Impressionismus – Neuromantik – Jugendstil - Neuklassik nach Ingo Leiß und Hermann Stadler (Gymnasiallehrer): Wege in die Moderne 1890 – 1918 Der traditionellen Aufteilung in heterogene, einander ablösende Richtungen u. Stiltendenzen (Symbolismus, Ästhetizismus, Impressionismus, Décadence, Fin de siecle, Jugendstil, Neuromantik, Neuklassik, Heimatkunstbewegung) stellte Wolfdietrich Rasch Ende der 50er Jahre die These von der ›inneren Einheit‹ einer Zeit entgegen, »in der klar unterscheidbare Formungsweisen, die keimhaft schon im Anfang nebeneinander hervortreten, sich nebeneinander entfalten«. [Sachlexikon: Jahrhundertwende, S. 1. Digitale Bibliothek Band 9: Killy Literaturlexikon, S. 24914 (vgl. Killy Bd. 13, S. 449)] Der Begriff Moderne versuchte den Anspruch der Literatur um 1900 zum Ausdruck zu bringen, eine neue Geistesära zu eröffnen, sich von den „ewigen“ Werten und normativen Mustern des 19. Jhs zu verabschieden, ähnlich wie in den Naturwissenschaften einen radikalen Umbruch mitzumachen. Der Begriff hat aber auch die Kehrseite, die Ablehnung der bisherigen unreflektierten Sicherheit. Die reine Abbildbarkeit der Welt wird von Künstlern stark angezweifelt, es bleibt nur noch die Möglichkeit, sie als Modell zu erfassen, in Chiffren, Normen und Farben wiederzugeben. In der Literatur werden diese Zweifel an der Erkennbarkeit der Welt noch von den Zweifeln verstärkt, ob die Sprache überhaupt fähig sei, die Realität zu vermitteln. Diese Abkoppelung von traditionellen Werten brachte eine Stimmung der Resignation, eine narzisstische Selbstbespiegelung, eine widersprüchliche Genussfähigkeit des fin de siecle. In seinem ersten Essay über Gabriele D´Annunzio schreibt Hofmannsthal im Jahrer 1893. 53 Wir haben nichts als ein sentimentales Gedächtnis, einen gelähmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung. Wir schauen unserem Leben zu; wir leeren den Pokal vorzeitig und bleiben doch unendlich durstig: denn wie neulich Bourget schön und traurig gesagt hat, den Becher, den das Leben uns hinhält, hat einen Sprung, und während uns der volle Trunk vielleicht berauscht hätte, muss ewig fehlen, was während des Trinkens unten rieselnd verlorengeht; so empfinden wir im Besitz den Verlust, im Erleben das stete Versäumen. Wir haben gleichsam keine Wurzeln im Leben und streichen, hellsichtige und doch tagblinde Schatten, zwischen den Kindern des Lebens umher [...] Man treibt Anatomie des eigenen Seelenlebens, oder man träumt. Reflexion oder Phantasie, Spiegelbild oder Traumbild. Modern sind alte Möbel und junge Nervositäten. Modern ist das psychologische Graswachsenhören und das Plätschern in der reinphantastischen Wunderwelt. Modern ist Paul Bourget und Buddha; das Zerschneiden von Atomen und das Ballspielen mit dem All; modern ist die Zergliederung einer Laune, eines Seufzers, eines Skrupels; modern ist die instinktmäßige, fast somnabule Hingabe an jede Offenbarung des Schönen, an einen Farbenakkord, eine funkelnde Metapher, eine Wundervolle Allegorie. Diese neue Literatur einer grenzenlosen Subjektivität bevorzugt Skizzenhaftigkeit, eine weniger strenge Einhaltung der Gattungsgrenzen. Es entstehen lyrische Dramen, novellistische Skizen, Tragikomödien, in der Prosa setzen sich die erlebte Rede bzw. der innere Monolog durch, ein Signal, das auf einen allwissenden Erzähler verzichtet wird, weil alles nur relativ, nicht allgemein verifizierbar erscheint. Die Kritik am Naturalismsus, der noch an die Möglichkeit der Beschreibung glaubte, wenn man nur „wissenschaftlich“ genau arbeitet, wird zum Ausgangspunkt des neun Stilpluralismus. Nietzsche nach Gert Mattenklott Von der Entstehungszeit her liegen die Werke Friedrich Nietzsches (1844 bis 1900), mit denen er die Vorstellungswelt und Rhetorik des Fin de siecle wie kein anderer geprägt hat, an der Peripherie der hier kommentierten Stilperiode. Mit ihren Gehalten sind sie aber gleichbleibend zentral. Die Geburt der Tragödie (1872) steht unter dem Eindruck der Pariser Commune. Im Blick auf die drohende proletarische Revolution entwirft sie eine ästhetische Ordnung, in der die anarchischen Gewalten der dionysischen Natur durch die apollinischen Formkräfte verzögert und verhüllt, besänftigt und bewertet werden. Keine der beiden soll die jeweils andere unterwerfen, jede vielmehr die Bedingung der anderen sein, so daß das Ideal ihrer Darstellung ein ästhetisch hergestelltes Gleichgewicht ist: die symbolische Kultur der Gleichnisse und Parabeln, Metaphern und Mythen, in denen die wilden Triebmächte als ästhetische Energien auf das Leben wirken. Eine bürgerliche Kunstrevolution anstelle der realen proletarischen. Fasziniert von Wagners Musikdramen, entwickelt Nietzsche eine Theorie der Tragödie, der zufolge sich der Zuschauer im kollektiven Visionär des verzückten Chors wiederfinde, für den «der Staat und die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühl weichen, welches an das Herz der Natur zurückführt». Der dithyrambische Chor sei ein «Chor von Verwandelten», die «ihre bürgerliche Vergangenheit, ihre soziale Stellung» vergessen hätten zugunsten des Dionysos-Dienstes, über den sie in apollinischen Traumgebilden Mitteilung machen. Die Bildprojektionen des Dionysischen auf die Wände der apollinischen Künste schaffen das Fluidum eines neuen Kollektivgefühls. Die hier ästhetisch produzierte Gemeinschaft soll nicht bloß antibürgerlich sein - wie Nietzsche es der proletarischen vorwirft -, sondern jenseits aller Klassen. - Die orgiastische Wildheit der von Nietzsche konzipierten Dithyramben will einerseits die Radikalität der proletarischen Revolution in der Verneinung überbieten, andererseits ihre brandstiftende Wut in mythenbildende Phantasien ableiten. Auf welchem Niveau später diese Balance von chthonischen, «dionysischen» Naturenergien und Bildkräften hergestellt wird - hier ist sie am komplexesten vorgeprägt. Mit seiner Philosophie der dichterischen Bilder als von Projektionsflächen für die zentrifugalen Triebenergien hat Nietzsche die Ästhetik des Jugendstils avant la lettre bedeutungsreicher formuliert, als dessen Kunstproduktion in den Jahren danach sie je eingelöst hat. D as gilt in ähnlicher Weise für seine Kritik des Historismus, die er gegen Burckhardts machiavellistischen Plan propagiert, die Massen auf historische Leitbilder auszurichten. Formuliert die Tragödienschrift das philosophische Ideal des Jugendstils, so enthält der Zarathustra fast das gesamte Arsenal seiner poetischen Formen und Traumgesichte. Zarathustras Zeit ist die mittägliche Panstunde, in der der Mensch keinen Schatten wirft, nicht in die Vergangenheit und nicht in die Zukunft. Die Sonne im Zenit schafft die Beleuchtung, in der die Dinge in ihren reinen Umrissen und leuchtenden Farben erscheinen. Zarathustra ist ein trunkener Tänzer, Wahrsager und Traumdeuter. Sein Reden ist Lallen und Singen oder ein Ritt zur Wahrheit «auf dem Rücken der Gleichnisse». Seine Heimat ist die stadtferne Natur der Gebirgswelt, in die er zurückkehrt wie in eine ekstatische Trance und begeisterte Entrückung. Die Gesellschaft der Städte ist Versuchung und Prüfung. Der Inhalt seiner Reden ist die Ewigkeit von Lust und Tod, ein Abgrund von Immergleichem, über den die hymnische Rhetorik einen leuchtenden Regenbogen spannt. Nietzsche hat der Folgegeneration auch dadurch neue Ausdrucksformen erschlossen, daß er die Kritik an der wilhelminischen Gesellschaft und ihren Ideologien, wie sie ja auch der poetische Naturalismus vorgebracht hatte, in eine Sprache glühender Lebenslust gekleidet hat. Abseits von den Diskussionen um die «soziale Frage» lehrt Zarathustra - statt eines Wegs zum Wohlbefinden - die moralfreie Intensität des Lebens und Sterbens. Im lyrischen Enthusiasmus seiner Philosophie hat er der Sehnsucht nach starken Empfindungen, die individuell noch in jeder bürgerlichen Pubertät aufbrechen, doch dann allzu rasch und fade gesellschaftlich befriedet werden, ein Denkmal gesetzt. Unter den rhetorischen Figuren Nietzsches, die ihn dem Jugendstil empfohlen haben, ist eine der wichtigsten die doppeldeutige Gebärde des Lebenswillens und der Hingabe ans Leben. Sie wird zum Grundmuster des Jugendstils, indem sie zugleich den abstrahierenden Kunst- und Stilwillen, in dem das Lebendige überdauern möchte, wie die Unterwerfung unter das Werden und Vergehen des vegetabilen Lebens enthält: die Geometrie des Ornaments und die lebendige Dynamik des Lebensrohstoffs, den es aufheben soll. George ist darin wohl der aufmerksamste Schüler Nietzsches gewesen, auf andere Weise Dehmel. Impressionismus Der Begriff stammt aus der Malerei. Um 1900 macht sich überhaupt die Vorreiterrolle der bildenden Kunst bemerkbar. Schon 1774 hat Monet sein Bild Impression, soleil levant ausgestellt und ein Kritiker (Leroy) anlässlich einer Ausstellung unbekannter Maler höhnisch von einer exposition des impressionistes geschrieben, um die Verwandtschaft mit der Darstellungsweise von Cézanne, Degas, Claude Monet und Auguste Renoir zu kennzeichnen. Es war die Kunst des Eindrucks, einer Stimmung, die einen rasch vergänglichen Augenblick festhielt. In betonter Subjektivität beschränkten sich die Künstler auf die Wiedergabe von Sinneseindrücken, auf Auflösung realer Strukturen in Farb- und Lichtreflexe. Dabei verzichteten sie auf Abstraktion und geistige Durchdringung. Wenn Monet immer wider die Kathedrale von Rouen malte, wollte er nicht das Bauwerk als Symbol erfassen, sondern den immer neuen optischen Eindruck je nach Wetter und Tageszeit. Der Subjektivismus der neuen Kunsthaltung unterschied sie vom Naturalismus. In H. Bahrs Essay Die Überwindung des Naturalismus aus dem Jahre 1891 heißt es: Wir wollen die Fenster weit öffnen, daß die Sonne zu uns komme, die blühende Sonne des jungen Mai. Wir wollen alle Sinne und Nerven auftun [...] Nur den Sinnen wollen wir uns vertrauen [...] der Einzug des auswärtigen Lebens in den inneren Geist, das ist die neue Kunst [...] Wir haben kein anderes Gesetz als die Wahrheit, wie sie jeder empfindet. Er greift das damals populäre Wort Neuromantik auf, wandelt es aber zu Neuro – Mantik um, also zur Mystik der Nerven, zur nervösen Romantik, , es geht ihm um Augenblicksbilder der eiligen Ereignisse auf den Nerven (Wahrheit, Wahrheit, 1891). Wer schon etwa Metaphern oder Vergleiche verwendet, gibt den Augenblick nicht unmittelbar wider, sondern hat das Gesehene oder Erlebte bereits verarbeitet. Deshalb sind reine impressionistische Texte selten, am reinsten können diese Postulate noch im lyrischen Gedicht, einer epischen oder dramatischen Skizze umgesetzt werden. Die Auswirkungen auf Lexikon und Grammatik sind auffallend: man verwendet neue Zusammensetzungen von Wörtern als Mittel der Abschattierung, man greift zur Wortwiederholung, um die dabei wandelnde Nuancierung festzuhalten, man zieht das Adjektiv dem Substantiv vor, weil das Substantiv ein Wesen, ein ständiges Sein suggeriert, dessen Gewißheit ein Produkt der geistigen Verarbeitung vieler Sinneseindrücke ist. Das Partizip Präsens aktiv gibt diesen augenblicklichen Ablauf am besten wieder. Die parataktische Satzreihung vermittelt den Eindruck der unreflektierten Bobachtung.Wichtige Rolle fällt außerverbalen Mitteln zu. Punkte kennzeichnen Pausen, Doppelpunkte erlauben Verknüpfungen ohne logische Konjunktionen, Ausrufezeichen weisen auf Lautstärke hin, gedehnte Redeweise kann durch unorthographische Vokaldoppleung sinnfällig gemacht werden. Arno Holz: Revolution der Lyrik (1899) Alltägliche und daher vermeintlich uninteressante dinge können einen verborgenen Reiz haben, den die Künstler sichtbar machen müßten; solche Gegenstände seine nicht wegen ihrer Bedeutung von Interesse, sondern als Sinneswahrnehemung. Alltagsszenen von Johannes Schlaf: Am Wahlabend in Berlin Naturbilder: Dauthendey: Blütenleben. Neuromantik Das Werk des frühen Hesse, des jungen Hofmannsthal oder Rilkes ist an Vorbildern aus der Romantik orientiert, an ihren Formen und Motiven. Die Tendenz zur märchenhaften Entrückung klingt noch 1905 in Beer-Hofmanns Tragödie Der Graf von Charolais nach. Romantische Vorbilder werden aufgegriffen: Hugo von Hofmannsthal: Das Bergwerk zu Falun geht auf eine Novelle E. T. A. Hoffmanns zurück, Hesses Lyrik orientiert sich auf Eichendorff. Die Wendung nach innen, die Betonung des Individuellen, die Erfahrungen im Traum, die Welt des Irrationalen fesselt wieder die junge Dichtergeneration. Ein frühes Zeichen setztet G. Hauptmann mit seinem Stück Hanneles Himmelfahrt im Jahre 1893. Peter Camenzind (1904) oder Carl Hauptmanns Einhart der Lächler (1907) porträtieren den neuromantischen Seelenvagabunden., der der bürgerlichen Gesellschaft den Rücken kehrt. Im Anschluß an Joseph von Eichendorffs Taugenichts bevorzugten neuromant. Au- toren diesen Typus des weltfremden Helden, wie ihn Hermann Hesses Knulp. (Bln. 1915) noch verkörpert. Die Neuromantik war vor allem in Wien eine Mischung aus etwas posenhafter aristokratischer Haltung, einem betonten Ästhetizismus, allumfassender Erotik, ausageprägter Reizempfänglichekit, von Lebensmüdigkeit. Eine positivere Grundrichtung versuchte Eugen Diederichs dieser Strömung in Erläuterungen zu seinem Verlagsprogramm zu formulieren: Als führender Verlag der Neuromantik möchte ich betonen, dass diese nicht mit der Dekadenzrichtung der Literatur zu verwechseln ist. Nicht [...] weltfremde Träumerei bevorzugt die neue Geistesrichtung, sondern auch dem Zeitalter des Spezialistentums, der einseitigen Verstandeskultur, will sie die Welt als etwas Ganzes genießen und betrachten. Indem sie das Weltbild wieder intuitiv faßt, überwindet sie die aus der Verstandeskultur hervorgegangenen Erscheinungen des Materialismus und Naturalismus. In seinem Verlag erschien auch die zweibändige Monographie Die Romantik (1908) von Richarda Huch[1]. Vorbilder waren außer den Romantikern aus der Zeit um und nach 1800 auch Nietzsches Irrationalismus und Wagners Hang zum Mythos und zu dessen Psychologisierung. Und dass trotz der Abneigung Diederichs zu Wagner. Dieser in der Forschung umstrittene Begriff tauchte 1906 als Titel einer Aufsatzsammlung von Ludwig Coellen im Verlag Eugen Diederichs auf u. wird einzelnen Werken der J. vor allem aufgrund ihrer Stoffwahl zugeordnet: Gerhart Hauptmanns Die versunkene Glocke (Bln. 1897), Der arme Heinrich (ebd. 1902), Eduard Stuckens Gawân (ebd. 1902) u. anderen Grals-Dramen, Ernst Hardts Tantris der Narr (Lpz. 1907), Gudrun (ebd. 1911). Dem zeitgenöss. Publikum war der in der Tradition der Neuromantik stehende S. bekannt geworden durch Dramen aus der kelt. Mythenwelt (Gawân. Bln. 1902.Lanzelot. Ebd. 1909), die wegen ihrer mystisch-religiösen Sentimentalität u. ihrer bombastischen Sprache heute zu Recht vergessen sind. Hardt, (Friedrich Wilhelm) Ernst, * 9. 5. 1876 Graudenz/Westpreußen, † 3. 1. 1947 Ichenhausen bei Ulm. - Lyriker, Erzähler, Dramatiker; Theater- u. Rundfunkintendant. H. entstammte einer alten preuß. Offiziers- u. Beamtenfamilie. Die Ausbildung in einer Berliner Kadettenanstalt brach er 1892 ab. Längere Reisen führten ihn u. a. nach Griechenland, Spanien u. Portugal. Seine ersten schriftstellerischen Versuche standen unter dem Einfluß Stefan Georges. Ab 1896 veröffentlichte er Lyrik u. Prosa im »Simplicissimus«, ab 1897 in Georges »Blätter für die Kunst«; 1897-1900 arbeitete H. als Feuilletonredakteur bei der »Dresdner Zeitung«. Danach lebte er bis 1907 abwechselnd in Griechenland u. Berlin als freier Schriftsteller u. Übersetzer, bes. aus dem Französischen. Zu einem der berühmtesten Schriftsteller der Vorkriegszeit avancierte H. als Dramatiker, v. a. mit dem Einakter Ninon von Lenclos (Lpz. 1905) u. mit Tantris der Narr (Lpz. 1907), Der Jugendstil nach Ingo Leiß und Hermann Stadler Es ist eine Bewegung, die sich seit dem Ende des Jahrhunderts u.a. als Modern Style (England), Paling Stjil (Niederlande), Mouvement Beige, Stile Modernista (Spanien) und Secessionsstil (Österreich) in Europa manifestierte, ihre Wirkung bis nach New York und Moskau ausdehnte und mehrere Zentren hervorbrachte. So verschieden die Schwerpunkte in der Zielsetzung sein mögen, gemeinsam ist allen die Tendenz, zum Bild des vegetativen Lebens. Das hat mehrere Gründe: zum einen die biologische Regression auf einfache Urformen, als die sich - in Einklang etwa mit der Naturphilosophie des Darwin-Schülers Ernst Haeckel (1834 bis 1919; Generelle Morphologie der Organismen, 1866) - pflanzliche oder pflanzenähnliche Lebensformen anbieten; zum anderen die Attraktivität des Mythos vegetativer Unschuld und Unwillkürlichkeit, wo das Leben unbefleckt empfangen und reiner zu sein scheint als im gesellschaftlich normierten Leben des zu ende gehenden 19. Jahrhunderts. Die mit der entstehenden Industriewelt verloren geglaubte Ganzheit des Lebens versucht man in der Kunst wiederzugewinnen. Das Ziel ist Schönheit, die sich aus Zweck und Form ergibt, und entsprechend neuartig sind die gestalterischen Mittel. Um sich dem Ideal des »schöneren Daseins« und einem organischen Ganzen zu nähern, wird häufig das Ornament verwendet; die weich schwingende Linienführung bildet bevorzugt pflanzliche Formen, verschmilzt weibliche Figuren mit Zweigen, Ranken und Blüten zu ornamentalen Geflechten. Die Vorliebe für Wellen, leichte Wasserbewegungen, für Flamingos und Schwäne verdankt sich demselben künstlerischen Impuls; der Fluß rhythmisch bewegter Schleier und Gewänder, die schlanke, biegsame Frauenkörper kaum verhüllen, lassen eine Einheit aus Dingen, geometrischen Formen und Lebewesen entstehen. Das Ornamentale weckt die Vorstellung einer organisch-harmonischen Wirklichkeit, in der Mensch und Dinge in einem Lebensstrom verschmelzen. Für den belgischen Künstler Henry van de Velde (1863—1957)[2] sind »Linien übertragene Gebärden (...), psychische Äußerungen«. Aber es entsteht bei all diesen Versuchen eine Welt, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit wenig entspricht. Das Illusionäre wird offenbar, als man darangeht, die moderne industrielle Arbeitswelt zu integrieren. Zwar gelingen einzelne Bauten wie die von Peter Behrens (etwa die Turbinenhalle der AEG 1909). Aber die Gesellschaft ist noch nicht reif für die Gestaltung der neuen Wirklichkeit mit den ihr entsprechenden Mitteln. Daher wohl auch der vielfach geradezu privatistische Rückzug in die Wohnkultur, die erlesene Ausstattung von Innenräumen Gleichgesinnter, die Vorliebe für Parks, Treibhäuser, Inseln: künstliche Paradiese für wenige. Im deutschsprachigen Raum war vor Dresden, Darmstadt und Wien München das Zentrum des Jugendstils. Wie in Wien sammelte sich hier eine Gruppe von Künstlern in einer »Secession« (so genannt nach der »secessio plebis«, dem Auszug eines Teils des römischen Volkes mit der Absicht, ein zweites Rom zu gründen, wenn sich die 58 Verhältnisse nicht besserten). Sie wollte - gefördert durch den Maler Franz von Stuck - nicht nur die sogenannte »hohe Kunst« aus erstarrten Vorstellungen befreien, sondern in einer Art Nietzsche-Nachfolge eine »Umwertung aller Werte« erreichen. Man forderte die Hochschätzung des jungen Lebens, freie Erotik, und pries das freie, d.h. von herkömmlichen Tabus losgelöste, nach Schönheit strebende, im Genuß der Schönheit ausgebildete Individuum. In der Zeitschrift >Jugend<, die der Bewegung in Deutschland - von ihrem Verleger Georg Hirth unbeabsichtigt - den Namen gab, fanden Formen und Inhalte des Neuen Ausdruck: »Jugend ist Daseinsfreude, Genußfähigkeit, Hoffnung und Liebe, Glaube an die Menschen -Jugend ist Leben, ist Farbe, ist Form und Licht« (1896). Jugendlichkeit gilt hier als die biologische Gewähr des Unverbrauchten, noch nicht Gedachten. Vielfältig sind dergestalt die Bilder für ein subjektfreies, gesellschaftsentrücktes Leben: Teppich und Flechtwerk aller Art - das Leben als Gewebe, in dem jeder Faden gleich wesentlich ist; Ring, Kreis und Kette - jedes Ende ist ein Anfang; Tanz, Taumel und Rausch - die Identitäten erlöschen im selbstvergessenen Kollektiv, in geometrischen Figurationen von Beziehungen; Androgyne, Centauren und Nymphen - ein pansexuelles Zwischenreich archaischer Traume; Hülle und Einband, Futteral und Interieur - das Wesentliche sitzt nicht in einem inneren Kern, sondern ist verteilt auf die flächige Außenhaut; Rhythmus, Arabeske und Ornament - die tätowierte Welt - eine bürgerliche Reprise auf Outlaw-Lüste. Freilich hat die profane Mythologie nicht mehr die Durchsetzungskraft ihrer sakralen Vorgänger. Der Jugendstil floriert als eine Mode in der Spanne von etwa fünfzehn Jahren zwischen 1890 und 1905. Gegen die proletarische Bedrohung, die aus den Sümpfen der großen Städte aufzusteigen scheint, suchen die Schichten der bürgerlichen Klasse das Bündnis mit einer phantasieerzeugten jungen Generation, mit der sie - anstelle dunkler Stadtquartiere - die weiten Räume des Alls bewohnen möchten. Im Rückblick auf Stefan George (1933) hat Walter Benjamin den Jugendstil als einen Stil bezeichnet, in dem das alte Bürgertum das Vorgefühl der eignen Schwäche tarnt, indem es kosmisch in alle Sphären schwärmt und zukunftstrunken die als Beschwörungswort mißbraucht. Hier taucht, zunächst nur programmatisch, zum erstenmal die Regression aus der sozialen in die natürliche und biologische Realität auf, welche seitdem wachsend sich als Symptom der Krise bestätigt hat. Fast alle Schlagworte des Jugendstils sind in dem Satz Hirths über Daseinsfreude enthalten, und sie entsprechen dem, was auch junge Dichter wie Rainer Maria Rilke oder Peter Altenberg vertraten: »Die Kunst ist das Leben, aber das Leben künstlerisch zu leben, ist Lebenskunst!« (Altenberg). Als »Lebenskunst« ging es dem Jugendstil nach einer Formulierung Rilkes um »die bewußte und unbewußte Verwertung des zeitgenössischen Schönheitsbegriffs in allen Bedürfnissen des Alltags«. »Angewandte Kunst« wird daher zu einem weiteren Grundbegriff. Die Zeitschrift >Jugend< wurde - obgleich sie auch anderen Richtungen Platz einräumte - ein Beispiel für den neuen Kunstwillen: ein farbiges, jede Woche wechselndes Titelblatt, die Typographie stets überraschend, jede Seite - mit Randleisten, wechselnden Schrifttypen, Illustrationen im neuen ornamentalen Stil - anders gestaltet. Zusammen mit den Zeitschriften >Pan< (1895 in Berlin von Otto Julius Bierbaum und dem Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe gegründet) und >Ver sacrum< (1898 in Wien ins Leben gerufen), vor allem aber in Verbindung mit der >Insel<, die überwiegend literarische und literaturtheoretische Beiträge enthält, entsteht ein reiches Bild der künstlerischen Absichten und Kunstformen dieser Zeit. Dauthendey, Dehmel, Hofmannsthal, Rilke, R. Walser und Wedekind zählen zu den Autoren der >Insel<. Kaum einer der bekannteren Schriftsteller der Zeit hat sich den Einflüssen des Jugendstils ganz entzogen, aber auch keiner hat ein ausschließlich dem Jugendstil verpflichtetes größeres Werk geschaffen. Themen und Motive hingegen, die dieser Richtung entstammen, haben Eingang in viele Werke gefunden. Eine enge Beziehung ergibt sich, wo der Kunstwille eines Autors sich mit der Vorstellung des Erlesenen und des Schönen auch im Äußerlichen trifft. Stefan George ist ein Beispiel dafür. Der von Melchior Lechter gestaltete Buchschmuck (z.B. das Titelblatt zu dem Zyklus >Der Teppich des Lebens<), die mit Lechters Hilfe entwickelte »Stefan-George-Schrift«, die Anordnung des Textes bilden eine Einheit, in die auch der Inhalt sich einfügt. 59 Vor allem in der Lyrik haben Themen und Motive des Jugendstils ihren Niederschlag gefunden. Jost Hermand hat in seiner Anthologie >Lynk des Jugendstils< einen ganzen Katalog aufgestellt: >Tanz und Taumels >Lebensrausch<, >Der große Pan<, >Monistisches Verwobensein<, >Frühlingsgefühle<, >Blütenzauber<, >Weiher und Kahn<, Schwan, >Traum durch die Dämmerungs >Schwüle der Stunde<, >Das Wunder des Leibes<, >Künstliche Paradiese<. Andere Motive ließen sich anfügen, etwa die »Kindfrau«, das überschlanke, zerbrechliche Geschöpf neben der »femme fatale«, wie sie etwa in der Prosa Thomas Manns, >Tristan< oder in Dramen (vgl. Wedekind) begegnen. Die Reihe der heute noch bekannten Autoren, in deren Werk solche Motive vorkommen, reicht von Otto Julius Bierbaum über Richard Dehmel, Stefan George, Arno Holz, Hugo von Hofmannsthal, Christian Morgenstern, Rainer Maria Rilke und Ernst Stadler bis zu Georg Trakl. Die meisten von ihnen stehen freilich nur für eine begrenzte Zeit dem Jugendstil nahe, und man wird immer auch bedenken müssen, daß Jugendstil, symbolistische und neuromantische Züge oft nicht eindeutig unterscheidbar sind. Rainer Maria Rilke (1875 bis 1926) hat mit der Umsetzung von christlichen Themen und Motiven in eine sakral verklärte Erotologie Religion und Sexualität ineinandergewirkt (Das Stunden-Buch, entst. 1899 bis 1903, Druck 1905). Neuklassik »Eine neue Klassizität, dünkt mich, muß kommen«, erklärte Thomas Mann m seinem Essay >Uber die Kunst Richard Wagners< 1911. Eine solche zu schaffen, war seit 1905 bereits Ziel einer kleinen Gruppe von Schriftstellern, Soziologen und Philosophen, die in bewußter Ablehnung von Naturalismus, Impressionismus und Neuromantik einer neuen Klassischen Kunst das Wort redeten: Im Naturalismus, schrieb Paul Ernst (1866-1933), sollte »eine Darstellung des Lebens als "wahr empfunden werden durch das realistische Detail. Aber diese Wirkung war bei ihm Endzweck, für die neue Kunst ist sie nur Mittel«. Und der wohl bedeutendste Vertreter der Richtung fährt fort: Die neue Kunst kann (...) nicht durch das realistische Detail die für sie notwendige Lebenswahrheit erzeugen«, sondern muß »die wesentlichen, die für uns heute wesentlichen Grundzüge des Lebens ausspüren und darstellen. Sie sei daher auch keine epigonale Übernahme der Klassik, sondern habe zwar als Ziel eine »höhere Wahrheit«, wie sie auch von Goethe und Schiller hinter den Erscheinungen gesucht worden war, müsse aber wie das »neue Pathos« aus »den Willenselementen unserer Zeit« erwachsen. Da diese Kunst auch auf die Zeit wirken will, lehnt sie die »moderne« l'art-pour-l´art-Kunst ab; weil sie den Menschen als für 60 alle erfaßbares Wesen darstellen möchte und auch die feinste Seelenzergliederung nicht die Notwendigkeit einer Tat aufzeigen kann, wendet sie sich gegen den, wie Ernst es nennt, »modernen Psychologismus«. Und weil, so Ernst weiter, »die Menschen von heute unwissend oder gar feindlich der Kunst gegenüberstehen und so den Künstler zu einem isolierten Menschen machen«, die Menschheit aber doch nicht auf »Kunst« verzichten kann und sie daher »eine Afterkunst (...) auf sich wirken« läßt, deren »falsche Empfindungen«, »gelogenes Weltbild« und »alberne Gedanken« dann »das Phantasieleben beherrschen«, muß eine Kunst entstehen, die auf einer glaubhaften Wertordnung, auf absoluten sittlichen Grundwerten in sozialer Verpflichtung aufbaut. Dazu gehört auch die Abwendung von der »Formzertrümmerung« und die Wiedergewinnung der »Reinheit der Gattungsformen« (Franz Servaes), da, so Ernst, »künstlerische Gattungsideale (...) kein Zufallsprodukt« sind, sondern »niedergelegte Weisheit eines künstlerischen Ringens um die Wiedergabe der Natur«. Dies gilt insbesondere für Drama und Novelle. Ein naturalistisches Drama etwa weckt vielleicht Mitgefühl (wenn nicht Langeweile), kann aber keine tragische Erschütterung hervorrufen, weil die Kunst, wenn sie die Natur nachbildet, deswegen noch lange nicht dem biologischen Naturgesetz unterliegt. Als Beispiel nennt Paul Ernst Gerhart Hauptmanns >Die Weber<: Sehe ich ein Drama, wie etwa die >Weber<, so wird die vorherrschende Empfindung, die erzeugt wird, das Mitleid sein. Ich erblicke Menschen von der Art, wie sie mir täglich begegnen, die sehr leiden. Da ich ja aber doch weiß: auf der Bühne sind nicht wirkliche Weber, sondern nur Schauspieler, welche Weber darstellen, so wird nicht das wirkliche Gefühl Mitleid erzeugt, sondern, wie für das Kunstwerk notwendig, das Scheingefühl Mitleid. (...) Das wirkliche Mitleid ist peinigend und demütigend; das Scheingefühl (...) erfreuend. Ein Mitleid, welches Freude macht, ist Sentimentalität. Wenn hingegen die auftretenden Menschen Fremde und auch Gleichgültige seien (wie z. B. im König Ödipus), werde einem durch die Handlungsführung und andere Mittel, welche seine dramatische Form sind, (...) die Abhängigkeit des Menschen (...) von furchtbaren überirdischen Mächten (...) in die Empfindung geprägt; ich empfinde einen religiösen Schauer und habe damit die höchste Empfindung, deren der Mensch überhaupt fähig ist. Neben Paul Ernst haben vor allem Samuel Lublinski (>Der Ausgang der Modernes 1909) und Georg Lukäcs (>Metaphysik der Tragödie: Paul Ernst<, 1910) die wesentlichen Gedanken der Neuklassik in 61 theoretischen Schriften formuliert. Aber Paul Ernst hat darüber hinaus in seinen zahlreichen Dramen und Novellen solche Vorstellungen auch in die Praxis umzusetzen versucht. Dasselbe gilt, u.a., für Wilhelm von Scholz. In seinem Versdrama >Der Jude von Konstanz< (1905) z.B. zeigt er, wie der Jude Nasson (die Anspielung auf Lessings >Nathan< ist deutlich) nach seiner Taufe zwischen zwei Gruppen gerät, keine Heimat und keine Möglichkeit zu sozialer Betätigung findet. Der tragische Held scheitert am Mechanismus der Gesellschaft, dem er nicht entrinnen kann. In der Tragödie >Das Gold« (1906) führt Paul Ernst vor, wie eine durch »die Entwicklung und Ausdehnung der Geldwirtschaft bestimmte Gesellschaft« für den einzelnen »zum blinden Schicksal« werden kann. Die neuklassische Form der Novelle ist (nach Werner Mahrholz[3] dadurch gekennzeichnet, daß sie eine Situation durch eine unerwartete Antwort erhellt, daß sie durch Personen oder Handlung die »Buntheit und Fülle der Welt« ins Bewußtsein ruft und daß im besten Fall ein ganzes Menschenschicksal in einem Punkt schlaglichtartig aufleuchtet. Eine größere Bedeutung hat die Bewegung nicht erlangt. Thomas Mann zeigt in seiner Novelle >Tod in Venedig< ihre Grenzen auf, wenn er den neuklassischen Künstler Aschenbach scheitern läßt. ------------------------------- [1] 1899. Blütezeit der Romantik. 1902: Ausbreitung und Verfall der Romantik [2] [3] Deutsche Dichtung der Gegenwart, 1926.