellung wurden bevorugt. Man legte Wert auf Vermittlung von Atmosphäre. Die tradierten Grenzen zwischen einzelnen Erzählgattungen wurden kaum mehr beachtet. Mischformen waren Mode: Hofmannsthal schrieb damalsseinen fiktiven Lord-Chandos-Brief (Ein Brief, 1902) oder den essayistischen Dialog Das Gespräch über Gedichte (1903). Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht ist eigentlich kein Märchen, was das Genre betrifft, sondern eine Erzählung mit einem für den Haupthelden tragischen Ausgang. Ein Ästhet, der sich in eine zeitlose Stadtkulisse verirrte, findet zufällig Tod auf einem Kasernenhof, in einem Milieu, das seinem abgeschirmten Dasein in einem Landhaus voll von Kunstgegenständen gegenübergesteltt wird. Peter Altenberg weigerte sich, seinen zwischen Skizzen und Studien angesiedelten Prosastücken eine Genrebezeichnung zu geben und nannte sie Extracte des Lebens ...( in 2-3 Seiten eingedämpft, vom Überflüssigen befreit wie das Rindvieh im Liebig-Tigel!). Ins Tschechische wurden sie von 1958 von Jan Hanč unter dem Titel Minutové romány úbersetzt. Wie ändert sich die Erzähltechnik der Prosa der Moderne? Die auktoriale Erzählhaltung wird aufgegeben, man verwendet den inneren Monolog bzw. die erlebte Rede, um die interne Fokalisierung zum Ausdruck zu bringen. Eine geschlossene Romanwelt mit ihren verbindlichen Sinnzusammenhängen, Handlungslogik und verbürgter Kausalität wurden gilt als überholt. Bildungsziele, wie sie der Bildungsroman traditionell vermittelte, wirken altmodisch. Rilke zertrümmerte die traditionelle Romanform 1910 in seinem Roman Die Aufzeichungen des Malte Laurids Brigge. Und wenn schon Handlungsabläufe, Figurenkostellationen und die Erzählweise konkret und scheinbar traditionell sind, bleibt die gestaltete Wirklichkeit selbst rätselhaft. Wie bei Kafka. Welche Autoren dominieren auf dem Büchermarkt? Der Hauptstrom der Romanliteratur bleibt aber dem Realismus des 19. Jh. verpflichtet: Hesses Frühwerk[1], Richarda Huch, Ludwig Thoma, Lena Christ[2] (1881-1920): Erinnerungen einer Überflüssigen[3], Rumplhanni (E., 1916). Das Handlungsgerüst von Peter Camenzind bildet eine Lebensgeschichte, die den Stereotypen der Heimatliteratur gar nicht so fern ist: ein Dickschädel aus einem Gebirgsdorf, der nach allerlei Irrfahrten durch die zweifelhafte große Welt auf das problematische Dasein eines kleinen Literaten verzichtet, bescheidet sich letztendlich mit einem Winkelglück als Gastwirt. Brecht erinnerte sich nicht ohne Ironie an dieses Buch: Es ist einer darin, der am Schluss nur mehr roten Wein trinkt und verkommt und Jahreszeiten anschaut und den Mond aufgehen lässt, das ist eine Beschäftigung! Die Abneigung gegen die Großstadt, die Opferbereitschaft des Helden und seine franziskanische Einstellung zur Welt gewannen dem Buch viele Leser, die auch Probleme mit dem Verlust der dörfllichen bzw. kleinstädtischen Gemeinschaft und den Eingliederungsversuchen in der Großstadt hatten. Obwohl Peter Camenzind ein Riesenerfolg war, mehr massenwirksam waren vor allem Trivial- und Unterhaltungsromane von Karl May, Hedwig Courths-Mahler und Ludwig Ganghofer, deren Gesamtauflage bis heute über 50 bzw.32 Millionen bei Courths Mahler und Ganghof ererreichte. Voraussetzung des Erfolgs waren Identifikationsmöglichkeiten, einfache Handlungsmuster (die Bösen beanspruchen einen Besitz, den ihnen der Held streitig macht, ohne ihn für sich haben zu wollen), der Reiz der Wiedererkennbarkeit der sich stets wiederholenden Redewendungen und die strenge Verteilung von Licht und Schatten, wie sie z. B. bei Karl May findet: Der Erfolg Mays[4] basiert zusätzlich auf der Attraktivität des exotischen Milieus seiner Abenteuerromane. Sie schildern Reisen zu exotischen Schauplätzen - in den Wilden Westen und oder in den vorderen Orient. Wie viele massenwirksame Romane sind sie aus der Ich-Perspektive des Protagonisten geschrieben, in einer Form, die die Identifizierung des Leser mit dem Hauptgestalt erleichtert. Seine Romane wie "Winnetou", "Durchs wilde Kurdistan" oder "Und Friede auf Erden!" enthalten neben der positiven Darstellung der Apachen und einiger Ausnahmegestalten auch einige pauschale abwertende Aussagen über Iren, Juden, Armenier, Chinesen und Mestizen. In seinem Spätwerk löste May sich von der Abenteuerschriftstellerei und schrieb symbolische Romane mit weltanschaulich-religiösem Inhalt und pazifistischer Tendenz. Für eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Karl May ist es nötig, eine verlässliche Ausgabe zu finden. Die Aufdeckung massiven Texteingriffe in den früheren Ausgaben entdeckte im Jahr 1963 Arno Schmidt. Der Karl-May-Verlag legte 1982-1984 einen Reprint der Erstausgaben in 33 Bänden nebst Ergänzungsbänden vor und im Jahr 2005 begann eine „Kritische Ausgabe nach den Manuskripten“ zu erscheinen, in der die Alterswerke neu ediert werden. Seit 1987 erscheint eine auf 120 Bände ausgelegte historisch-kritische Ausgabe, die von Hermann Wiedenroth (eine Zeitlang zusammen mit Hans Wollschläger) herausgegeben wird; sie erschien zunächst im Greno-Verlag, zwischenzeitlich bei Haffmans in Zürich und seit 1993 im Eigenverlag des Herausgebers (Bücherhaus, Bargfeld). Diese philologisch zuverlässige Ausgabe bemüht sich um den Abdruck des authentischen Wortlaut in den Erstausgaben und, wo möglich, auch in den Autorhandschriften und gibt Auskunft über die Textgeschichte. Nach den jahrelangen Auseinandersetzungen und den mehrmaligen Verlagswechseln wird die Ausgabe - vorläufig nur des Spätwerks - vom Karl-May-Verlag übernommen. Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Leben, Werk & Wirkung Karl Mays ist eine Studie Arno Schmidts (1963), in der er das Werk Karl Mays aus Sicht der Psychoanalyse Sigmund Freuds untersucht und analysiert. Sitara ist ein persarabisches Wort und bedeutet "Stern". Sitara besteht aus einem tiefgelegenen, sümpfereichen Niederland und einem der Sonne kühn entgegenstrebenden Hochland, welche beide durch einen steil aufwärts steigenden Urwaldstreifen mit einander verbunden sind. Das Tiefland ist eben ungesund, an giftigen Pflanzen und reißenden Tieren reich und allen von Meer zu Meer dahinbrausenden Stürmen preisgegeben. Man nennt es Ardistan. Ard heißt Erde, Scholle, niedriger Stoff, und bildlich bedeutet es das Wohlbehagen im geistlosen Schmutz und Staub, das rücksichtslose Trachten nach der Materie, den grausamen Vernichtungskampf gegen Alles, was nicht zum eigenen Selbst gehört oder nicht gewillt ist, ihm zu dienen. Ardistan ist also die Heimat der niedrigen, selbstsüchtigen Daseinsformen und, was sich auf seine höheren Bewohner bezieht, das Land der Gewalt- und Egoismusmenschen. Das Hochland hingegen ist gebirgig, gesund, ewig jung und schön, sonnenbeschienen, ein Garten Eden, ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan. Dschinni heißt Genius, wohltätiger Geist, segensreiches unirdisches Wesen, und bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb nach Höherem, das Wohlgefallen am geistigen und seelischen Aufwärtssteigen, das fleißige Trachten nach Allem, was gut und was edel ist, und vor allen Dingen die Freude am Glücke des Nächsten, an der Wohlfahrt aller derer, welche der Liebe und der Hilfe bedürfen. Dschinnistan ist also das Territorium der aufwärtsstrebenden Humanität und Nächstenliebe, das einst verheißene Land der Edelmenschen. Empor ins Reich der Edelmenschen hieß auch Karl Mays Vortrag im März 1912 in Wien, der als Ausdruck seiner Verehrung für Bertha von Suttner und die von ihr ins Leben gerufene Friedensbewegung entstand. May skizzierte das kommnede Reich des Friedens schon im Märchen vom Stern Sitara, wo es ausdrücklich heißt, Körperbau, Hautfarbe u s. w. … verändern nicht im geringsten den Werth oder Unwerth des .. Menschen. Bei diesem Vortrag war Adolf Hitler in ausgeliehenen Schuhen dabei. 10 Tage danach starb Karl May und der damalige Bewohner des Wiener Männerheims Adolf Hitler war von Mays Tod sehr getroffen. Er mochte ihn als einen charismatischen quasi Religionsstifter und als Beweis, das man als Deutscher allen anderen als Kenner der Völkerpsychologie überlegen sei. Mays Ablehnung des Rassismus verdränte er. Von dem Pazifissus des späten Karl May ließ er sich viel kaum beeindrucken. Er las allerdings Karl May wie andere Bible lesen, um sich daran innerlich aufzurichten. 1943 ließ Hitler noch – trotz Papiermangel – 300 000 Exemplare von Winnetou drucken – als Feldpostausgabe. Nach Albert Speers Erinnerungen fand Hitler in Winnetou ein Musterbeispiel eines Kompanieführers und ein Vorbild eines edlen Menschen.[5] Welche Autorinnen zählten um 1900 zu den profiliertesten? Die intensive Lektüre der Frauen um 1900 ergab sich aus dem besseren Zugang der Frauen zu Bildung einerseits und der immer noch patriarchalisch geprägten Lebensweise in den Familien andererseits. Die Lektüre eröffnete den Frauen weitere Horizonte und Erfahrungsmöglichkeiten, steigerte ihre Unzufriedenheit mit realen Lebensbedingungen und begünstigte – bei wenig Chancen sie zu ändern – ihre Flucht in fiktive Welten der Lektüre. Schon oben wurde wurde Hedwig Courths-Mahler erwähnt. 1905, nach den ersten Veröffentlichungen, zieht sie mit ihrem Mann nach Berlin, wo sie vor allem in der Zeitschrift "Berliner Hausfrau" veröffentlicht und einen kleinen Salon führt. 1912 gelingt ihr mit ihrem wohl bekanntesten Roman "Ich lasse Dich nicht!" der Durchbruch. Allein in Deutschland werden über eine Million Exemplare verkauft. Sie ist bis heute die meistübersetzte deutsche Autorin, aber gleichzeitig eine symbolische Figur der Schema-Literatur. Sie hatte aber wichtige Vorgängerinnen, die nicht nur als Unterhaltungsschriftstellerinnen galten. 1899 würdigte die Rundschauzeitschrift »Die Gegenwart« Nataly von Eschstruth als »unsere beliebteste deutsche Schriftstellerin« Eschstruths leicht humoristischer Erzählton und ihre naiv-idealisierende Charakterzeichnung erweckten in ihrem nationalgesinnten Lesepublikum den Eindruck, unmittelbaren Einblick in Alltagsleben und Familiengeschichte der höchsten Kreise zu gewinnen. Am Anfang der ernst zu nehmenden künstlerisch ambitionierten Romane und Erzählungen steht Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens (1895). Die Autorin (1859-1941) verkehrte im Kreis um die Berliner Freie Bühne und ihr »Antifamilienblattroman«, weil er nicht mit Happy-End, sondern mit Enttäuschung endet, erschien bei S. Fischer. Er sicherte ihr ein Publikum für weitere Erzählwerke emanzipatorischer Tendenz, in denen die psychische Verkrüppelung und physische Not der Frau, der »höheren Töchter«, der weiblichen Arbeiterschaft, der ledigen Mutter (die sie selber war), im Mittelpunkt stehen. In Aus guter Familie (wie auch im Novellenband Frauenseelen. Bln. 1902) macht die Mischung von objektiver und subjektiver Erzählperspektive (explizit deutender Erzählkommentar, erlebte Rede) auch der unerfahrenen Leserin den Grad an weiblicher Selbstentfremdung als Folge des zeitgenössischen Erziehungsprinzips deutlich. Aus der Kuratel der Eltern in die Kuratel eines Eheherrn sollten die Mädchen überstellt werden. Die seit frühester Kindheit eingeübte Gefühlsverdrängung und deren psychische und physische Kosten zeigt Reuter an der Lebensgeschichte von Agnes Heidling - von der Konfirmarion, über ihr Pensionatsleben bis zur gescheiterten Verehelichung, als ihr Vater nicht die übliche Mitgift aufbringen kann. Als sie sich danach noch von ihrer Jugendliebe trennt, weil sich der inzwischen leichtfertig gewordene Schriftsteller nicht mit ihrem alten Idealbild von ihm deckt, bricht sie zusammen. Der letzte Satz des Buches lautet: „Und Agathe hat vielleicht ein langes Leben vor sich – sie ist noch nicht vierzig Jahre alt.“ Ihr restliches Leben wird sie aber vermutlich in geistiger Abstumpfung mit Patiencen und einer Sammlung von Häkelmustern verbringen. Wie Fontanes Effi Briest behandelt auch Reuters Roman Aus guter Familie das Problem der Stellung der berufslosen Frau aus der höheren Schicht. Während Reuters Roman den Fontanes an Auflagenhöhe und Verbreitung zunächst übertraf (bis 1931 wurden insgesamt 28.000 Stück verlegt) und auch die politische Frauenbewegung beeinflusste, führten spätere Kanonisierungsprozesse dazu, dass „Effi Briest“ bis heute einen Platz im schulischen und universitären Kanon behauptet hat, während Reuter in Vergessenheit geriet. Einen Skandal verursachte Reuters Roman Das Tränenhaus (1908), in dem sie auf recht drastische Weise die Zustände in einem Haus für ledig Gebärende schilderte. Isolde Kurz (1853-1944) lebte 1877-1910 in Italien. Sie bezog die Stellung gegen Naturalismus und Expressionismus. Ihr Stilkonservatismus und ihre apolitische »ideale« Weltsicht gilt um die Jahrhundertwende neben Moderne und Heimatkunst als dritte Literaturströmung. Ihre Biogrpahie zeigt, wie schwer es für Frauen war, sich eine mit Männern vergleichbare Bildung anzueignen. »In den bürgerlichen Kreisen, auch in den gebildeten, soweit sie nicht wohlhabend waren, begnügte man sich oft genug damit, ihnen die häuslichen Arbeiten beizubringen und sie zu unbezahlten Dienstmädchen heranzuziehen, besonders wenn das Studium der Söhne die elterlichen Mittel erschöpfte.« So wurde sie Autodidaktin und eine stolze Außenseiterin, die mit ihren Geschlechtsgenossinnen nichts gemeinsam haben wollte. Vor ihrem Umzug nach Italien verdient sie sich ihren Lebensunterhalt mit Sprachunterricht und Übersetzungen. Ihr ältester Bruder Edgar wurde Arzt in Florenz und ließ Isolde, ihre Mutter und der jüngste, schwerkranke Bruder Balde in den Süden ziehen. Die Sitte« verbietet es damals jungen Frauen in Italien, sich ohne Begleitung auf der Straße zu bewegen. Überall erregt sie - nicht zuletzt weil sie blond ist - Aufsehen, wenn sie allein durch die Gegend streift. George Sand, die in Paris unter denselben Bedingungen lebte, zog sich Männerkleidung an, wenn sie durch die Stadt lief oder die Oper und das Theater besuchte. Isolde Kurz, so scheint es, ist dieser Gedanke nicht gekommen.Tag für Tag sitzt sie in der Bibliotheca Nazionale am »Damentisch« und macht Auszüge. Aus der ursprünglich wissenschaftlichen Arbeit werden zwei Erzählbäde: Florentiner Novellen [6](1890) und Italienische Erzählungen (1902). Sie empfindet Dichtung als einen »schöpferischen Auftrag«. Sie ist ein Medium; »Stimmen« kommen zu ihr. Für sie als kreative Frau bedeutet das Verzicht auf Liebe zum anderen Geschlecht. Männer, so führt Isolde Kurz aus, die schöpferisch tätig sein wollen, brauchen eine »sorgliche Frauenhand, umhüllende Liebe«. Für Frauen aber gilt: »Zwei Götter können sich nicht nebeneinander vertragen. Der Eros will seine Beute ganz und der Genius ebenfalls... Und der Eros bringt für die Frau unausweichlich die Dienstbarkeit mit, das Wesen des Genius aber ist Freiheit.« Später stellte sie allerdings ihr Prestige als Autorin in den Dienst für nationalistische bzw. nationalsozialistische Propaganda im Ersten bzw. im Zweiten Weltkrieg und ihre stolz deklarierte apolitische Einstellung nahm schnell ein Ende. Aus einer prominenten Familie wie die Tochter von Hermann Kurz – Isolde – stammte auch Helene Böhlau (1856-1940). Ihr Vater besaß den Hermann Böhlau Verlag in Weimar, in dem u. a. die »Sophienausgabe« der Werke Goethes erschien. 1886 heiratete sie den Privatgelehrten Friedrich Arndt, der deshalb zum Islam konvertierte, um seine zweite Ehe eingehen zu können. Sein neuer Namen war Omar Al Raschid Bey und der schriftstellerischen Arbeit seiner Frau brachte er viel Verständnis entgegen. Sie lebten zuerst 1886-1888 in Konstantinopel, danach in Ingolstadt u. München. Im Zusammenhang mit der öffentlichen Auseinandersetzung um das 1896 vom Reichstag verabschiedete Bürgerliche Gesetzbuch, das am 1. 1. 1900 in Kraft treten sollte schrieb sie ihren Roman Das Halbtier! (1899). Sie wollte die Aufmerksamkeit des Lesepublikums auf die seelische Degradierung auch der bürgerlichen Frau durch die wirtschaftliche Abhängigkeit ihrer Ehe zwingen. Diese frauenrechtlichen Romane wirkten von der Autorin gemütlicher Humoresken wie Rathsmädelgeschichten (1888) um so provokativer. Isolde Hey, die Heldind des Romans Das Halbtier! ist demselben Druck der Konvention ausgesetzt wie Agathe Heiling bei Gabriele Reuter: sie soll in ihrer Mutterrolle ganz aufgehen. Von ihrer Mutter weiß sie jedoch von der Gefahr, die Ehe degradiere die Frau zu einer Haustierrolle, zu einem Geschlechtswesen. Die Handlung kulminiert darin, dass Isolde ihren früher von ihr verehrten Schwager Mengersen tötet, der sich ihr in der Absicht einer Vergewaltigung nähert und dabei selbst zum Tier wird, für das er Frauen immer gehalten hat: „Waren das Henry Mengersens kühle Augen? Diese gierigen Raubtierblicke?“ (S. 193). Als sie ihn erschießt, schreit sie: „Wie einen Hund!“. Mit dieser Exekution sind alle sich gegen Frauen versündigenden Männer gemeint. Am Ende steht Isoldes Freitod,eine einzige Möglichkeit über sich selbst zu bestimmen. Als 1915 die erste Werkausgabe in 6 Bänden erscheint, verfasst Helene Böhlau ein distanzierendes Vorwort zu Halbtier!, in der zweiten Werkausgabe 1927/29 fehlt der Roman gar – ihre eigene Radikalität scheint ihr selbst nicht mehr geheuer gewesen zu sein. Clara Viebig, verh. Cohn, (1860–1952), eine der Lieblingsautorinnen von Arne Novák, verbrachte ihre frühe Kindheit in Trier und zog dann mit ihrer Familie nach Düsseldorf. Die von hier in die Eifel unternommenen Ausflüge dienten als Stoff in ihrem späteren Werk. Nach dem Abitur und dem Tod des Vaters kam sie 1880 zu Verwandten auf deren Landgut bei Posen. 1883 siedelte sie über nach Berlin und besuchte dort die Musikhochschule, um ein Gesangstudium zu absolvieren. In der Eifel hatte Viebig den Verleger Fritz Theodor Cohn (= Egon Fleischel) kennengelernt, den sie 1896 heiratete. Cohn war Mitinhaber der Berliner Verlagsbuchhandlung Fontane & Co. (ab 1901 Fleischel & Co.), in der bis 1914 alle ihre Romane erschienen. Nur mit Theodor Fontanes Hilfe konnte das Paar die konfessionsübergreifende Heirat gegen die antisemitischen Vorbehalte insbesondere von Viebigs Mutter, aber auch gegen die Bedenken von Cohns Eltern durchsetzen.Wegen ihres (1936 verstorbenen) jüdischen Mannes ist sie während der NS-Zeit mißliebig geworden. Beim Aufstig des Nationalismus haben jedoch beide wenig Weitsicht gezeigt. Auch Cohn gab sich der Illusion hin, dass er als assimilierter Jude vor Angriffen der Nazis sicher sei. Zuerst emigirierte sie 1937 zu ihrem Sohn nach Brasilien, kehrte aber bald nach Deutschland zurück und ihre Werke wurden wieder aufgelegt. 1892 wurde die Lektüre von Emile Zolas Roman „Germinal” für sie zum Schlüsselerlebnis für die künftige literarische Arbeit, sie wollte wie Zola schreiben: Ohne Rücksicht, ohne Furcht, ohne Bedenken. Die »deutsche Zolaide«, die Spätnaturalistin Viebig, hatte 1897 einen ersten Erfolg mit der Novellensammlung Kinder der Eifel. Als Charakteristika ihres Erzählstils findet man hier schon die um Lebensechtheit bemühte exakte Milieubeschreibung; die stimmungsvollen Bilder einer düsteren, rückständigen Landschaft, trotz Verbundenheit mit ihren Figuren ein nüchterner, direkter erzählerischer Zugriff. Die Erzählung Das Miseräbelchen gab auch den titel einem modernen Auswahlband aus ihrem Werk[7]. Die Eifel, von Viebig erstmals als Literaturregion zur Geltung gebracht, gibt auch den Hintergrund ihres humoristischen Romans Das Weiberdorf (1900), dessen derb-drastischer Realismus beanstandet wurde. Aufgrund des zur Neige gehenden Rohstoffes Eisenerz in der Umgebung von Eisenschmitt wurden die arbeitsfähigen Männer gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu Gastarbeitern im Ruhrgebiet. Sie verdienten den Unterhalt für sich und ihre Familien in den aufstrebenden Stahlwerken. Zurückgeblieben sind die Frauen, die während der langen Abwesenheit ihrer Männer alle Arbeiten in Haus und Feld alleine erledigen mussten – daher der Name des Romans Das Weiberdorf. Peter Miffert, der mit seinem lahmen Bein nicht in die Ferne zum Geldverdienen ziehen kann, bleibt als Hahn im Korb zurück, alle Frauen bemühen sich um ihn. Auch wenn sie alle Arbeiten im Haus und auf den Feldern allein erledigen müssen, kommen sie doch auch noch auf andere Gedanken,die "Das Weiberdorf" seinerzeit auf den Index der katholischen Kirche gebracht haben. Das schlafende Heer (1904)[8] schildert die Germanisierung der (polnischen) preußischen Provinz in den 80er Jahren. Die Neuromantikerin Richarda Huch (1864-1947) wurde durch ihre essayistschen Werke Blütezeit der Romantik, 1899, und Ausbreitung und Verfall der Romantik, 1902, berühmt. Huch entstammte einer wohlhabenden, kulturell aufgeschlossenen Kaufmannsfamilie aus Braunschweig. Deren wirtschaftlicher Verfall und Huchs Liebesbeziehung zu dem mit ihrer Schwester verheirateten Vetter Richard Huch bewogen sie 1887 zur Übersiedlung nach Zürich. Dort holte sie das Abitur nach, schloß ihr Geschichtsstudium 1891 mit der Promotion ab und war anschließend Bibliothekarin und Lehrerin für Deutsch und Geschichte. Ab 1897 lebte sie allein ihren schriftstellerischen Neigungen, seit 1900 (mit Unterbrechungen) in München. 1905 wurde ihre Ehe mit einem iztalienischen Zahnarzt gelöst, Huch heiratete ihre frühe Liebe, ihren Vetter Richard Huch und lebte drei Jahre, bis zum Scheitern auch dieser Ehe, mit ihm in Braunschweig. 1911 kehrte sie nach München zurück und lebte dort bis 1927. 1933 trat Huch aus Protest gegen die nationalsozialistische Gleichschaltung als erstes Mitglied aus der Preußischen Akademie der Künste aus. Trotz Anfeindung und Unterbindung der Verbreitung ihrer Bücher blieb sie in Deutschland. Autobiograpphische Züge weist ihr Roman Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren (Bln. 1893) Ihr Roman Vita somnium breve[9], 1903, trägt seit 1913den Titel Michael Ungar. Michael Ungar entstammt einem reichen norddeutschen Patrizierhaus und beginnt seine Schicht zu hassen: die auch mit Arbeit und Sorge Geld errungen haben, eine schöne Frau und hochmütige Kinder! Die vor mir die Überzeugung voraus haben, daß dies das Wichtigste und Größte ist, was man dem Leben abgewinnen kann. Unter dem Einfluß der Begegnung mit der Malerin Rose Sarthorn kommt dem etwa 30jährigen Kaufmann sein bisheriges Leben wertlos vor, und er bricht auf im Zeichen der romantischen Sehnsucht. Der Satz O leben, o Schönheit! kehrt mehrmals wieder. Er verlässt seine Frau und seinen Sohn, um Medizin zu studieren und der Geliebten nahe sein. In den Studentenkreisen werden die Musik Richard Wagners und die Grenzen des Erlaubten in der Kunst diskutiert. Stefan George wird hier als Dichter Aristos deutlich kritisiert, indem ihm folgende elitäre Vorstellungen in den Mund gelegt werden: In früheren Zeiten wurde die gelderzeugende Arbeit von Sklaven und Leibeigenen besorgt; können wir diese Einrichtung auch nicht wiedre einfführen, so wird es doch immer natürliche Arbeiter und Sklaven wie natürliche Herren geben, und die ersten werden stets in der Überzahl sein. Meine Meinung ist, daß diese als Packträger, Kesselflicker, Bankdirektoren oder was sonst ihrem angeborenene Beruf nachgehen und für die Bedürfnisse der wenigen Sorgen, die ihren Träumen leben wollen. Der Vater Ungar, um die Berufswahl desen Sohnes geht es in dem Gespräch, hält es nicht mehr aus und ruft: Ich glaube, dass es meinem Sohne eben recht wäre, wenn ich zeitlebens den Packträger für ihn machte, damit er träumen, oder besser gesagt faulenzen könnte. … Der Monist und Darwinist Ernst Haeckel[10] (1834 – 1919) dürfte für den Freiherrn v. Recklingen Pate gestanden haben. Weltall und Weltseele waren ihm nicht bloße Worte, sondern innerstes Glaubensbekenntnis, und in der Überzeugung vom Zusammenhang aller Erscheinungen und ihrer Wesenhaftigkeit war ihm das Große wie das Kleine gleich heilig und wichtig. Die Anklänge an die Romantiker sind bis in die Bilderwahl spürbar. So heißt es über Michael Ungar: Es tat ihm wohl, wenn der Mantel seines Begleiters sich hinter ihm aufblähte und in der Luft stand wie ein sausender Fittich; auch meine Seele wird die Flügel regen, dachte er, und sie werden mich über Hügel und Berge tragen, dahin, wo die Gedanken schweigen, dahin, wo Götter wohnen. In dem Goldnen Topf von E. T. A. Hoffmann heißt es über den sich verabschiedeten Archivarius Lindhorst: da setzte sich der Wind in den weiten Überrock und trieb die Schöße auseinander, daß sie wie ein paar großer Flügel in den Lüften flatterten und es dem Studenten Anselmus vorkam, als breite ein großer Vogel die Fittiche aus zum raschen Fluge. Michael Ungars Bindung an den Sohn Mario läßt ihn seinen schönen Traum an der Seite von Roses nicht austräumen. Zwölf Jahre später ist die Euphorie des Aufbruchs vorbei, die Liebesbeziehung zu Rose Sarthorn endet fast banal – sie entscheidet sich für den Freiherrn und Michael Unger kehrt zu siener Familie zurück und erkennt seine Schuld an der problematischen Entwicklung seines Sohnes Mario. Huch thematisiert aber die Brüchigkeit des Romanschlusses und die Unmöglichkeit, den klassisch-romantischen Bildungsroman ins zwanzigste Jahrhundert zu verpflanzen: Diese Bierbrauer und Kommerzienräte glauben, wenn sie ihre Wände mit Teppichen behängt, ein paar Kübel mit grünen Pflanzen davorgestellt und ihre schönen Weiber recht herausgeputzt haben, sie hätten Italien und das Alter der Renaissance leibhaftig gemacht. Sie wissen nicht, daß die Götter alles Große um Schmerzen und Mühen verkaufen, und ebensowenig, daß die Erinnerung erst Fleisch und Knochen von der Seele wegschmelzen und Traumgewänder darüberhängen muß, damit die Menschen und Dinge so schön werden, wie wir die längstvergangenen sehen. Je mehr sie sich mit allem Zubehör der Jahrhunderte ausstaffieren und mit vollen Backen zechen, um etwas Dionysisches vorzustellen, desto mehr verfallen sie der Zeitlichkeit, die wie ein hungriger Hund nach den fettesten Beinen schnappt. Der Roman schließt in Ernüchterung und Resignation. Der ursprüngliche Romantitel Das Leben ist (nur) ein kurzer Traum enthält gleich das Zugeständnis, die ästhetizistische Flucht ist nur eine Scheinlösung, die Entscheidung für das Sich-Ausleben eine Äußerung des Egoismus. ------------------------------- [1] 1877 – 1962, Peter Camenzind, 1904, an Gottfried Keller orientiert; Unterm Rad, 1906, eine autobiographisch grundierte Schulgeschichte. [2] Lena Christ (1881-1920), die uneheliche Tochter einer Gastwirtin, wurde von der Mutter und ihrem Stiefvater ausgebeutet. sue musste in der Gastwirtschaft ihrer Mutter in München hart arbeiten. Ihre musikalische. Begabung konnte sich nicht entfalten. Mit Ohnmachten, Depressionen und schweren Krankheiten reagierte sie auf den Entzug jeglicher Zuwendung, auf die sie stets aufs neue hoffte. Durch ihre Heirat mit Anton Leix 1901 geriet sie in eine Ehe mit einem Trinker von brutalstem Charakter, die, als sie nach acht Jahren u. sechs Geburten (nur drei Kinder überlebten) mit der Trennung endete, ihr gesamtes Vermögen u. ihre Gesundheit aufgezehrt hatte. 1912 erscheinen mit Hilfe von Ludwig Thoma ihre "Erinnerungen einer Überflüssigen". Das Buch hat großen Erfolg auf dem Markt und erzielte gute Kritiken. 1913 verfasste sie - aufgrund der Erinnerungen an ihre Mädchenjahre - das Buch "Lausdirndlgeschichten", dessen Titel an L. Thomas Lausbubengeschichten erinnert.. [3] Durch die Vermittlung Ludwig Thomas erschien 1912 im Verlag Albert Langen in München ihr autobiographisches Werk EeÜ, das ihr ermöglichte eine bessere Existenz aufzubauen. Der Titel des Buchs und das Pseudonym Lena Christ waren Vorschläge von Peter Benedix, einem Lyriker, dessen Frau sie wurde. Ihr direkter Zugriff auf konkrete Dinge, der Erzählstil, der nicht kommentiert, nicht anklagt, nicht verklärt, machten den Erfolg aus. [4] (1842 - 1912), gest. in Radebeul bei Dresden. Die als Konderlektüre beaknnten Bände heißen Der Sohn des Bärenjägers (1887), Der Geist des Llano estakado (1888), Der Schatz im Silbersee (1894) [5] Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. Múnchen, Piper, 2001. S. 544-548. [6] Die Vermählung der Toten zählt nach Reich-Ranicki zum Kanon Erzählliteratur der Jahrhundertwende. [7] Das Miseräbelchen und a. Erzählungen. Hg. Bernd Jentzsch. Mit Nachw. v. Norbert Oellers. Olten/ Freib. i. Br. 1981. [8] Josef Poláček: Deutsche soziale Prosa zwischen Naturalismus und Realismus. Zu C. Viebigs Romanen ›Das Weiberdorf‹ und ›Das tägl. Brot‹. In: Philologica Pragensia 6 (1963), S. 245-257. [9] Böcklins gleichnamiges Bild [10] Die Welträtsel, 1899, meint die Frage nach dem Wesen von Materie u. Kraft, dem Ursprung der Bewegung, des Lebens, der Naturordnung, des Bewußtseins, der Sprache u. der Willensfreiheit. H. glaubte, alle diese Fragen seien »durch unsere moderne Entwicklungslehre endgültig gelöst«. Es bleibe nur eine Frage: »Was ist denn nun eigentlich im tiefsten Grunde dieses allgewaltige Weltwunder«, das »Natur«, »Substanz« oder »Gott« genannt werde? H.s polem. u. gleichzeitig mystizierende Gewißheit zeigt, daß seine »einfache Naturreligion« der dogmat. u. totalitären Religiosität verfallen war, die er als kritischer, erfahrungsorientierter Wissenschaftler urspr. bekämpft hatte. Theorie u. moralische u. polit. Weltanschau- ungslehre prägnant zusammenfaßte. In seiner älteren Schrift Natürliche Schöpfungsgeschichte (Jena 1868) stellte H. höchst eklektizistische u. widersprüchliche moralische Überlegungen an. So erklärte er einerseits, daß alle Tiere unsere »Brüder« seien u. beklagte die Formen, die »der Kampf ums Dasein [...] in dem herrschenden Militarismus und [...] der Börsenspekulation« angenommen habe; andererseits dozierte er rassistisch, daß der »Unterschied zwischen den höchst entwickelten Tierseelen und den tiefstehenden Menschenseelen [...] viel geringer [...] sei als der zwischen den niedersten und höchsten Menschenseelen«. Daher glaubte er vorhersagen u. legitimieren zu können, daß die meisten Rassen den Europäern »im Kampf ums Dasein früher oder später gänzlich erliegen werden«.